L 4 VG 6/07

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 4 VG 132/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 VG 6/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch für den zweiten Rechtszug zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der jetzt 58-jährige Kläger stellte am 28. März 2003 bei dem Beklagten einen Antrag auf Entschädigungsleistungen nach dem OEG. Folgender Sachverhalt, der zwischen den Beteiligten im Wesentlichen nicht im Streit steht, liegt diesem Antrag zugrunde: Der Kläger war etwa im Jahre 1962/1963 Schüler des Internats M. in FS ... Dort wurde er von einem Heimerzieher (Lehramtskandidat R. N.) regelmäßig nachts zwischen 23:00 und 1:00 Uhr unter einem Vorwand, z. B. Vokabeln abhören, vom Schlafsaal der Schüler in dessen Zimmer geholt. Dort musste sich der Kläger entkleiden, worauf sich der Täter an ihm verging, indem er den Kläger an dessen Geschlechtsteil fasste und damit "herumspielte". Der Kläger musste das gleiche bei dem Täter machen. Ein Eindringen fand nicht statt. Diese Vorfälle fanden etwa 40 bis 50 Mal statt. In einer Nacht wollte der Täter den Kläger auch "knutschen". Er presste den Kläger an sich, hob ihn hoch und griff ihm in den Schlafanzug. Darauf schlug der Kläger den Täter, schrie und hämmerte mit aller Gewalt auf den Täter ein. Die ganze Station wurde daraufhin wach und u. a. der Direktor war sofort zur Stelle. Am nächsten Tag sprachen drei Patres und der Direktor mit dem Kläger und übten Druck auf ihn aus, dass er draußen niemanden etwas erzählen dürfe, sonst würde er bestraft werden. Die Mutter des Klägers wurde ebenfalls sofort in das Internat gebeten. Auch sie sollte schweigen, denn der Name des Hauses stehe in einem solchen Fall auf dem Spiel. Der Kläger trägt vor, er sei dann dem Druck nicht mehr gewachsen gewesen, habe den Unterricht und allem anderen nicht mehr folgen können und habe sich völlig zurückgezogen. Sein Onkel FM. habe ihn besucht. Diesem habe er sich offenbart. Sein Onkel habe ihm empfohlen, die Polizei zu verständigen. Im Rahmen des sich anschließenden Strafverfahrens sei der Täter zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Gerichtsakten des Strafverfahrens existieren nicht mehr.

Der Beklagte wertete u.a. medizinischen Unterlagen der Klinik G., psychosomatische Fachklinik, (B. H.) vom 7. März 1980, des Dr. T. (A-Stadt) vom 14. August 1994 sowie Entlassungsberichte des Zentrums für Soziale Psychiatrie W.-M. (E.) vom 4. Juli 2000 und der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie M. (B. E.) vom 23. Februar 2001 aus.

Mit Bescheid vom 28. April 2003 lehnte der Beklagte den Antrag ab. In den Gründen legte er dar, dass nach Aktenlage nicht nachgewiesen sei, dass der Kläger aufgrund seiner Erlebnisse im Internat M. einen wesentlichen Knick in seiner Lebensentwicklung erfahren habe. Auch wenn davon ausgegangen würde, dass der Kläger aufgrund des sexuellen Missbrauchs eine bleibende psychische Beeinträchtigung erfahren habe, so könne diese Gesundheitsstörung heute keine Schädigungsfolge mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von wenigstens 50 v.H. bedingen. Denn sexuelle Misshandlungen würden in der Regel zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen, die mit einer MdE von 30 v.H. Anerkennung finden könnten. Ein bis zwei Jahre nach den Gewalttaten würden die psychischen Belastungen in den meisten Fällen mit weniger als 30 v.H. bewertet. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, dass vorliegend die Voraussetzungen für die Anwendung der Härteregelung gemäß § 10a OEG vorliegen würden. Zudem seien die erforderlichen Beweise, die eine kausale Bewertung ermöglichen könnten, nicht zu ermitteln.

