S 6 VG 16/06

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 6 VG 16/06
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 VG 9/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Sexueller Missbrauch in der Kindheit kann zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen. Dies ergibt sich u.a. aus Nr 71 der "Anhaltspunkte".

2. Bereits die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung stellt nach dem Stand der medizinischen Erkenntnisse ein gewichtiges Indiz für Gewalterfahrungen im frühen Kindesalter dar.

3. Das Krankheitsbild der dissoziativen Identitätsstörung kann eine Einschränkung der Beweismittel und Explorationsmöglichkeiten mit sich bringen.

4. Bei Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung können unvollständige und so genannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann. Eine Anwendung des § 15 KOVVfG ist hierdurch nicht ausgeschlossen.
Der Bescheid vom 06.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2003 und der Bescheid vom 14.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2006 werden aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 07.12.2005 aufzuheben, die dissoziative Identitätsstörung mit posttraumatischer Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anzuerkennen und die Klägerin dafür nach einer MdE von 80 v. H. seit Juli 2001 zu entschädigen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) aufgrund sexuellen Missbrauchs und schwerer Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Die 1972 geborene Klägerin stellte am 25.07.2001 einen Antrag auf Entschädigung nach dem OEG. Sie begründete ihren Antrag damit, von verschiedenen Tätern aus der Familie und dem Bekanntenkreis der Mutter seit der Geburt bis zum 28. April 1982 nahezu täglich körperlich misshandelt worden zu sein. Sie habe Prügel mit dem Ledergürtel, Hundeleinen, dem Waschmaschinenschlauch, mit Fäusten und Tritten bekommen. Ihr Kopf sei auf den Fußboden oder gegen die Wand geschlagen worden. Zudem sei sie regelmäßig sexuell (vaginal, oral, anal) unter Gewaltanwendung und Drohung missbraucht worden. Schließlich habe sie unter regelmäßigem Nahrungs-, Flüssigkeits- und Schlafentzug gelitten. Eine Strafanzeige sei nie erstattet worden, da dies als Kind nicht möglich gewesen sei und durch die Verdrängung des Erlebten die Erinnerungen erst sehr spät wieder zum Vorschein gekommen seien. Die Klägerin berichtete auch über den Antrag hinaus immer wieder von intensiver körperlicher Gewalt, auch sexueller Art seit ihrem 3. Lebensjahr.

Sie wuchs als drittes von sieben Kindern in einem Elternhaus auf, das körperlicher Gewalt sowie Vernachlässigung geprägt war. Sie war seit dem frühesten Kindesalter verhaltensauffällig (Lügen, Stehlen, Zerstörung von Gegenständen, Nägelkauen) und wurde von ihrem leiblichen Vater körperlich misshandelt. Als Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten sah die Familienbetreuerin die Kompensation mangelnder Zuwendung an. Diese hielt die Problematik für so tiefgreifend, dass schon im Alter von 9 Jahren aus ihrer Sicht eine therapeutische Behandlung unabdingbar war. Das zuständige Jugendamt, das die Familie seit 1981 betreute, bestätige körperliche Gewalt durch den leiblichen Vater, den Stiefvater sowie ihren drei Jahre älteren Bruder RX ... Über derartige Taten existieren entsprechende polizeiliche Vermerke. Auch der Familienbetreuerin sowie der Lehrerin der Klägerin waren Verletzungen im Gesicht, blaue Flecken und Kratzwunden aufgefallen. Nach Angaben der Lehrerin äußerte sich die mangelnde Versorgung der Klägerin zudem darin, dass sie anderen Kindern ihre Frühstücksbrote wegnahm, um sie selber zu essen. Ein Kriminalkommissar beschrieb die häuslichen Verhältnisse als unbeschreiblich dreckig und verwahrlost. Die Familienbetreuerin bestätigte erhebliche Defizite im Bereich der Hygiene und Körperpflege. Bei ihrer eigenen Vernehmung gab die Klägerin im April 1982 im Alter von 9 Jahren an, von ihrem leiblichen Vater immer geschlagen worden zu sein und von ihrem älteren Bruder RX. täglich mit der Faust oder sonstigen Gegenständen geschlagen zu werden. Die Angaben erschienen dem zuständigen Kriminalkommissar glaubhaft und wurden vom Bruder RX. auch in einer Vernehmung bestätigt.

Bereits 1975 war ein erst vier Monate alter Säugling der Mutter in der Familie an Verwahrlosung gestorben und die Mutter dafür wegen fahrlässiger Tötung zu drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Mutter wurde daraufhin das Sorgerecht für die Klägerin entzogen. Vier der sechs Geschwister der Klägerin hatten andere Väter. Beide leiblichen Elternteile waren alkoholabhängig und ließen sich scheiden, als die Klägerin 5 Jahre alt war. Im Alter von neun Jahren wurde die Klägerin in einer Pflegefamilie untergebracht, kam dann mit 15 Jahren in ein Kinder- und Jugenddorf. Die Klägerin unternahm drei Suizidversuche im Alter von 15, 16 und 20 Jahren. 1988 nahm die Klägerin wieder Kontakt zu ihrer leiblichen Familie auf, insbesondere zu ihrem leiblichen Bruder, den sie sehr mochte. Dieser Bruder verstarb 1992 bei einem Autounfall. Der Vater starb im Jahr 1995. Im gleichen Jahr erlitt die Klägerin eine Fehlgeburt. Ein jüngerer Stiefbruder unternahm 1995 einen Suizidversuch, ein weiterer erhängte sich 1999.

Die Klägerin erlernte nach dem Hauptschulabschluss den Beruf der Einzelhandelsverkäuferin, in dem sie bis zum Tod ihres kleinen Bruders 1992 tätig war. In der Folge entwickelte sie eine Anorexie, die sie arbeitsunfähig machte. Die Klägerin war dann zwei Jahre arbeitslos. Im Anschluss machte sie die mittlere Reife und eine Umschulung zur Erzieherin, die sie 1999 unterbrach, nachdem sie Zwillinge bei einer Frühgeburt verloren hatte. Seitdem lebt die Klägerin von Sozialhilfe.

Wegen suizidaler Dekompensation wurde die Klägerin vom 21.09.1999 bis 01.10.1999 in die TH-Klinik DW. stationär aufgenommen, wo jedoch kein adäquates Therapiekonzept vorgeschlagen werden konnte. Die Klägerin wurde dann vom 24.01.-03.05.2000 und vom 08.05.-13.05.2000 im Sanatorium Dr. RB. in EB. stationäre behandelt. Hier stellten die behandelnden Ärzte erstmals die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung bei schwersten komplexen Traumata von der Kindheit bis in die Gegenwart. Die Klägerin erinnerte sich ausweislich des Entlassungsberichts an mehrere sexuelle Gewalterfahrungen seit dem Alter von 2-3 Jahren und zwar mit dem Vater, dem Stiefvater und einem Nachbarn, dessen Tochter sich aus diesem Grund 1999 suizidiert habe.

Neben der Klägerin A., existiert aufgrund des Krankheitsbildes der multiplen Persönlichkeit eine Vielzahl von mehreren Hundert Innenpersonen im von der Klägerin so bezeichneten "System". Diese Persönlichkeiten sind vom Alltagsbewusstsein abgespalten und können wechselweise die Kontrolle über das Erleben und Verhalten der Klägerin übernehmen. Die verschiedenen Innenpersonen, die auch zum Teil gegenüber Dritten in Erscheinung treten, verfügen über unterschiedlichste Charaktere, Fähigkeiten und Funktionen. Sie zeichnen sich nach außen durch unterschiedliche Gestik, Mimik, Stimmlage und auch Schriftbild aus. Einige Innenpersonen sind hochgradig aggressiv und bringen die Klägerin immer wieder in lebensbedrohliche Situationen, zu exzessivem Trinken oder Hungern und Selbstverletzungen, versetzen sie in Angst-, Panik- und Schmerzzustände und verursachen chronische Schlafstörungen mit quälenden Alpträumen. Der gewählte Therapieansatz besteht darin, eine Kommunikation mit den Innenpersonen zu fördern, bestimmte Verträge mit ihnen zu erarbeiten und sie mit einer gewissen Distanz bearbeiten zu können.

Die Klägerin befindet sich in permanenter Behandlung bei Dr. RT ... Vom 20.05.-28.05.2003 wurde zudem eine stationäre Therapie in der NW Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie GM. durchgeführt.

Bei der Klägerin ist ein GdB von 90 anerkannt, wobei ein Einzel-GdB von 80 auf die Persönlichkeitsstörung und ein Einzel-GdB von 30 auf die posttraumatische psychischen Störungen entfällt.

Im Verwaltungsverfahren wurde eine persönliche Begutachtung auf Wunsch der Klägerin nicht durchgeführt. Nach Auswertung der Akten konnten die Beratungsärzte des Beklagten die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs mit der Erkrankung der Klägerin und den Erlebnissen ihrer Kindheit nicht herstellen. Insbesondere gebe es keinen Nachweis für sexuellen Missbrauch. Hinsichtlich der körperlichen Gewalt seien die Täter sowie die Häufigkeit der Schläge nicht hinreichend spezifiziert. Damit könnte auch die Voraussetzung des Vorliegens schwerer körperlicher Gewalteinwirkung nicht bejaht werden. Mit Bescheid vom 06.01.2003 hat der Beklagte deshalb einen Anspruch auf Opferentschädigung abgelehnt. Eine neunseitige ausführliche Stellungnahme zum Krankheitsbild der Klägerin vom behandelnden Psychotherapeuten Dr. RT. veranlasste den Beklagten nicht zu einer abweichenden Einschätzung. Der beratende Arzt des Beklagten, Dr. XY., verwies darauf, dass ein Rückschluss von der Diagnose auf Missbrauch in der Kindheit nicht möglich sei. Zudem lasse die Diagnose hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen verschiedene Erklärungsmodelle zu. Unter anderem sei die Entstehung denkbar als das Ergebnis einer fehlgeleiteten Psychotherapie bei histrionischer Persönlichkeitsstörung. Der Beklagte lehnte aus diesen Gründen den Anspruch auch mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2003 erneut ab.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage.

Im weiteren Verlauf ging am 23.12.2003 erneut ein Antrag der Klägerin auf Opferentschädigung bei dem Beklagten ein. Zugrunde lag eine Vergewaltigung der Klägerin am 18.09.2003. Das Verbrechen wurde von Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt und im Ergebnis mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren bestraft. Die Klägerin wurde durch dieses Ereignis retraumatisiert und musste vom 19.9. 20.10.2003, vom 25.10.-6.11.2003, vom 24.11.-9.12.2003 und vom 22.-23.12.2003 stationär im Klinikum ZZ. behandelt werden. Im Verwaltungsverfahren fand am 11.7.2005 eine Begutachtung der Klägerin bei Frau Dr. BB. statt, die die MdE der Klägerin aufgrund des Ereignisses vom 18.09.2003 mit 30 v. H. auf Dauer einschätzte. Vorbehaltlich des Ausgangs des anhängigen Klageverfahrens erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 07.12.2005 eine akute Belastungsreaktion im Rahmen einer vorbestehenden schweren Persönlichkeitsstörung als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenversorgung nach einer MdE von 30 v. H., entgegen dem Vorschlag der Gutachterin jedoch nur vom 1.9.2003 bis 28.2.2005. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X vom 14.02.2006 mit dem Ziel einer Feststellung der MdE auf Dauer lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 23.02.2006 und Widerspruchsbescheid vom 30.03.2006 ab. Gegen diese Bescheide richtete sich ein weiteres Klageverfahren, das das Gericht mit dem Ursprungsverfahren durch Beschluss vom 30.08.2007 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat.

Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides vom 06.01.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.08.2003 sowie der Bescheide vom 07.12.2005 und 23.02.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2006 den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin eine dissoziative Identitätsstörung mit posttraumatischer Belastungsstörung sowie die Taubheit rechts als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ab Juli 2001 Leistungen nach einer MdE in Höhe von mindestens 80 v. H. zu erbringen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist der Beklagte auf die vorliegenden beratungsärztlichen Stellungnahmen. Insbesondere könne weder schwere körperliche Gewalteinwirkung noch sexuelle Gewalteinwirkung im Kindesalter bewiesen werden.

Im Klageverfahren hat das Gericht auf Antrag der Klägerin ein Gutachten bei Frau Dr. GQ. eingeholt. Die Sachverständige ist in ihrem 80-seitigen Gutachten vom 05.02.2007 zu folgenden Ergebnissen gekommen: Die testpsychologischen Untersuchungen mittels spezieller Fragebögen ergaben eine extrem hohe Ausprägung erlittener kindlicher Traumatisierungen und eine schwere posttraumatische Symptomatik bei sehr hoher Intelligenz. Das spezifisch geführte Interview zur Diagnose einer dissoziativen Störung ergab diese Diagnose zweifelsfrei. In der Untersuchungssituation habe die Klägerin drei sexuelle Übergriffe detailgenau geschildert. Anlässlich der Schilderungen sei die Klägerin teilweise in einen erstarrten und gleichzeitig psychomotorisch unruhigen Zustand verfallen. Die Sachverständige führt aus, dass derartige Erfahrungen bei Menschen, die eine dissoziative Identitätsstörung entwickeln, als typisch anzusehen sind. Es könne jedoch nicht bereits von der Diagnose auf das Erleben sexueller Gewalt geschlossen werden. Die Schwere der posttraumatischen Symptomatik sei allein mit der Vergewaltigung im Jahr 2003 jedoch nicht hinreichend zu erklären. Die Konfrontation mit massiven körperlichen Gewalterfahrungen im frühesten Kindesalter ergab sich für die Sachverständige bereits aus den Akten. An der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin hatte die Sachverständige nach ihrer ausführlichen Untersuchung keine Zweifel. Die Sachverständige ordnet die MdE bei 70 v. H. seit Antragstellung ein. Zusätzlich seien 10 v. H. für ein besonderes berufliches Betroffensein anzusetzen.

Der Beklagte konnte sich dem Ergebnis der Begutachtung nicht anschließen, da die sexuellen Übergriffe nicht hinreichend bewiesen seien. Es könne sich auch um Fehlerinnerungen handeln. Das Gutachten entspreche zudem nicht den Anforderungen an ein Glaubhaftigkeitsgutachten. Insbesondere sei die Null-Hypothese, wonach die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu negieren sei, bis die Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar sei, nicht beachtet.

Die Sachverständige wurde daraufhin zu den Einlassungen des Beklagten ergänzend befragt. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 14.09.2007 hat die Sachverständige ausgeführt, dass konkurrierende Ursachen für das Entstehen der dissoziativen Identitätsstörung ausgeschlossen werden könnten und zudem eine Exploration aller einzelnen Taten aufgrund des langen Zeitraums, des damaligen jungen Alters und auch aufgrund der damit verbundenen psychischen Belastung in der Untersuchungssituation nicht möglich sei.

In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den behandelnden Psychotherapeuten der Klägerin als Zeugen vernommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme, des Sachverhaltes und der medizinischen Unterlagen, sowie des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend Bezug genommen auf das Sitzungsprotokoll, die umfangreiche Prozessakte und die die Klägerin betreffenden OEG- und Schwerbehindertenakten, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren. Insbesondere nimmt das Gericht Bezug auf die Vielzahl von Briefen und Gedichten, die Bestandteil der Verwaltungs- und Prozessakten sind und von der Klägerin bzw. ihren verschiedenen Persönlichkeitsanteile verfasst wurden.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Anerkennung ihrer dissoziativen Identitätsstörung mit posttraumatischer Belastungsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG und auf entsprechende Entschädigung nach § 1 OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer MdE von 80 v. H. Der Bescheid vom 06.01.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2003 ist rechtswidrig soweit er diese Ansprüche versagt. Hinsichtlich der Nichtanerkennung der Taubheit rechts als Schädigungsfolge ist der Bescheid nicht zu beanstanden. Der Bescheid vom 07.12.2005 sowie der auf einem Antrag nach § 44 SGB X beruhende Bescheid vom 23.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.03.2006 sind insoweit ebenfalls rechtswidrig. Der Bescheid vom 07.12.2005 muss aufgrund seiner Bestandskräftigkeit jedoch vom Beklagten selber aufgehoben werden.

