L 32 B 2023/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 128 AS 15652/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 B 2023/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Trotz mangelnder Mitwirkung kann im Rahmen einer Folgenabwägung eine vorläufige Verpflichtung zur Zahlung von Arbeitslosengeld II in Betracht kommen, wenn der Antragsteller möglicherweise krankheitsbedingt zu einer adäquaten Mitwirkung nicht in der Lage ist.
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 8. Oktober 2007 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für November 2007, Dezember 2007 und Januar 2008 Arbeitslosengeld II in Höhe von 1,- EUR pro Monat zu leisten. Die Beschwerde wird im Übrigen zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat der Antragsstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten Eilverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde vom 12. November 2007 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) vom 8. Oktober 2007, mit welchem dieses den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hat, ist zulässig und im Wesentlichen begründet.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, den Antragsgegner zu verpflichten, die Antragstellerin bei der BKK Aanzumelden, weil sie erwerbsfähig sei, zielt wohlverstanden der Sache nach auf die vorläufige Verpflichtung zur Gewährung von Arbeitslosengeld II in symbolischer Höhe, weil die Rechtsfolge der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 5 Nr. 2a Sozialgesetzbuch 5. Buch den Bezug von Arbeitslosengeld II voraussetzt. Die Antragstellerin hat auf Nachfrage klargestellt, dass ihr Antrag so zu verstehen sei.

Der Antrag hat auch im tenorierten Umfang Erfolg:

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierbei dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Art. 19 Abs. 4 GG stellt nämlich insbesondere dann besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose regelmäßig der Fall ist.

Ob der Antragstellerin tatsächlich Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) zustehen, kann hier nicht ermittelt werden. Es bestehen aber erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der verfügten Ablehnungsbescheide. Der Antragsgegner hat den Bescheid vom 1. Oktober 2007 mit Bescheid vom 27. November 2007 bereits selbst wieder aufgehoben. Es ist aber auch zweifelhaft, ob die Leistungen versagt werden dürfen, weil nach Erschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten im Rahmen der Amtsermittlung das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen aufgrund der mangelnden Mitwirkung der Antragstellerin nicht positiv festgestellt werden kann. Nach Aktenlage hält es der Senat nämlich für gut möglich, dass zum einen die Antragstellerin aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, ihre Interessen selbst adäquat wahrzunehmen und durch die grundlose Verweigerung, sich ärztlich untersuchen zu lassen und eine Schweigepflichtentbindung abzugeben, das Ziel der Feststellung ihrer Erwerbsfähigkeit selbst vereitelt. Zum anderen ist die Frage der Erwerbsfähigkeit selbst nach Aktenlage offen:

Schon seit über einem Jahr vertritt die Antragstellerin die Auffassung, zur Abgabe einer ärztlichen Schweigepflichtenbindung nicht verpflichtet zu sein und wirft Sachbearbeitern des Antragsgegners Amtsmissbrauch vor (Verwaltungsvorgang Bl. 190). Die Sachbearbeiter sollen auch keinen Einblick in ihrer Krankengeschichte erhalten (Schriftsatz vom 31. 07.2007), weil sie zu sachgemäßer Datenbehandlung nicht in der Lage seien (Schriftsatz vom 14.09.2007). Ein erstes Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes endete für sie wegen der mangelnden aber gebotenen Mitwirkung nach §§ 60 Abs. 1 Satz 1, 62 Sozialgesetzbuch 1. Buch (SGB I) erfolglos (Verfahren LSG Berlin-Brandenburg L 5 B 1156/07 ASER). Der vom Antragsgegner eingeschaltete ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit hält aus ärztlicher Sicht eine neurologisch-psychiatrische Zusatzbegutachtung für erforderlich (Schreiben an die Antragstellerin vom 16. 08.2007). Dass die Mitwirkungshandlungen zu sozialdatenschutzrechtlichen Verstößen, insbesondere einer Verletzung des Sozialgeheimnisses nach § 35 SGB I und der §§ 67a ff Sozialgesetzbuch 10. Buch, führen könnte, ist nicht ersichtlich. Auch dann bliebe es im Übrigen bei den Mitwirkungspflichten nach §§ 60ff SGB I. Die Antragstellerin hat die Obliegenheit, zu Untersuchungen zu erscheinen, auch konkret zu einem Facharzt für Psychiatrie und auch dann, wenn sie selbst keinen Zusammenhang mit der Frage ihrer Erwerbsfähigkeit sehen kann. Soweit die Antragstellerin der Auffassung ist, das Standardformular zur Schweigepflichtentbindung sei zu umfangreich, hätte sie längst eine eigene eingeschränktere Erklärung abgeben können.

Die Folgenabwägung hat jedoch zu Gunsten der Antragstellerin auszufallen: Ohne die Gewährung von Arbeitslosengeld II mit der Folge gesetzlicher Krankenversicherung stünde sie -trotz behandlungsbedürftiger Krankheit- ohne Unterstützung im Krankheitsfall da. Nach Aktenlage gewährt nämlich auch das zuständige Sozialamt keine Leistungen, obwohl von Hilfebedürftigkeit auszugehen ist und nur fraglich ist, ob die Antragstellerin erwerbsfähig ist. Hingegen könnte sich der Antragsgegner Leistungen erstatten lassen, wenn sich später herausstellt, dass die Antragsstellerin erwerbsunfähig ist. Aus der Vorschrift des § 44a Abs. 1 Satz 3 SGB II ergibt sich, dass zunächst der Träger der Leistungen nach dem SGB II verpflichtet ist. Zudem besteht nach § 43 Abs. 1 SGB I bei Streit zwischen Leistungsträgern ein Anspruch auf vorläufige Leistung gegenüber dem erstangegangen Träger, hier dem Antragsgegner. Dieser hat es schließlich auch in der Hand, durch Beantragung von Sozialhilfe für die Antragstellerin beim Sozialamt nach § 5 Abs. 3 SGB II die Angelegenheit in die aus seiner Sicht richtige Bahn zu lenken.

Die vorläufigen Leistungen sind nur für den laufenden Monat ab dem Zeitpunkt dieses Beschlusses zu gewähren, da nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist. Für eine rückwirkende Gewährung für die Zeit vor dem jetzt laufenden Monat fehlt es an einer entsprechenden konkreten Begründung. Eine vorläufige Verpflichtung über den Januar 2008 hinaus ist aus Rechtsschutzgründen ebenfalls nicht geboten. Bis dahin kann im Widerspruchsverfahren -das wohl neu durchzuführen ist, weil der Bescheid vom 27. November 2007 den vom 1. Oktober 2007 komplett ersetzt und nicht nur abändert, was nach § 86 SGG Voraussetzung für eine Einbeziehung in das laufende Widerspruchsverfahren wäre- die Frage der Einsichtsfähigkeit geklärt werden bzw. alternativ eine Leistungsgewährung nach dem Sozialgesetzbuch 12. Buch (Sozialhilfe) erfolgen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG entsprechend. Es entspricht billigem Ermessen, dem Antragsgegner die Kosten voll aufzuerlegen, weil die Antragstellerin im Wesentlichen Erfolg hat. Damit erübrigt sich die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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