Den dagegen am 16. Mai 2003 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2003 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 10. Juni 2003 Klage bei dem Sozialgericht Fulda erhoben. Das Sozialgericht Fulda hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 14. Juli 2003 an das Sozialgericht Kassel verwiesen.

Im Rahmen des Klageverfahrens sind an weiteren medizinischen Unterlagen u. a. zur Gerichtsakte gelangt: Berichte des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie H. (W.) vom 24. November 2003, 14. September 1998, Arztbericht des Dr. L. (Innere Medizin/Psychotherapie, B. H.) vom 16. August 1993, des Dr. B. (Neurologie und Psychiatrie, E.) vom 30. Januar 2001, 2. August 2002, 22. September 2003, 2. April 2003 und 25. Dezember 2002, Bescheinigung bzw. Bericht des Diplom-Psychologen K. (G.) vom 9. September 1994 und 29. November 1995, Arztbericht des Dr. T. vom 24, August 1994, des Neurologen und Psychiaters Q. (W.) vom 26. November 2001 und 29. Januar 2002, Befundbericht des Dr. B. vom 24. November 2003, des Kreiskrankenhauses E. vom 20. März 1986, 26. Juni 1997 und 21. August 2003, des Dr. G. (A-Stadt) vom 15. Juli 2003, des Dr. H. (Nervenarzt, GU.) vom 31. Mai 1978, des Dr. Sch. (Neurologe und Psychiater, GU.) vom 25. Oktober 1978, des psychiatrischen Krankenhauses M. vom 6. November 1986 und 23. Februar 2001, des Dr. RU. (Neurologe und Psychiater, B. H.) vom 8. Oktober 1979, des A-Krankenhauses K. vom 4. Oktober 1997, des Dr. D. (MDK E.) vom 17. Juli 1996, der Internistin H. (MDK E.) vom 17. August 1998, des psychiatrischen Krankenhauses am M. (E.) vom 12. Mai 2000, des Kreis- und Stadtkrankenhauses W. vom Januar 2000 und 8. Dezember 2000, des Dr. H. (MDK E.) vom 3. Dezember 1998.

Das Sozialgericht hat ein Sachverständigengutachten bei dem Facharzt für Psychiatrie (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie H.) C. vom 1. April 2005 nebst ergänzender Stellungnahme vom 12. Dezember 2005 eingeholt. Der Sachverständige hat folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Andauernde Persönlichkeitsstörung überlappend und in der Folge einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung vom partiellen und subsyndromalen Typus. Als comorbide Störungen in diesem Zusammenhang liegen chronisch rezidivierende depressive Episoden sowie eine konsekutive Alkoholabhängigkeit und Medikamentenabhängigkeit episodischer Art vor. Diese Gesundheitsstörungen seien mit Wahrscheinlichkeit unmittelbar und mittelbar im Sinne der Entstehung ursächlich auf einen im Jahr 1963 erfolgten sexuellen Missbrauch des Klägers im Internat M. zurückzuführen. Die MdE hat der Sachverständige insgesamt auf 80 v.H. geschätzt.

Mit Urteil vom 8. Februar 2007 hat das Sozialgericht unter Aufhebung des angefochtenen Bescheide den Beklagten verurteilt, eine bestehende Persönlichkeitsstörung und Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit als gesundheitliche Folgen des im Jahre 1963 erlittenen sexuellen Missbrauchs anzuerkennen und dem Kläger ab 1. März 2003 Versorgungsleistungen nach einer MdE von 70 v.H. zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat das Sozialgericht ausgeführt, der Kläger sei während seines Aufenthalts im Internat - vermutlich mehrmals - sexuell von einer der Aufsichtspersonen missbraucht worden, so dass er Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs geworden sei. Der Kläger leide an einer seelischen Störung und einer Suchterkrankung. Diese Gesundheitsstörungen seien im Wesentlichen unstreitig. Bezüglich der Frage, ob und inwieweit diese Beeinträchtigungen auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen seien, schließe sich das Sozialgericht der Einschätzung des Sachverständigen C. an. Dieser habe sein Gutachten auf Grundlage mehrerer ambulante Untersuchungen und Befragungen und unter ausführlicher Würdigung der medizinischen Vorbefunde erstellt und im Rahmen der Untersuchung auch die Ehefrau des Klägers und dessen Mutter befragt. Im Ergebnis habe der Sachverständige überzeugend unter Abwägung der verschiedenen Faktoren die Ursächlichkeit des Geschehens bejaht. Die Einwände des Beklagten habe der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. Dezember 2005 entkräften können. So erscheine der Vorwurf der Monokausalität nicht berechtigt, denn der Sachverständige habe sich in seinem Gutachten mit weiteren Faktoren, insbesondere mit den Bedingungen im Elternhaus, beschäftigt. Es sei auch nicht erkennbar, welches andere Ereignis oder welche Anlage den sexuellen Missbrauch als rechtlich wesentliche Ursache verdrängen könnte. Zwar weise der Beklagte zutreffend darauf hin, dass die gestellten Diagnosen Ursache eines komplexen Geschehens seien. Es seien zweifellos in der Lebensgeschichte des Klägers zahlreiche Faktoren denkbar, die zu der Störung gleichfalls beigetragen hätten. Neben den Erfahrungen im Elternhaus und in den Internaten seien hierfür auch die beruflichen und finanziellen Schwierigkeiten oder auch anlagebedingte Störungen zu nennen. Diese Faktoren hätten aber nach Überzeugung der Kammer nicht das prägende Gewicht, welches dem sexuellen Missbrauch und dem hiermit unmittelbar verbundenen Folgen zukomme. Der sexuelle Missbrauch sei zumindest als annähernd gleichwertige Ursache für den Eintritt der Schädigungsfolgen anzusehen. Damit sei er auch ursächlich im Rechtssinne zu werten. Dass der Kläger durch die schwierigen familiären Umstände möglicherweise besonders gefährdet gewesen sei, führe nicht zu einer anderen Beurteilung. Eine manifeste Vorschädigung habe der Sachverständige insoweit nicht feststellen können. Festzuhalten bleibe, dass eine besondere Verletzlichkeit gegenüber Angriffen eine Opferentschädigung nicht ausschließe. Die Gesamt-MdE betrage 70 v.H. Die übrigen Voraussetzungen der Härteregelung des § 10a Abs. 1 OEG lägen vor. Der Kläger sei zum einen allein aufgrund der vorliegenden Schädigung schwerbeschädigt. Er sei auch bedürftig im Sinne des § 10a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 OEG, denn ausweislich seiner Angaben im Berechnungsbogen zur Prozesskostenhilfe und der Angaben seines Betreuers im Termin der mündlichen Verhandlung habe der Kläger jedenfalls seit dem Jahr 2003 Sozialhilfe und seit dem Jahre 2005 Grundsicherungsleistungen nach dem 12. Buches des Sozialgesetzbuches bezogen. Es bestehe kein Anlass, diese Angaben anzuzweifeln.

Gegen das dem Beklagten am 8. März 2007 zugestellte Urteil hat dieser am 5. April 2007 Berufung zum Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Unter Bezugnahme auf eine nervenärztliche Stellungnahme seines medizinischen Beraters CC. vom 12. April 2007 trägt der Beklagte vor, dass die bei dem Kläger bestehende Persönlichkeitsstörung und die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit nicht ursächlich auf den im Jahre 1963 erlittenen sexuellen Missbrauch zurückzuführen sei. Der sexuelle Missbrauch sei nur eine Teilursache seiner psychischen Störungen und könne nicht als wesentliche Ursache angesehen werden. Unter Berücksichtigung, dass bereits vor der sexuellen Traumatisierung durch einen Erzieher massiver Traumatisierungen durch das Elternhaus, unmenschliche und entwürdigende Internatserziehung und eine (sexuelle) Belästigung durch Mitschüler erfolgt seien, sei eine medizinische Teilursache durch das schädigende Ereignis medizinisch nicht zu begründen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. Februar 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass durch den Sachverständigen C. nachgewiesen werde, dass als kausales Ereignis die sexuelle Misshandlung des Klägers zu sehen sei.

Der Senat hat eine weitere ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen C. vom 20. Juli 2007 eingeholt. Wegen des Inhalts wird auf die Blätter 384 bis 391 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht Kassel in seiner Entscheidung vom 8. Februar 2007 den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 28. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 2003 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, als Schädigungsfolgen des Klägers eine bestehende Persönlichkeitsstörung und Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit festzustellen und Versorgungsleistungen nach einer MdE von 70 v.H. zu gewähren. Denn diese Schädigungsfolgen beruhen mit Wahrscheinlichkeit auf dem etwa im Jahre 1963 erlittenen sexuellen Missbrauch durch den verurteilten Straftäter R. N ...

Nach den §§ 1 Abs. 1 OEG und 29, 31 Abs. 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält derjenige eine Beschädigtenrente, dessen schädigungsbedingte MdE mindestens 25 v.H. beträgt. Nach § 30 Abs. 1 BVG ist die MdE von der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen. Dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichtete Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die Folgen einer Schädigung anerkannter Gesundheitsstörungen beeinträchtigt ist. Um eine möglichst weitgehende Einheitlichkeit in der Beurteilung der MdE sicherzustellen, sind insoweit die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung, 2005 (im folgenden: Anhaltspunkte) anzuwenden. Nach § 1 Abs. 1 BVG hängt die Gewährung einer Versorgung von einer doppelten Kausalität ab. Die so genannte haftungsbegründende Kausalität meint den Ursachenzusammenhang zwischen dem nach dem Gesetz geschützten Vorgang (der Gewalttat) und der Schädigung als schädigenden Vorgang. Die so genannte haftungsausfüllende Kausalität meint den Ursachenzusammenhang zwischen der Schädigung und deren Folgen in gesundheitlicher (Gesundheitsstörung) und wirtschaftlicher Hinsicht (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, § 1 Anmerkung 9). Dabei gilt im Bereich des OEG ebenso wie in der Kriegsopferversorgung die Ursachentheorie der "wesentlichen Bedingung". Danach sind Ursachen die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem dieser Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand Alleinursache im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, a.a.O). Für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Ausreichend ist danach, dass nach geltender medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (Rohr/Sträßer/Dahm/Rauschelbach/Pohlmann, a.a.O., § 1 Anmerkung 10).

Tatbestandsmäßig erfordert § 1 Abs. 1 OEG das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs. Zu Recht gehen sowohl die Beteiligten wie auch das Sozialgericht davon aus, dass der Kläger Opfer eines solchen Angriffs geworden ist. Nach der Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, können die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dieser Vorschrift insbesondere auch dann erfüllt sein, wenn der Täter keine nennenswerte Kraft aufwendet, um einen Widerstand des Opfers zu überwinden, sondern sein Ziel dadurch erreicht, dass er den Widerstand des Opfers durch Täuschung, Überredung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder gar nicht erst aufkommen lässt (BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, Az.: 9 RVg 4/93; Urteil vom 18. Oktober 1995, Az.: 9 RVg 7/93; Urteil vom 7. November 1979, Az.: 9 RVg 1/78). Denn entscheidend ist die Rechtsfeindlichkeit, nicht ein aggressives Vorgehen. Selbst wenn der Täter aus Liebe handelt, liegt ein rechtwidriger tätlicher Angriff dann vor, wenn der Täter in strafbarer Weise die körperliche Integrität eines anderen rechtswidrig verletzt. Auch wenn das Opfer in die Tat einwilligt, ist die Tat dann nicht gerechtfertigt, wenn es dem Opfer z.B. an der Fähigkeit mangelt, Bedeutung und Tragweite seiner Einwilligung zu erkennen. An dieser Fähigkeit mangelt es insbesondere Kindern auf sexuellem Gebiet, jedenfalls solange sie nicht strafmündig sind (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995, a.a.O.). Zutreffend geht das BSG davon aus, dass für dieses Alter der Gesetzgeber ein strafrechtliches Schutzbedürfnis vor sexuellem Missbrauch angenommen und strafrechtlich unter erhebliche Strafandrohung gestellt hat. Diese gesetzliche Wertung, dass auch ein nicht gewaltsam erzwungenes Mitwirken des kindlichen Opfers für den Täter keine Rechtfertigung darstellt, schließt es auch im Rahmen des OEG aus, die näheren Umstände etwa bezüglich des konkreten Reifegrades des Opfers oder seine konkrete Einsichtsfähigkeit zu untersuchen (BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, Az.: 9 RVg 7/93).

