L 5 KR 129/07

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 12 KR 576/05
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KR 129/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Krankenkasse hat einem behinderten Menschen, der nur im Rollstuhl sitzend in einem Fahrzeug transportiert werden kann, einen Kraftknoten als Zubehör zu seinem Rollstuhl zu gewähren, sofern der Betroffene in wesentlichem Umfang Fahrten zur Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht absolvieren muss.
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 10.7.2007 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Umstritten ist ein Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhlrückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen (Kraftknoten).

Der am 1990 geborene Kläger, bei der Beklagten familienversichert, ist mit einem Aktivrollstuhl und einem Elektrorollstuhl versorgt. Er besucht eine Sonderschule und wohnt in einem Schulinternat; die Kosten der Unterbringung trägt der zuständige Sozialhilfeträger. Zur Schule und zurück –insbesondere an Wochenenden– sowie zu Ärzten und Therapeuten wird er von der Firma Mietwagen T R und von der J -G E gefahren. Er kann nur im Rollstuhl sitzend transportiert werden, da er aufgrund seiner Behinderung eine spezielle Sitzschale benötigt.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten die Versorgung ua mit einem Kraftknoten (Kostenvoranschlag 476,37 EUR + 35,50 EUR zuzüglich Mehrwertsteuer) und legte hierfür eine ärztliche Verordnung vor. Bei dem Kraftknoten handelt es sich um ein Rückhaltesystem zur Sicherung des Rollstuhls bei der Beförderung mit einem Kraftfahrzeug. Der Kraftknoten besteht aus vier am widerstandsfähigen Rollstuhlrahmen verschraubten Schlosszungen (zwei vorne, zwei hinten), an denen sich die Gurtschlösser der Gurte des Rollstuhlrückhaltesystems einfach, schnell und verwechslungsfrei befestigen lassen. Das Kraftknotensystem, das seit dem 1.10.1999 in der DIN 75078-2 für den Transport von Personen in Rollstühlen in Behindertentransportkraftwagen vorgesehen ist, kontrolliert automatisch den richtigen Gurtverlauf des Personenrückhaltesystems.

Durch Bescheid vom 23.6.2005 und Widerspruchsbescheid vom 15.12.2005 lehnte die Beklagte die Gewährung des Kraftknotens als Sachleistung ab und legte zur Begründung dar: Als Kfz-Zusatzgerät sei der Kraftknoten kein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (Hinweis auf Bundessozialgericht – BSG – 6.8.1998 – B 3 KR 3/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 29). Er diene vielmehr dem Ausgleich der Folgen einer Behinderung im beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Bereich. Im Übrigen müsse derjenige einen sicheren Transport gewährleisten, der die Behindertentransporte durchführe.

Am 20.12.2006 hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 10.7.2007 unter Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, den Elektrorollstuhl des Klägers mit einem Kraftknoten auszustatten, und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf Ausrüstung seines Elektrorollstuhls mit einem Kraftknoten. Vorliegend gehe es um einen Behinderungsausgleich nach § 33 Abs 1 Satz 1 3. Alternative Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und § 31 Abs 1 Nr 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Mittelbar die Organfunktionen ersetzende Mittel wie der Kraftknoten seien zwar nur dann als Hilfsmittel der Krankenversicherung anzusehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich, sondern im gesamten täglichen Leben beseitigten oder milderten und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens beträfen. Vorliegend gehe es indes um ein solches Grundbedürfnis. Insbesondere bei schulpflichtigen Kindern schließe der Lebensbereich, in dem ihnen die Fortbewegung mittels des Krankenfahrzeuges ermöglicht werden müsse, den Schulort ein (Hinweis auf BSG 2.8.1979 – 11 RK 7/78). Da sich der Kläger montags bis freitags in einem Internat befinde, sei ihm ein direkter Kontakt mit seinen Eltern in diesem Zeitraum verwehrt. Es sei in höchstem Maße sinnvoll und notwendig, einem im Zeitpunkt der Antragstellung 15jährigen Jungen den Kontakt zu seinen Eltern zu ermöglichen. Ein solcher Kontakt falle, ebenso wie ein Arztbesuch (Hinweis auf BSG 16.9.2004 - B 3 KR 19/03 R), in den Bereich der Grundbedürfnisse. Die Sicherstellung dieses Grundbedürfnisses des Klägers in Form des Transports zur Schule und der Aufrechterhaltung des Kontakts zu seinen Eltern sei nur mit Hilfe eines Behindertentransportkraftwagens möglich, in welchem der Kläger im eigenen Elektrorollstuhl sitzend befördert werde. Dieser Rollstuhl sei durch den Kraftknoten zu sichern. Zudem sei auch das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen, zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zu rechnen (Hinweis auf BSG 16.9.2004 aaO).

