L 7 B 284/07 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 240/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 B 284/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 20.09.2007 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24.07.2007 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers, der das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom 24.10.2007 nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

1. Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ist als solcher Antrag zu qualifizieren. Denn mit Verwaltungsakt (Bescheid) vom 11.05.2007 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 04.04.2007 bis zum 31.10.2007. Mit Verwaltungsakt vom 24.07.2007 versagte die Antragsgegnerin diese Leistungen mit Wirkung vom 01.08.2007 gemäß § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Der Widerspruch des Antragstellers hiergegen hatte keine aufschiebende Wirkung gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Diese Regelung erfasst auch Versagungsentscheidungen gemäß § 66 SGB I. Denn auch die Versagung einer Leistung ist eine "Entscheidung" über "Leistungen" der Grundsicherung und wird infolgedessen von der Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II erfasst.

2. Bei der Entscheidung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen. Im Rahmen dieser Abwägung ist darauf abzustellen, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen oder ob seine Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegend öffentliches Interesse gebotene Härte zur Folge hätte. Dabei ist (jedenfalls) in den Fällen, in denen wie hier das Gesetz selbst das Entfallen der aufschiebenden Wirkung anordnet, von einem Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen sofortiger Vollziehbarkeit andererseits und aufschiebender Wirkung andererseits auszugehen, so dass das Vollziehungsinteresse hier in der Regel den Vorrang hat (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl.2005, § 86b Rn. 12 und 12a).

Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vom 24.07.2007.

a) Solche Zweifel bestehen zunächst in formeller Hinsicht. Denn die Antragsgegnerin hat sich bei der von ihr ausgesprochenen Leistungsversagung auf die Regelung des § 66 SGB I gestützt. Diese Vorschrift regelt die Folgen für den Fall, das ein Antragsteller seinen verwaltungsverfahrenrechtlichen Mitwirkungsobliegenheiten nicht (bzw. nicht ausreichend) nachkommt.

Gemäß § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung jedoch nur dann versagt werden, wenn der Leistungsberechtigte auf diese Folge zuvor hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Eine solche Frist hat die Antragsgegnerin dem Antragssteller nicht gesetzt. Allerdings hat sie ihn mit Schreiben vom 12.06.2007 darauf hingewiesen, dass ihr Außendienst sich mit ihm - nochmals - wegen der Durchführung eines Hausbesuchs in Verbindung setzen und hierzu einen entsprechenden Termin vereinbaren wird. Aus dieser Mitteilung dürfte für den Antragsteller hinreichend deutlich zu erkennen gewesen sein, dass die Antragsgegnerin die Leistungen versagen wird, wenn der Antragsteller am noch benennenden Termin die Durchführung eines Hausbesuchs nicht dulden sollte.

b) Es kann jedoch dahinstehen, ob der von § 66 Abs. 3 SGB I beabsichtigten Warnfunktion damit Genüge getan worden ist. Denn es fehlt jedenfalls an den materiellen Voraussetzungen für die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Leistungsversagung gemäß § 66 SGB I.

Nach dieser Regelung kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zu Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind, und sofern derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert wird (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I). Die Regelung des § 66 Abs. 1 SGB I setzt damit voraus, dass der Antragsteller einer verfahrensrechtlichen Obliegenheit zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung nicht nachgekommen ist.

Es gibt jedoch keine Rechtsnorm, die dem Antragssteller auferlegt, die Besichtigung seiner Wohnung zu dulden.

aa) Mangels besonderer Regelung im SGB II kommt insoweit allenfalls § 60 Abs. 1 SGB I in Betracht. Dessen Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Denn nach dieser Vorschrift hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I), Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistungen erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abzugeben sind, unverzüglich mitzuteilen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I) sowie Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB I). Das Gewähren des Wohnungszutritts bzw. das Dulden eines Hausbesuchs wird von § 60 Abs. 1 SGB I nicht erfasst (im Ergebnis ebenso VGH Hessen vom 18.11.1995, 9 TG 974/85, NJW 1986, S. 1129; Armborst in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, Anhang Verfahren Rn. 17; Winkler info also 2005, S. 251, 253).

bb) Dem Arbeitsuchenden obliegt es auch nicht aufgrund eines ungeschriebenen Mitwirkungstatbestandes, Mitarbeitern des SGB-II-Trägers Zutritt zu seiner Wohnung zu gewähren.

