L 28 B 2130/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 21529/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 B 2130/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Oktober 2007 abgeändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zu einer bestandkräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende vom 2. Juli 2007, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2008, unter Anrechnung der ihm aufgrund des Beschlusses des Senates vom 13. Dezember 2007 bereits zugesprochenen Leistungen, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 667,00 Euro zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die gemäß §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Oktober 2007 ist in dem tenorierten Umfang begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers vom 7. September 2007, ihm ab Antragseingang bei Gericht für einen Zeitraum von sechs Monaten (vorläufig) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, insoweit zu Unrecht abgelehnt.

1.) Für die Gewährung von Leistungen bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung für die zurückliegenden Zeiträume erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände hat der Antragsteller jedoch nicht vorgetragen, sie sind auch nicht sonst ersichtlich. Dies bedeutet, dass effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren erlangt und ihm insoweit ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

2.) Für die Zeit ab Beschlussfassung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht (BverfG) in einer Entscheidung zum SGB II entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).

Im vorliegenden Fall muss sich der Senat nicht auf eine Folgenabwägung beschränken, sondern er kann in der Sache entscheiden.

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Dieser Anspruch setzt nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 9 SGB II voraus, dass er hilfebedürftig ist. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann, wobei nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und das Vermögen des Partners zu berücksichtigen ist. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c) SGB II gehört zur Bedarfsgemeinschaft eine Person, die mit dem erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Nach § 7 Abs. 3 a SGB II wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, vermutet, wenn Partner

1. länger als ein Jahr zusammenleben,
2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.

Im vorliegenden Fall lebt der Antragsteller seit März 2005 mit der in diesem Verfahren als Zeugin vernommenen Frau S (S) in einer Wohnung zusammen. Ein weiteres der in § 7 Abs. 3 a SGB II genannten Tatbestandsmerkmale liegt im Falle des Antragstellers nicht vor. Er und Frau S leben weder mit einem gemeinsamen Kind in einer Wohnung, es werden keine Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgt und es besteht auch keine gegenseitige Befugnis über das Einkommen oder das Vermögen des jeweils anderen zu verfügen.

Das Tatbestandsmerkmal "länger als ein Jahr zusammenleben" kann allerdings ohne nähere Präzisierung nicht allein als Anknüpfungspunkt für das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft dienen, weil insoweit auch eine Wohngemeinschaft im Sinne einer gemeinsam genutzten Wohnung erfasst würde. (vgl. dazu Wenner, SozSich 2006,146 ff.).

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist eine "eheähnliche Gemeinschaft" im Sinne einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft nur dann gegeben, wenn die Bindungen zweier Partner unterschiedlichen Geschlechts so eng sind, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Die Gemeinschaft muss auf Dauer angelegt sein und sie lässt daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zu. Sie geht über die Beziehungen einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinaus. Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr für einander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht dauernd getrennt lebender Ehegatten im Hinblick auf die Bedürftigkeitsprüfung vergleichbar (BVerfGE 87, 234 (264) und Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 7 RdNr. 69).

Der Senat ist jedenfalls nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand davon überzeugt, dass eine solche Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller und der Frau S nicht besteht. Diese Überzeugung stützt sich auf die Vernehmung der Frau S als Zeugin durch den Berichterstatter in dem Termin zur Erörterung des Sachverhaltes mit Beweisaufnahme am 13. Dezember 2007. Die Vermutung, dass zwischen dem Antragsteller und Frau S eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft besteht, ist damit widerlegt. Die Zeugin hat die Umstände ihres Lebens mit dem Antragsteller in einer gemeinsamen Wohnung glaubhaft geschildert. Danach hat sie den Antragsteller Anfang 2005 über seine Schwester, die sie in der Vernehmung als ihre Freundin bezeichnet hat, kennen gelernt. Der Antragsteller war zu dieser Zeit auf Wohnungssuche, weil er nach seinen Angaben die eheliche Wohnung verlassen musste. Da er noch die Hoffnung hegte, seine Ehe auch im Interesse der beiden gemeinsamen Kinder retten zu können, war er nicht an der Anmietung und der damit notwendig verbundenen kostenaufwändigen Einrichtung einer Wohnung interessiert, sondern auf der Suche nach einer zeitlich befristeten kostengünstigen Alternative. Frau S selbst hatte zu dieser Zeit nach eigenen Angaben finanzielle Probleme. So bot es sich nach der Aussage von Frau S an, den Antragsteller als Untervermieter aufzunehmen. Ein entsprechender schriftlicher Untermietvertrag wurde am 26. Februar 2005 geschlossen.

