L 7 AS 199/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AS 572/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 199/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30. Mai 2006 und die Bescheide vom 2. und 13. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2005 aufgehoben sowie die Bescheide vom 26. Oktober 2005 und 17. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2006 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. November bis 31. Dezember 2005 zusätzlich monatlich 103,50 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Absenkung der Regelleistung um 30 v.H. in der Zeit vom 01.10. bis 31.12.2005 und der Wegfall des Zuschlages nach Bezug von Arbeitslosengeld (Alg) I streitig.

Der 1950 geborene Kläger hat eine Ausbildung zum Ingenieur für Kunststoffe durchlaufen und war bis 19.09.2001 beschäftigt. Anschließend bezog er bis 09.03.2003 Alg I und bis 31.12.2004 Arbeitslosenhilfe (Alhi).

Die Beklagte bewilligte ab 01.01.2005 Alg II in Höhe von 970,33 EUR, wobei sie neben der Regelleistung von 345,00 EUR und den Kosten der Unterkunft und Heizung von 465,33 EUR einen befristeten Zuschlag nach Bezug von Alg I von 160,00 EUR bewilligte. Mit Bescheiden vom 14.04. und 08.08.2005 bewilligte sie die Leistungen in gleicher Höhe für die Zeit vom 01.05. bis 31.10.2005.

Am 04.08.2005 bot die Beklagte dem Kläger eine Arbeitsgelegenheit in Form einer Tätigkeit als Gemeindearbeiter bei dem Markt W. im Umfang von 30 Stunden in der Woche an. Die Tätigkeit war bezeichnet als "1,50 EUR Job" und befristet bis 17.12.2005. Die Verwaltungsgemeinschaft B. teilte am 11.08.2005 mit, der Kläger habe sich nicht gemeldet bzw. beworben.

Der Kläger gab mit Schreiben vom 07.08.2005 an, er habe eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen.

Mit Bescheid vom 02.09.2005 teilte die Beklagte mit, für die Zeit vom 01.10. bis 31.12.2005 werde die Leistung um 30 v.H. der Regelleistung, somit um 103,50 EUR, abgesenkt. Die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung werde gemäß § 48 Abs.1 SGB X insoweit aufgehoben. Während dieses Zeitraums bestehe kein Anspruch auf den befristeten Zuschlag nach Bezug von Alg I. Mit Bescheid vom 13.09.2005 stellte sie dann die für Oktober 2005 zustehende Leistung von 686,71 EUR fest, wobei sie Einkommen aus der geringfügigen Beschäftigung in Höhe von 20,12 EUR anrechnete und im Übrigen die Regelleistung um 103,50 EUR und um den zuvor bewilligten Zuschlag von 160,00 EUR kürzte.

Gegen diese Bescheide legte der Kläger Widerspruch ein und machte geltend, der Grundsatz des Vorrangs von Angeboten nach Maßgabe des SGB III sei nicht beachtet worden. Darüber hinaus sei die Vermittlung einer Tätigkeit mit einem wöchentlichen Umfang von 30 Stunden nach § 16 Abs.3 Satz 2 SGB II nicht zulässig. Auch sei er aus medizinischen Gründen nicht in der Lage, diese Tätigkeit auszuüben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.11.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Arbeitsgelegenheit hätte im Falle einer tragfähigen Arbeitsaufnahme jederzeit abgebrochen werden können.

Hiergegen hat der Kläger zum Sozialgericht Augsburg (SG) Klage erhoben und weiterhin vorgetragen, die Vermittlung einer Tätigkeit mit einem wöchentlichen Arbeitszeitumfang von 30 Stunden sei nicht zulässig. Diese Tätigkeit wirke im Hinblick auf die zu erreichende Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt kontraproduktiv. Darüber hinaus habe es sich nicht um eine "zusätzliche" Arbeit im Sinne des § 16 Abs.3 Satz 2 SGB II gehandelt.

Die Beklagte hatte zuvor mit Bescheid vom 26.10.2005 für die Zeit vom 01.11. bis 31.12.2005 monatlich 463,19 EUR bewilligt. Auf den Widerspruch hin bewilligte sie mit dem Änderungsbescheid vom 17.01.2006 für November 525,36 EUR und für Dezember 534,00 EUR. Gleichzeitig hob sie unter Anrechnung des im Oktober 2005 bezogenen Einkommens die Bewilligung für diesen Monat in Höhe von 8,64 EUR auf und rechnete mit diesem Betrag gegen die dem Kläger für November 2005 zustehende Leistung auf. Neben der Erstattung der Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von 292,50 EUR bewilligte sie die um 103,50 EUR gekürzte und nach der Aufrechnung mit 8,64 EUR verbliebene Regelleistung von 232,86 EUR. Für Dezember 2005 bewilligte sie 534,00 EUR. Im Übrigen wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2006 zurück.