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 24.7.2007 eingelegte Berufung der Beklagten, die vorträgt: Fahrten im Zusammenhang mit dem Schulbesuch seien beim Kläger lediglich hinsichtlich der Aufenthalte im häuslichen Bereich der Eltern an den Wochenenden sowie in den Ferien erforderlich. Zwar habe das BSG mehrfach die Teilnahme am Schulunterricht als Grundbedürfnis genannt, aber nur im Zusammenhang mit dem Erwerb einer elementaren Schulausbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Sonderschulpflicht (Hinweis auf BSG 22.7.2004 – B 3 KR 13/03 R). Die Schulfähigkeit sei nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens anzusehen, als es um die "Vermittlung" von grundlegendem schulischem Allgemeinwissen an Schüler im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Sonderschulpflicht gehe. Im vorliegenden Fall erfolgten die Fahrten zudem durch Behindertenfahrdienste, die für den sicheren Transport der ihnen anvertrauten Passagiere zu sorgen hätten (Hinweis auf Bayerisches LSG 9.11.2006 – L 4 KR 249/05). Ferner beschreibe die DIN-Norm 75078 zwar den optimalen Stand der Technik, schließe aber den bisherigen Standard nicht aus. Ob der Kläger nach dem einschlägigen Schulgesetz für den Besuch der Behinderteneinrichtung einen Anspruch auf Beförderung durch den Schulträger geltend machen könne, entziehe sich ihrer (der Beklagten) Kenntnis.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Koblenz vom 10.7.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor: Er besuche die Schule in Erfüllung der Sonderschulpflicht bis zum Ende des Schuljahres 2009. Fahrten fänden nicht nur an Wochenenden oder in den Ferien zu den Eltern (einfache Wegstrecke 27 km) statt, sondern auch sonst regelmäßig zu Ärzten (Augenarzt Dr G , A ; Orthopäde Dr N , B N ) und zur Teilnahme am öffentlichen Leben (Kino, Sportveranstaltungen, Einkaufen, Besuche bei Freunden usw) sowie bei außerplanmäßigen Heimfahrten bei Krankheit oder Familienangelegenheiten und bei schulinternen Fahrten.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger den begehrten Kraftknoten zu gewähren.

Der Kläger hat einen ausreichenden Klageantrag gestellt, auch wenn er offen gelassen hat, welches Fabrikat des Kraftknotens er begehrt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Krankenkasse, wie vorliegend, für jedwede Art von Kraftknotensystemen ihre Leistungspflicht verneint hat (LSG Nordrhein-Westfalen 14.6.2007 – L 2 KN 209/05 KR, juris Rn 27).

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus §§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm 33 Abs 1 Satz 1 und § 2 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGB V. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern (1. Variante), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Variante) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Variante), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 Abs 1 SGB V).

Der – ärztlich verordnete - Kraftknoten stellt ein Zubehör zu dem vorhandenen Elektrorollstuhl des Klägers dar. Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf ein solches Zubehör stimmen mit dem Anspruch auf das Hilfsmittel selbst überein (LSG Nordrhein-Westfalen 14.6.2007 aaO juris Rn 38). Der Kraftknoten ist auch erforderlich, um beim Kläger die bereits bestehende Behinderung innerhalb des durch § 33 SGB V geregelten Rahmens auszugleichen.

Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Der in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst aber auch solche Hilfsmittel, welche die direkten und indirekten Folgen der Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheiden, (elementare) Körperpflege, selbstständiges Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, das auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und dabei insbesondere die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 3). Der Schulbesuch zählt zu den Grundbedürfnissen, soweit es um die Vermittlung von grundlegendem schulischem Allgemeinwissen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und der Sonderschulpflicht geht (BSG 22.7.2004 – B KR 13/03 R). Eine solche Fallgestaltung ist beim Kläger gegeben, der bis zum Ende des Schuljahres 2009 seine Sonderschulpflicht (vgl § 7 des rheinland-pfälzischen Schulgesetzes) erfüllt. Die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels (bzw eines Zubehörs zu einem solchen) zur Befriedigung eines Grundbedürfnisses kann sich in einem derartigen Fall auch durch die Notwendigkeit des regelmäßigen Transports zur Schule ergeben (BSG 2.8.1979 – 11 RK 7/78, SozR 2200 § 182b Nr 13; LSG Nordrhein-Westfalen aaO juris Rn 44). Dass die Fahrten nicht täglich, sondern im Wesentlichen lediglich wegen der Aufenthalte im häuslichen Bereich der Eltern an den Wochenenden anfallen, ist ohne Bedeutung