Es ist bereits grundsätzlich zweifelhaft, ob ungeschriebene Mitwirkungsobliegenheiten im Anwendungsbereich des SGB überhaupt wirksam bestehen können. Denn schließlich dürfen Rechte und Pflichten in Sozialleistungsbereichen des SGB gemäß § 31 SGB I nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt; Abweichungen von dieser Anordnung sind nicht zulässig (§ 37 Satz 2 SGB I). Die Regelung des § 31 SGB I dürfte auch Mitwirkungsobliegenheiten erfassen. Zwar sind diese rechtstechnisch keine Pflichten, weil ihre Erfüllung nicht erzwungen werden kann. Bei ihrer Nichterfüllung treten aber Rechtsnachteile ein, so dass es gerechtfertigt ist, die Obliegenheiten im Rahmen des § 31 SGB I den dort ausdrücklich genannten "Pflichten" gleichzustellen.

Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch, dass es um eine Mitwirkung geht, die eine verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit betrifft, nämlich die Freiheit, den Zutritt zur eigenen Wohnung verweigern zu dürfen (Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz (GG)). Zwar würde eine Obliegenheit mit dem Inhalt, den Zutritt in die eigene Wohnung zu gewähren, keinen unmittelbaren (klassischen) Grundrechtseingriff darstellen, weil die Erfüllung von Obliegenheiten - im Gegensatz zu Rechtspflichten - nicht mit Zwang durchgesetzt werden kann. Eine entsprechende (ungeschriebene) Obliegenheit würde aber einen mittelbaren Grundrechtseingriff darstellen. Dieser ist einem unmittelbaren Grundrechtseingriff gleichzuachten, weil die Intensität des mittelbaren Eingriffs hier sehr hoch ist. Denn verweigert ein Hilfebedürftiger die Mitwirkung, ist der Leistungsträger nach § 66 SGB I zur Versagung der Leistung berechtigt. Dies hat im Anwendungsbereich des SGB II, sofern und soweit es um die Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes geht (§§ 19 ff. SGB II), unter Umständen existentielle Folgen, weil dann Grundbedarfe der Existenz möglichweise nicht gedeckt wären.

Eingriffe in Grundrechte bedürfen stets einer gesetzlichen Grundlage. Für die Unverletzlichkeit der Wohnung stellt dies Artikel 13 Abs. 7 GG klar. Es existiert, wie erwähnt, keine gesetzliche Grundlage, nach der es einem Arbeitsuchenden obliegt, Zutritt zu seiner Wohnung zu gewähren. Spezielle Mitwirkungsobliegenheiten hat die Gesetzgebung vor dem Hintergrund des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GG) insbesondere für körperliche Untersuchungen vorgesehen (§ 62, § 65 Abs. 2 SGB I), nicht jedoch eine Regelung geschaffen, die einen Eingriff in Artikel 13 GG rechtfertigt.

c) Die Antragsgegnerin hat zudem nicht berücksichtigt, dass der Antragsteller seiner bislang unterbliebenen Mitwirkungsobliegenheit mitterweile nachgekommen ist. Der Außendienst der Antragsgegnerin besichtigte am 05.10.2007 die Wohnung des Antragstellers. Der Antragsteller hat die Mitwirkung damit nachgeholt gem. § 67 SGB I.

3. Der Senat weist am Rande darauf hin, dass die Antragsgegnerin aufgrund der Weigerung des Antragstellers, die Durchführung eines Hausbesuchs zu dulden, die Leistungen zwar nicht aus den formellen Gründen gemäß 66 Abs. 1 SGB I versagen durfte. Ihr ist es jedoch nicht verwehrt, in der Sache zu entscheiden und den Antrag ggf. wegen fehlender materieller Voraussetzungen (insbesondere fehlende Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 SGB II) abzulehnen. Dies hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 12.10.2007 für den Leistungszeitraum ab dem 01.11.2007 auch getan.

4. Der Senat geht davon aus, dass die Antragsgegnerin die für den Zeitraum vom 01.08.2007 bis zum 31.10.2007 versagten Leistungen nunmehr unverzüglich an den Antragsteller auszahlt. Hierbei kann es dahinstehen, ob sich die Rechtsgrundlage hierfür aus § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG (Aufhebung der Vollziehung) oder aus § 86b Abs. 2 SGG (einstweilige Anordnung) ergibt, weil die Voraussetzungen in beiden Fällen erfüllt sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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