Die Beklagte hat nach Aufforderung des SG eine Erklärung des Bürgermeisters des Marktes W. zu Art und Umfang der angebotenen Arbeitsgelegenheit vorgelegt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass er seit 30.04.2006 unbefristet beschäftigt sei, und dass diese Tätigkeit auf die von ihm aufgenommene geringfügige Beschäftigung zurückzuführen sei.

Mit Urteil vom 30.05.2006 hat das SG die Klage gegen die Bescheide vom 02. und 13.09.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2005 und gegen den Bescheid vom 26.10.2005 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17.01.2006 sowie des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2006, soweit diese Bescheide auf dem Sanktionsbescheid vom 02.09.2005 beruhen, abgewiesen.

Bei den Arbeiten, die dem Kläger am 04.08.2005 angeboten worden seien, handle es sich um zusätzliche im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten im Sinne des § 16 Abs.3 Satz 2 SGB II. Die Auffassung, dass bei Arbeiten dieser Art nur eine Arbeitszeit von 20 Stunden oder weniger zulässig sei, sei mit der Zielsetzung des SGB II nicht vereinbar. Die Zielsetzung, Arbeitsgelegenheiten zu schaffen, mit denen auch eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wieder ermöglicht werden könne bzw. vorbereitet werde, könne nur erreicht werden, wenn die Arbeitsgelegenheiten sich auch zeitlich an der Arbeitswirklichkeit orientierten. Auch bei einer 30-stündigen Wochenarbeitszeit bleibe noch ausreichend Gelegenheit, den Verpflichtungen nach § 2 SGB II, nämlich den Bemühungen um einen bleibenden Arbeitsplatz, nachzukommen. Die Behauptung des Klägers, die Arbeiten seien ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar gewesen, würden durch das amtsärztliche Gutachten der Beklagten vom 04.07.2005 widerlegt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein bisheriges Vorbringen wiederholt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30.05.2006 sowie den Bescheid vom 02.09.2005 und 13.09.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2005 aufzuheben sowie den Bescheid vom 26.10.2005 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 17.01.2006 und des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2006 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit vom 01.11. bis 31.12.2005 die ungekürzte Leistung zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als teilweise begründet.

Die Beklagte war nicht berechtigt, die Regelleistung um monatlich 103,50 EUR herabzusetzen. Deshalb hat sie zu Unrecht mit den Bescheiden vom 02. und 13.09.2005 die Bewilligung des Alg II für Oktober 2005 in dieser Höhe aufgehoben. Zwar stand dem Kläger ein Zuschlag nach Bezug von Alg I in Höhe von 160,00 EUR nicht zu; insoweit lagen aber die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung nach § 40 Abs.1 Nr.1 SGB II i.V.m. §§ 330 Abs.2 SGB III, 45 Abs.2 SGB X nicht vor. Der Kläger hat auf den Bestand der Bewilligung dieser Leistung vertraut, sein Vertrauen ist unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig. Auch hat er nicht im Sinne von § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X einen Verwaltungsakt insoweit durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt, noch beruht diese Bewilligung auf vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtigen Angaben; auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligung insoweit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dass die Beklagte dem Kläger in den Bescheiden vom 02. und 13.09.2005 bekannt gab, dass ihm dieser Zuschlag von 160,00 EUR nicht zusteht, begründet die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis nicht, da diese Mitteilung mit der unrichtigen Begründung versehen war, der Anspruch auf den Zuschlag sei gemäß § 31 Abs.1 Satz 1 SGB II wegen der Absenkung der Regelleistung weggefallen. Darüber hinaus hätte die Beklagte im Rahmen der Entscheidung über die teilweise Rücknahme das ihr eingeräumte Ermessen ausüben müssen; denn § 330 Abs.2 SGB III sieht insoweit eine ausnahmsweise vorliegende Pflicht zur Rücknahme nur bei Bösgläubigkeit vor (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Rdnr.61 zu § 40).