Unschädlich ist, dass der Kraftknoten nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist (LSG Nordrhein-Westfalen aaO juris Rn 45 mwN). Die Erforderlichkeit des Kraftknotens beruht darauf, dass er einen erheblich sichereren Transport des Klägers zur Schule gewährleistet. Dies genügt, um die Notwendigkeit der Versorgung mit dem Hilfsmittel bzw dem Zubehör zu begründen. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig iS eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht ist, kann die Versorgung mit einem fortschrittlicheren Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend (BSG 16.9.2004 – B 3 KR 20/04 R Rn 12). Maßgebend ist, ob das Hilfsmittel (bzw das Zubehör) deutliche Vorteile gegenüber der von der Krankenkasse gewährten Versorgung bietet (vgl BSG 16.9.2004 aaO juris Rn 13). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen aaO für einen vergleichbaren Fall). In einem solchen Fall kann die Bewilligung des Hilfsmittels (bzw des Zubehörs) nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dieses gewährleiste keinen völligen Behinderungsausgleich im Vergleich zu einem Gesunden (a.A. offenbar Bayerisches LSG 9.1.2007 – L 5 KR 41/06; vgl auch Bayerisches LSG 9.11.2006 – L 4 KR 249/05).

Das Rückhaltesystem "Kraftknoten" ist entwickelt worden, um Sicherheitsdefizite bei der Beförderung mit einem herkömmlichen Rückhaltesystem zu beseitigen. Es verringert die Gefahr der Fehlbedienung bei der Sicherung des Rollstuhls und des Insassen, verhindert bei einem Aufprall den sog Submarining-Effekt (das Durchtauchen unter dem Gurt hindurch) und den sog Klappmesser-Effekt (das Aufschlagen des Oberkörpers auf die Knie). Es optimiert den Kraftfluss im Rollstuhl und verringert damit seine Belastung in Gefahrensituationen im Straßenverkehr. Hinsichtlich der Vorteile des Kraftknotens im Einzelnen stützt sich der Senat auf die den Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung übergebene Stellungnahme der Bundesanstalt für Straßenwesen vom 4.5.2006 (vgl auch BGW-Mitteilungen – Ausgabe 3/2005 "Rollstuhlsicherung in Fahrzeugen"; www.bgw-online.de/internet/generator/Inhalt/OnlineInhalt/BGW-Mitteilung/20, recherchiert am 12.2.2008). Diese Umstände führen zu einem signifikanten Sicherheitsvorteil des neuen Systems. Zudem ist auch in der von der Beklagten vorgelegten VdAK-Information festgehalten, der Kraftknoten repräsentiere den Stand der Technik und sei geeignet, die Sicherheit beim Behindertentransport zu erhöhen; eine Ausstattung/Nachrüstung des Rollstuhls mit diesem Bauteil sei erforderlich, sofern nicht gleichwertige andere Lösungen genutzt werden könnten. Ob eine Rechtspflicht zur Verwendung des Kraftknotensystems im Straßenverkehr besteht, ist ohne Bedeutung.

Der Einwand der Beklagten, für die Sicherheit des Transports sei das Beförderungsunternehmen zuständig, greift nicht durch. Dies gilt auch, soweit derartige Transporte zur Schule in Fahrzeugen des Heimträgers oder eines Behindertendienstes durchgeführt werden. Da das Kraftknotensystem nicht am PKW, sondern (ergänzend) am Rollstuhl ansetzt, mithin an dem Hilfsmittel, das grundsätzlich zu gewähren ist, umfasst der Versorgungsanspruch auch das Kraftknotensystem am Rollstuhl.

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger einen Anspruch auf Gewährung des Kraftknotens durch den Schulträger haben könnte, sind nicht ersichtlich, sodass offen bleiben kann, welchen Einfluss dieser Umstand auf einen Anspruch gegen die Beklagte haben könnte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved