L 5 B 940/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 13403/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 B 940/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Anwendungsbereich von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG ist jedenfalls dahingehend einzuschränken, dass eine Begrenzung auf die alten Unterkunftskosten nur dann in Betracht kommt, wenn vor dem Umzug Wohnraum überhaupt zu sozial- und markttypischen Bedingungen bewohnt worden ist.
Die grundrechtlich garantierte Freizügigkeit (Art. 11 GG) würde unverhältnismäßig beschränkt, wenn der Hilfebedürftige faktisch keine Möglichkeit zu einem Wohnortswechsel mehr hätte, weil die Aufwendungen der alten Unterkunft unter Ausblendung der Bedingungen des Wohnungsmarktes (hier: kostenfreies Wohnen eines Ehepaares im Elternhaus) festgelegt worden sind.
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2008 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Antragsgegner den Antragstellern nach einem im Sommer 2007 ohne Zustimmung erfolgten Umzug die Kosten für die neue Unterkunft zu gewähren hat.

Der 1977 in B geborene Antragsteller zu 1) ist mit der 1975 geborenen Antragstellerin zu 2) verheiratet. Beide bewohnten bis zu ihrem Umzug nach B unter der Anschrift A K, O (S) ein Wohn- und ein Schlafzimmer, zusammen 60 qm, im Obergeschoss des Einfamilienhauses der Eltern der Antragstellerin. Ihren Angaben nach seien die Zimmer nicht über ein separates Treppenhaus erreichbar gewesen. Küche und Bad hätten sie sich mit der ebenfalls im Obergeschoss wohnenden Großmutter teilen müssen. Diese Unterkunft sei ihnen vorübergehend kostenfrei zur Verfügung gestellt worden. Lediglich ein Beitrag zu den Kosten der Abfallentsorgung von 12,40 Euro im Monat sei zu entrichten gewesen.

Der Antragsteller, der keine abgeschlossene Ausbildung hat, war vor dem Umzug vom 13. März bis zum 23. Mai 2007 arbeitslos, vom 24. Mai bis zum 3. Juli 2007 bei der Firma R beschäftigt und anschließend wieder arbeitslos. Die Antragstellerin ist ausgebildete Industriekauffrau, war von April 2003 bis März 2007 selbständig und ist seitdem arbeitslos. Zuletzt mit Bescheid vom 15. August 2007 bewilligte die ARGE Landkreis K (ARGE) ihnen Leistungen für den Monat Juli 2007, wobei als Kosten der Unterkunft lediglich 12,40 Euro monatlich anerkannt wurden.

Erstmals teilten die Antragsteller der ARGE im Mai 2007 ihre Absicht mit, nach B zu ziehen. Ohne eine entsprechende Zusicherung der ARGE eingeholt zu haben, unterschrieben sie dann am 4. Juli 2007 einen ab August 2007 laufenden Mietvertrag über die aus dem Rubrum ersichtliche 60 qm große Wohnung zu einem Mietzins von 476,02 Euro brutto warm, für deren Kosten sich die in B lebenden Eltern des Antragstellers gegenüber dem Vermieter verbürgten.

Mit Bescheid vom 21. August 2007 bewilligte der nach dem Umzug zuständige Antragsgegner den Antragstellern von August 2007 bis Januar 2008 Leistungen nach dem SGB II, übernahm dabei allerdings nur die vor dem Umzug angefallenen Kosten der Unterkunft von insgesamt 12,40 Euro monatlich. Teilweise rechnete er hierbei Einkommen an, das der Antragsteller zwischen dem 17. September und 29. Oktober 2007 aus einer Tätigkeit in B erzielt hatte.

Mit Bescheid vom 25. Januar 2008 bewilligte der Antragsgegner Leistungen für den Folgezeitraum Februar bis Juli 2008 in Höhe von 636,40 Euro monatlich, wiederum unter Berücksichtigung von Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von nur 6,20 Euro je Antragsteller.

Gegen beide Bescheide legten die Antragsteller Widerspruch ein, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 8. bzw. 15. April 2008 als unbegründet zurückwies.