Die Voraussetzungen für eine Absenkung der Regelleistung um 103,50 EUR monatlich lagen nach § 31 Abs.1 Satz 1 Nr.1c SGB II nicht vor. Denn bei der angebotenen Arbeitsgelegenheit bei dem Markt W. hat es sich nicht um eine zumutbare Arbeitsgelegenheit in diesem Sinne gehandelt. Gemäß § 16 Abs.3 Satz 1 SGB II sollen für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden. Hierbei ist nach Satz 2 dieser Vorschrift dem Hilfebedürftigen zuzüglich zum Alg II eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen zu zahlen, wenn es sich um im öffentlichen Interesse liegende, zusätzliche Arbeiten handelt, die nicht nach Abs.1 des § 16 als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gefördert werden. Bereits bezüglich der bis 31.12.2004 geltenden Vorgängerregelung des § 19 Abs.1 Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bestand Übereinstimmung, dass es nicht zulässig ist, eine vollschichtige Arbeit von 176 Stunden im Monat zu fordern (BVerwGE 68, 91). Eine Arbeitszeit von 30 Stunden, wie im vorliegenden Fall, liegt bereits nahe an einer Vollzeittätigkeit, nachdem zahlreiche Tarifverträge eine Vollarbeitszeit von 35 Stunden und weniger vorsehen.

Würde man eine Arbeitsgelegenheit dieses Umfanges für zulässig halten, würde sich angesichts der weit verbreiteten Praxis der Verschaffung von Arbeitsgelegenheiten eine unzumutbare Konkurrenz zum ersten und zweiten Arbeitsmarkt ergeben (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, Rdnr.227 zu § 16). Zudem wird ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger durch eine Arbeitsgelegenheit dieses Umfanges in seinen Bemühungen, einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, zweifellos beeinträchtigt. Derartigen Hilfebedürftigen wie dem Kläger, denen der erste Arbeitsmarkt grundsätzlich offensteht, wie die Aufnahme einer unbefristeten Vollzeitbeschäftigung ab 01.05.2006 zeigt, ist ausreichend Zeit für eine Arbeitssuche einzuräumen (so auch Niewald in LPK-SGB II, Rdnr.46 zu § 16). Jedenfalls ist bei Hilfebedürftigen, die nach dem Stand ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ernsthaft in Betracht kommen, eine Arbeitsgelegenheit im Umfang von 30 Stunden und mehr nicht zulässig (vgl. Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Rdnr.444 zu § 16). Ob in diesem Fall die Vermittlung einer Arbeitsgelegenheit unabhängig vom zeitlichen Umfang überhaupt zumutbar war (vgl. Voelzke a.a.O.), kann dahinstehen.

Nicht entschieden zu werden braucht, ob der Auffassung zu folgen ist, es sei lediglich ein Arbeitsgelegenheit im Umfang von 15 Stunden (so Eicher a.a.O.) zumutbar, oder eine solche im Umfang von bis zu 20 Stunden (so Niewald a.a.O.; Schumacher in Östreicher, § 16 SGB II Rz.79). Aus den dargelegten Gründen war jedenfalls die Tätigkeit im Umfang von 30 Stunden nicht zulässig. Zu bedenken ist zusätzlich, dass von dem Kläger bei dieser Arbeitsgelegenheit ein normaler Arbeitseinsatz verlangt wurde, für den er außer der Alg II-Leistung aber lediglich eine Aufwandsentschädigung erhalten hätte, was angesichts der fehlenden Parität von Leistung und Gegenleistung bedenklich ist.

Somit hat der Kläger für die Zeit vom 01.11. bis 31.12.2005 Anspruch auf eine zusätzliche Leistung von 103,50 EUR monatlich. Kein Anspruch besteht hingegen auf die Zahlung eines Zuschlages nach § 24 SGB II. Diesen Zuschlag hat die Beklagte bis 31.10.2005 zu Unrecht bewilligt, da der Kläger nicht innerhalb von zwei Jahren vor Bezug von Alg II Alg I bezogen hat, nachdem dieser Bezug bereits am 09.03.2003 endete. Dem Kläger hat deshalb ein Zuschlag in verminderter Höhe nur für die Zeit bis 09.03.2005 zugestanden.

Somit waren die Bescheide vom 02. und 13.09.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.11.2005 aufzuheben, soweit sie die Bewilligung der Leistung für Oktober 2005 in Höhe des Absenkungsbetrages von 103,50 EUR und des Zuschlages in Höhe von 160,00 EUR aufgehoben haben. Für die restliche streitige Zeit vom 01.11. bis 31.12.2005 war die Beklagte zu verpflichten, zusätzlich 103,50 EUR zu zahlen. Im Übrigen waren die Bescheide für diesen Zeitraum rechtmäßig. Die Beklagte hat sowohl die Regelleistung als auch die Kosten der Unterkunft und Heizung zutreffend berechnet. Dies wird auch vom Kläger zugestanden. Er hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, dass lediglich die Absenkung des Alg II Streitgegenstand sei.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da der Frage, in welchem zeitlichen Umfang Arbeitsgelegenheiten im Sinne des § 16 Abs.3 Satz 2 SGB II zumutbar sind, grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 160 Abs.2 Nr.1 SGG zukommt.
Rechtskraft
Aus
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