Wie das Sozialgericht in seiner Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, ist der Kläger etwa im Jahre 1963 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs geworden. Denn er ist in dieser Zeit von einem Heimerzieher sexuell missbraucht worden. Es kam zur Überzeugung des Senats zu mehrfachen Übergriffen. Der Kläger beziffert sie auf etwa 40 bis 50 Mal. Nach seinen Schilderungen, an denen zu zweifeln kein Anlass besteht, wurde er von dem Täter nachts in der Zeit zwischen 23:00 Uhr und 1:00 Uhr aus dem Schlafsaal der Internatsschule unter dem Vorwand geholt, etwa Vokabeln zu üben. Im Zimmer des Täters musste er sich dann entkleiden und zulassen, dass der Täter an seinem Geschlechtsteil "herumspielte". Er seinerseits musste bei dem Täter das gleiche tun. Als der Täter eines Nachts von dem Kläger verlangte, er solle mit ihm "knutschen", eskalierte die Situation. Der Kläger schrie und schlug auf den Täter ein. Davon wurden andere Personen wach und der sexuelle Missbrauch wurde entdeckt. Das Sozialgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass am Vorliegen der Tat kein ernsthafter Zweifel besteht, auch wenn die Strafakten zwischenzeitlich nach Ende der Aufbewahrungsfrist vernichtet worden sind. Zum einen hat die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Fulda mit Schreiben vom 5. März 2003 bestätigt, dass Herr N. im Jahre 1963 wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, die er auch überwiegend verbüßt hat. Zum anderen hat der Kläger noch eine Ladung als Zeuge vom 29. Mai 1963 zu einer Strafverhandlung gegen den Lehramtskandidaten N. wegen "Unzucht pp." vorlegen können. Schließlich werden die Angaben des Klägers durch schriftliche Bestätigungen der Mutter des Klägers, E. A., vom 3. Juni 2003 und der Tante des Klägers, E. D., vom 3. Juni 2003 bestätigt. Beide Personen bestätigen, dass es zu "dauerhaften" beziehungsweise "ständigen" Missbräuchen gekommen war. Auch wenn diese Angaben auf Hörensagen beruhen, bestätigen sie gleichwohl den sexuellen Missbrauch. Der Sachverständige C. hat ebenso wie der Beklagte keinen Zweifel an dem stattgehabten sexuellen Missbrauch. Über dies hat die Fremdanamnese der Ehefrau des Klägers ergeben, dass dieser "jedes Mal, wenn er richtig besoffen war", bereits in früheren Jahren von dem sexuellen Missbrauch berichtet hat.

Der Senat folgt dem Sachverständigen C., wenn dieser in seinem Gutachten vom 1. April 2005 eine andauernde Persönlichkeitsstörung überlappend und in der Folge einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung vom partiellen und subsyndromalen Typus diagnostiziert. Als comorbide Störungen in diesem Zusammenhang liegen chronisch rezidivierende depressive Episoden sowie eine konsekutiven Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit episodischer Art vor.