Allerdings sprechen im vorliegenden Fall auch verschiedene Gesichtspunkte dafür, dass die Beziehung zwischen dem Antragsteller und Frau S über ein rein vertragliches Untermietverhältnis hinausgeht. So haben beide zumindest vorübergehend ein oder zwei Konten eröffnet, die nach Aktenlage indes wohl nicht genutzt worden sind. Die Zeugin hat dies damit erklärt, dass sie beabsichtigt habe, mit der Schwester des Antragstellers ein "Nagelstudio zu eröffnen", die Schwester aber aus ihr nicht bekannten Gründen gehindert gewesen sei, ein Konto auf ihren Namen zu eröffnen. Jedenfalls sei sie dann aber in ihrem bisherigen Beruf verblieben und die Konten seien nicht mehr benötigt worden. Auch der Antragsteller hat insoweit angegeben, niemals auf ein Konto, dass er für seine Schwester eröffnet habe, Geld eingezahlt zu haben. Darüber hinaus hat Frau S dem Kläger nicht nur seine Miete in Höhe von bislang rund 2200,00 Euro gestundet, sondern ihm auch rund 3300,00 Euro geliehen. Diesen Betrag will sie von einem Sparkonto entnommen haben, das "an sich für ihre Alterssicherung gedacht" war. Es ist ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft, wenn Geldbeträge, die für die Alterssicherung bestimmt sind, dafür verwendet werden, einen Hilfebedürftigen zu unterstützen, auch wenn Frau S nach ihren Angaben davon ausgeht, diesen Betrag von dem Antragsteller, der eine größere Geldsumme aus zwei Kündigungsschutzprozessen erwartet, zurückzuerhalten.

Gegen eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft zwischen dem Antragsteller, dessen Ehe durch Urteil des Amtsgerichts Fürstenwalde vom 15. Februar 2007 geschieden worden ist, und Frau S spricht indes entscheidend, dass Frau S als Zeugin glaubhaft ausgesagt hat, dass sie in der Zeit, nachdem sie an den Antragsteller ein Zimmer in der von ihr gemieteten Wohnung untervermietet hat, andere Partnerschaften hatte. Eine Partnerin, mit der sie über mehrere Monate zusammen gewesen sein will, hat sie dabei namentlich benannt. Eine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft im vorgenannten Sinne schließt es aber aus, dass daneben andere Lebensgemeinschaften gleicher Art geführt werden.

Ist der Antragsteller, der bis zum 11. Dezember 2005 Arbeitslosengeld I bezogen hat und nach Aktenlage weder Einkommen erzielt noch über Vermögen verfügt, damit bedürftig, hat er nach § 20 Abs. 2 SGB II Anspruch auf den monatlichen Regelsatz von 347,00 EUR (§ 20 SGB II) und einen Anspruch auf Leistungen für die Kosten der Unterkunft und der Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen (§ 22 SGB II). Diese Kosten betrugen bis zum 31. Mai 2007 320,00 Euro. Veränderungen sind nach Aktenlage nicht eingetreten. Der Anspruch auf den ihm bis zum 31. Mai 2007 gewährten Zuschlag nach § 24 SGB II in Höhe von 80,00 Euro monatlich dürfte jedenfalls für den Zeitraum, für den der Senat dem Antragsteller in diesem Verfahren Leistungen vorläufig zugesprochen hat, wegen des Ablaufs des Zeitraums von zwei Jahren nach dem Bezug von Arbeitslosengeld, für den nach § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II dieser Zuschlag zu zahlen ist, nicht mehr bestehen. Der Senat hat die Leistungsverpflichtung des Antragsgegners, ausgehend vom dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren auf einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzt, weil nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II Leistungen für jeweils sechs Monate im Voraus erbracht werden sollen.

Der Senat sieht sich schließlich veranlasst, darauf hinzuweisen, dass, sollte sich erweisen, dass diese Anordnung von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, der Antragsteller verpflichtet ist, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzten, der ihm aus der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 Zivilprozessordnung).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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