Am 21. April 2008 haben die Antragsteller hiergegen Klage erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Begehren, die vollen Kosten für Unterkunft und Heizung gewährt zu bekommen.

Mit Beschluss vom 6. Mai 2008, dem Antragsgegner zugestellt am 14. Mai 2008, hat das Sozialgericht Berlin dem Antrag weitestgehend stattgegeben und den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung im Zeitraum April bis Juli 2008 in Höhe einer Bruttokaltmiete von 413,44 Euro zuzüglich 42,84 Euro als Abschlag für Heizkosten und Warmwasser abzüglich der Warmwasserpauschale zu gewähren. Die in § 22 Abs. 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) vorgesehene Beschränkung der Mietkosten auf die vorangegangene Miete gelte - wie bereits das LSG Niedersachsen-Bremen entschieden habe - mit Blick auf das Freizügigkeitsrecht aus Art. 11 Grundgesetz (GG) nicht für überörtliche Umzüge. Es spreche außerdem viel dafür, dass die Antragsteller wichtige Gründe für einen Umzug gehabt hätten. Der Antragsgegner sei demzufolge zur Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft verpflichtet. Die Angemessenheit beurteile sich nach der Produkttheorie. In Bn sei für einen Zweipersonenhaushalt eine 60 qm große Wohnung mit einer Kaltmiete von 293,40 Euro angemessen; hinzuzurechnen seien kalte Betriebskosten von 120 Euro und die jeweils tatsächlich anfallende Heizkostenvorauszahlung abzüglich einer Warmwasserpauschale, vorliegend also ein Betrag von 42,84 Euro (54,58 Euro - 11,74 Euro).

Gegen diesen Beschluss hat der Antragsgegner am 8. Mai 2008 Beschwerde eingelegt.

Er trägt vor, dass die Rechtsauffassung des Sozialgerichts dem Wortlaut von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II widerspreche. In das Grundrecht auf Freizügigkeit werde durch die Vorschrift gar nicht eingegriffen. Das Grundrecht gewähre auch keinen Anspruch auf Leistungen, die die Inanspruchnahme des Grundrechts erst ermöglichten. Der Umzug sei auch nicht erforderlich gewesen, da zumutbarer Wohnraum vorhanden gewesen sei. Die Arbeitsmarktlage in Bn sei zudem angespannt, ein Umzug in ein anderes Bundesland wäre erfolgversprechender gewesen. Im Übrigen habe der Antragsteller auch im Landkreis K konkrete Beschäftigungsaussichten gehabt, wie die Tätigkeit bei R zeige.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Mai 2008 aufzuheben und den Antrag vom 21. April 2008 zurückzuweisen.

Die Antragsteller beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Die Wohnsituation vor dem Umzug sei unzumutbar gewesen, insbesondere habe ihnen kein abgetrennter Wohnbereich zur Verfügung gestanden. Ein Umzug sei zudem wegen der aussichtslosen Lage am Arbeitsmarkt im Landkreis K erforderlich gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II.

Die nach §§ 172 Abs. 1 und 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht verpflichtet, die angemessenen Kosten der neuen Unterkunft zu übernehmen.

Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG müssen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss es im Ergebnis einer Prüfung der materiellen Rechtslage überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Antragsteller mit seinem Begehren im hauptsächlichen Verwaltungs- oder Klageverfahren erfolgreich sein wird

(Anordnungsanspruch). Zum anderen muss eine gerichtliche Entscheidung deswegen dringend geboten sein, weil es dem Antragsteller wegen drohender schwerwiegender Nachteile nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

In Anlegung dieses Maßstabes sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erfüllt. Zutreffend hat das Sozialgericht angesichts der existentiellen Bedeutung des Wohnraums für die Antragsteller die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung bejaht. Ebenfalls zu Recht hat es die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten der Unterkunft auf § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gestützt, wonach Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden, soweit diese angemessen sind. Auch die Ermittlung der angemessenen Aufwendungen unter Heranziehung der Produkttheorie begegnet keinen Bedenken, wobei im vorliegenden Eilverfahren angesichts der nur geringfügigen Unterschiede offen bleiben kann, ob stets die konkret anfallenden Heizkosten oder vielmehr abstrakt pauschalierte Heizkosten zugrunde zu legen sind.