Zur Überzeugung des Senats sind die festgestellten Gesundheitsstörungen durch den sexuellen Missbrauch des Klägers durch den Heimerzieher N. mit Wahrscheinlichkeit entstanden. Der Senat folgt dem Sachverständigen C., wenn dieser nachvollziehbar feststellt, dass diesem Missbrauch die vorrangige Bedeutung zukommt. Wie das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, hat der Sachverständige C. sein Gutachten auf Grundlage von vier ambulanten Untersuchungen und Befragungen unter ausführlicher Würdigung der medizinischen Vorbefunde erstellt und im Rahmen der Untersuchung sowohl die Ehefrau des Klägers wie auch seine Mutter befragt. Der Sachverständige hat darüber hinaus andere in Betracht kommende Kausalitätsfaktoren diskutiert und berücksichtigt. Soweit der Beratungsarzt des Beklagten CC. anderen schädigungsrelevante Ursachen ein höheres Gewicht einräumt, hat dies den Senat nicht überzeugen können. So geht der Beratungsarzt davon aus, dass es sich bei dem Trauma durch sexuellen Missbrauch nur um eine von mehreren traumatisierenden Einflüssen gehandelt habe, dass nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 10% Ursache für die späteren psychischen und sozialen Störungen verantwortlich sei. Es lägen bereits vor der sexuellen Traumatisierung durch den Heimerzieher massive Traumatisierungen durch das Elternhaus, die unmenschliche und entwürdigende Internatserziehung und durch Mitschüler vor, die die wesentliche Teilursache der sexuellen Traumatisierung ausschlössen. Das Herausreißen des Klägers aus seinem Freundeskreis und seine Einschulung in ein strenges katholisches Internat in E., wo er mit Stockschlägen malträtiert worden sei, vor der Klasse geweint habe und nur noch Angst und Heimweh gehabt habe, eine sexuelle Annäherung eines Mitschülers, der Wechsel in das Internat nach FS. mit der Erfahrung, dass die Eltern, insbesondere die Mutter, ihn trotz der massiven Belastung im ersten Internat nicht wieder nach Hause geholt habe, hätten größere Bedeutung gehabt als der sexuelle Missbrauch. Außerdem weist der Beratungsarzt darauf hin, dass davon auszugehen sei, dass der Vater und der Großvater des Klägers Alkoholprobleme gehabt hätten, so dass der Kläger auf diesem familiären Hintergrund ein deutlich erhöhtes Risiko zur Entwicklung eines Suchtverhaltens in sich getragen habe. Ein dokumentierter Alkoholismus bei dem Kläger sei erst deutlich später circa 1986 dokumentiert. Der Sachverständige C. hat bereits im Gutachten vom 1. April 2005 darauf hingewiesen, dass es neben dem wiederholten sexuellen Missbrauch andere Gesichtspunkte und Entwicklungen gegeben hat. Insbesondere hat er auf die Qualität der Beziehungen zu den Eltern in diesem Zusammenhang hingewiesen. Nachvollziehbar hat er diese jedoch allenfalls als prämorbide, ungünstige Voraussetzungen und auch als Risikofaktor gewertet, Opfer eines Missbrauchsgeschehens zu werden. Er hat darin jedoch keine hinreichende Voraussetzung für eine als Krankheit zu wertende Störung erkennen können. Der Sachverständige C. hat auch diskutiert, dass eine sexuelle traumatische Erfahrung nicht zwangsläufig zu einer schweren Persönlichkeitsstörung führt. Allerdings weist er darauf hin, dass bei einer Prävalenzrate von sexuellen Missbrauch an Jungen von 2 bis 8% und weiterhin wichtigen vermittelnden Variablen für eine besondere Symptombelastung wie das Kindesalter, die Dauer und Intensität des Missbrauchs, die enge Beziehung zwischen Täter und Opfer, wenig familiärer Unterstützung bei der Enthüllung sowie langwierige Gerichtsverfahren mit mehrfachem belastenden Verhören die Symptombelastung des Klägers sehr wahrscheinlich machen. Zwar ist die Belastung des Klägers in seiner psychischen Entwicklung nach den Feststellungen des Sachverständigen C. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12. Dezember 2005 anhand des elterlichen Bindungs- und Erziehungsstiles anzuerkennen. Er weist aber darauf hin, dass, je gravierender der sexuelle Missbrauch war, um so größer die spätere psychopathologische Belastung der ehemaligen Opfer ist, vor allem in den Bereichen der Depression, der posttraumatischen Belastungsstörung, Alkoholabhängigkeit und Suizidalität. Der Senat folgt dem Sachverständigen C., wenn er in seiner weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 20. Juli 2007 ausführt, dass die geschilderten Ereignisse nicht den Charakter von außergewöhnlicher Bedrohung oder eines katastrophalen Ausmaßes, dass nahezu bei jedem, tief greifende Verzweiflung ausgelöst hätte, entsprochen hätten. Denn der Kläger wuchs bis zu seiner Einschulung in das Internat E. zur Überzeugung des Senats keineswegs in einem von Gewalt beherrschten Milieu auf. Der Kläger beschreibt insbesondere seine Mutter zwar als streng. Sie duldete keine Übertretungen ihrer Anweisungen und bestrafte solche mit Schlägen. Die Beziehung zum Vater wird als nicht eng und nicht emotional beschrieben. Ein derartiger Erziehungsstil mag zwar im zeitlichen Abstand von über 40 Jahren allgemein auf Befremden und Ablehnung stoßen. Der Senat folgt aber den Ausführungen des Sachverständigen C., dass eine derartige Erziehung kaum geeignet ist, den Charakter einer außergewöhnlichen Bedrohung oder eines katastrophalen Ausmaßes anzunehmen. Das Gleiche gilt für die Internatserziehung. Es ist nachvollziehbar, dass diese für den Kläger belastend gewesen sein mag und er unter heftigem Heimweh gelitten hat. Auf der anderen Seite wurden aber nicht die Beziehungen zum Elternhaus gekappt. In Bezug auf die Annäherung durch den Mitschüler in E. hat der Kläger bereits frühzeitig ausgeführt, dass es zu keinen sexuellen Handlungen gekommen sei, er vielmehr dem Ansinnen habe ausweichen können. Soweit der Beratungsarzt CC. einen Alkoholismus des Vaters und des Großvaters zugrunde legt (sie seien vom Kläger als "feige Trinker" bezeichnet worden), liegen hierzu keinerlei gesicherte Fakten vor, auf denen sich eine mögliche Kausalität gründen könnte. Der Beratungsarzt bewegt sich insoweit auf der Stufe der Spekulation. Überdies hat der Beratungsarzt CC. die Entwicklung der Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht nicht zutreffend beschrieben, wenn er von einem erstmaligen dokumentierten Alkoholismus im Jahre 1986 ausgeht. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Medikamentenabhängigkeit des Klägers aktenkundig. Bezüglich des Alkoholismus ergibt sich ein deutlich früherer Beginn. Ein erster Hinweis findet sich bereits in dem Bericht des Dr. S. vom 25. Oktober 1978, wenn dort von einem ersten Suizidversuch vor zwei Jahren unter Alkohol gesprochen wird. Daneben ist die Rede von einer Ausweichhaltung mit Alkoholabusus. Im Bericht der Klinik G. vom 7. März 1980 wird von einer Zeit des Alkoholmissbrauchs mit häufigen Schlägereien berichtet, der vor zwei Jahren mithilfe einer Partnerin überwunden worden sei. Weiter wird sowohl im Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses Eschwege vom 20. März 1986 wie auch im Bericht des psychiatrischen Krankenhauses M. vom 6. November 1986 berichtet, dass der Kläger seit seinem 15. Lebensjahr regelmäßig Alkohol trinke, beziehungsweise "seit langen Jahren". Dies entspricht auch den eigenen Angaben des Klägers und der seiner Mutter gegenüber dem Sachverständigen C ... Der Kläger berichtet ebenfalls nachvollziehbar von dem "Erleichterungstrinken" mit einem Mitschüler, der ihn, als er ihn von den Geschehnissen berichtet hatte, mit zu seinem Onkel an ein Kiosk mitnahm und sie dort einige kleine Fläschchen Doornkaat tranken. Nach Auffassung des Senats kann diese Hinführung zum Alkohol zur Verminderung psychischer Anspannung nicht, wie es der Beratungsarzt CC. meint, als gelegentlicher Alkoholkonsum von Jugendlichen in der besonderen Situation des Internats als altersgruppenüblich bezeichnet werden.

Wegen der Höhe der MdE sowie wegen der von dem Sozialgericht zutreffend bejahten Voraussetzungen des § 10a OEG nimmt der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die Urteilsgründe vom 8. Februar 2007 und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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