Gegen die Übernahme der neuen Unterkunftskosten in angemessener Höhe spricht nicht § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II, der besagt, dass Leistungen weiterhin nur in Höhe der bisher zu tragenden Aufwendungen erbracht werden, wenn sich die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach einem nicht erforderlichen Umzug erhöhen. Dahingestellt bleiben kann dabei, ob diese Vorschrift – wie vom Sozialgericht vertreten – grundsätzlich derart ausgelegt werden muss, dass sie bei überregionalen Umzügen keine Anwendung findet (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Oktober 2007 – L 13 AS 168/07 ER – unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 16/1410, S. 23 zu Nr. 21 a; ausdrücklich offengelassen in BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 10/06 R; zustimmend Lang/Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., Rnr. 47 b zu § 22). Jedenfalls nämlich ist der Anwendungsbereich von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG nach Auffassung des Senats dahingehend einzuschränken, dass - unabhängig von der Erforderlichkeit eines Umzugs - eine Begrenzung auf die alten Unterkunftskosten nur dann in Betracht kommt, wenn vor dem Umzug Wohnraum überhaupt zu sozial- und markttypischen Bedingungen bewohnt worden ist (zum Recht auf sozialtypischen Wohnraum vgl. jurisPK - SGB II / Piepenstock, Rnr. 71 zu § 22). Es würde eine unverhältnismäßige Beschränkung des durch Art. 11 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrechts auf Freizügigkeit bedeuten, wenn der Hilfebedürftige faktisch keine Möglichkeit zu einem Wohnortswechsel mehr hätte, weil die Aufwendungen der alten Unterkunft unter Ausblendung der Bedingungen des Wohnungsmarktes festgelegt worden sind.

Dass eine derart weitgehende Einschränkung des dem Hilfebedürftigen im Bereich von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II noch grundsätzlich zugebilligten Rechts auf freie Wohnortwahl (so BSG a.a.O) vom Gesetzgeber durch die Einführung von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II beabsichtigt worden wäre, ist auch nicht erkennbar. Anliegen des Gesetzgebers war vielmehr zu verhindern, dass der Hilfebedürftige durch einen nicht erforderlichen Umzug die Grenzen des örtlich jeweils angemessenen Wohnungsmarktsegmentes ausreizt. Nicht beabsichtigt war es, auch solche Fälle einzubeziehen, bei denen Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt bisher gar nicht in Anspruch genommen war (vgl. BT-Drucks. a.a.O). Der Umstand, dass ein Hilfebedürftiger aufgrund familiären oder freundschaftlichen Entgegenkommens einmal mietfrei oder zu völlig marktuntypischen Bedingungen untergekommen ist, kann nicht zur Folge haben, dass er sich während des Leistungsbezugs nur noch außerhalb des regulären Wohnungsmarktes bewegen darf. Die für unter 25jährige Hilfebedürftige geschaffenen Regelungen, denen zufolge ein Auszug aus dem Elternhaus nur nach vorheriger Zusicherung möglich ist (vgl. hierzu Lang/Link, a. a. O., Rnr. 80a zu § 22), sind aufgrund ihres Ausnahmecharakters nicht übertragbar. Bezogen auf den vorliegenden Fall kann mithin die Großzügigkeit der Eltern der Antragstellerin, die für die Überlassung der Wohnung keinen Mietzins verlangt haben, nicht den Maßstab für die vom Antragsgegner zu übernehmenden Kosten der Unterkunft bilden.

Dahingestellt bleiben kann die Frage, ob der Umzug der Antragsteller nicht ohnehin auch als erforderlich im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II angesehen werden muss. Selbst wenn man auf die wohnraumbezogenen Lebensgewohnheiten unterer Einkommensgruppen abstellt (vgl. zu diesem Angemessenheitsmaßstab Lang/Link a. a. O, Rnr. 40c zu § 22) spricht viel dafür, dass die beide über 30 Jahre alten, bereits viele Jahre berufstätig gewesenen und langjährig verheirateten Antragsteller ein Recht auf eine eigenständige Lebensführung in einem abgeschlossenen Wohnbereich beanspruchen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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