Nach § 1 Abs.1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gemäß § 10 Satz 2 OEG i. V. m. § 10 a Abs. 1 OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Zur Überzeugung des Gerichts ist die Klägerin in frühester Kindheit Opfer zahlloser schwerer körperlicher und sexueller Misshandlung durch unterschiedlichste Täter geworden und deshalb für die dadurch erlittene Gesundheitsschädigung in Form einer dissoziativen Identitätsstörung mit posttraumatischer Störung zu entschädigen. Der – im vorliegenden Falle glaubhaft gemachte – sexuelle Missbrauch der Klägerin im Kindesalter stellt – ebenso wie andere körperliche Übergriffe – einen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG dar. Der Tatbestand ist im vorliegenden Fall deshalb sowohl aufgrund von vorsätzlicher rechtswidriger körperlicher Gewalt, als auch aufgrund sexuellen Missbrauchs erfüllt. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kinder gilt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen auch dann erfüllt sein können, wenn der Täter keine nennenswerte Kraft aufwendet, um einen Widerstand des Opfers zu überwinden, sondern sein Ziel dadurch erreicht, dass er den Widerstand seines Opfers durch Täuschung, Überredung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder gar nicht erst aufkommen lässt ( BSG, Urt. v. 18.10.1995, BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 7). Selbst wenn das Opfer in die Tat einwilligt, ist die Handlung nicht gerechtfertigt, wenn dem Opfer die Einwilligung durch Täuschung entlockt wird oder es dem Opfer aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelt, Bedeutung und Tragweite seiner Einwilligung zu erkennen. An dieser Fähigkeit fehlt es insbesondere bei Kindern auf sexuellem Gebiet, jedenfalls solange sie noch nicht strafmündig sind. Deshalb ist vom Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs auch bei dem sexuellen Missbrauch eines Kindes auszugehen, selbst wenn dabei keine Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeübt wird (LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 08.11.2005, Az. L 2 VG 7/02).

Zu beachten ist, dass der Grundgedanke des OEG darin liegt, das Versagen staatlichen Schutzes vor Gewalttaten durch die Gewährung von Versorgungsleistungen auszugleichen. Naturgemäß sind die Möglichkeiten staatlicher Verbrechensbekämpfung im familiären Bereich jedoch beschränkt. Der Umstand, dass die Gewalttaten in dem – staatlichen Sicherheitskräften nur beschränkt zugänglichen – familiären Nahraum stattgefunden haben, führt aber nicht zur Versagung von Leistungen (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27.04.2006, Aktenzeichen: L 13 VG 4/04). Aus der Entstehungsgeschichte des OEG ergibt sich der Wille des Gesetzgebers, wegen Gewalttaten, die sich auf dem Hintergrund häuslicher Gemeinschaft oder ähnlich vertrauter Beziehungen ereignet haben, eine Entschädigung nicht allgemein auszuschließen (BSGE 49, 104, 108 = SozR 3800 § 2 Nr. 1; BSGE 77, 7, 9 = SozR 3 3800 § 1 Nr. 6).

Der vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriff als eine der anspruchsbegründenden Tatsachen im Sinne des § 1 OEG liegt im vorliegenden Fall vor. Der Tatbestand muss zwar in der Regel, wie es für soziale Leistungsansprüche allgemein gilt, zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein, d. h. es muss von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder von einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt. Fehlt es daran, geht das zu Lasten der Klägerin (objektive Beweis- und Feststellungslast). Allerdings kann auch die Beweiserleichterung aus § 15 Abs. 1 KOVVfG Berücksichtigung finden. Nach dieser Vorschrift können der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zu Grunde gelegt werden, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Diese Vorschrift gilt gem. § 6 Abs. 3 OEG auch für die Entschädigung nach dem OEG und nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren (ständige Rechtsprechung, s. BSG vom 22.6.1988, SozR 1500 § 128 Nr. 34, vom 31.5.1989, BSGE 65, 123 = SozR 1500 § 128 Nr. 39). § 15 KOVVfG setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen kann (BSG vom 22.6.1988, a. a. O; vom 28.6.2000, SozR 3-3900 § 15 Nr. 3).

An dem Vorliegen schwerer körperlicher Gewalterfahrungen hat das Gericht in der Gesamtschau des vorliegenden Beweismaterials wie auch die Sachverständige Dr. GQ. und der Zeuge Dr. RT. keinerlei Zweifel. Die Familienbetreuerin des Hessischen Diakoniezentrums AH. dokumentierte in ihrem Bericht vom 17.12.1981, dass nach den Angaben der Mutter, die Klägerin seit ihrem dritten Lebensjahr von ihrem leiblichen Vater körperlich misshandelt worden sei, weil dieser die Klägerin seit der Geburt stark abgelehnt habe. Auch für den weiteren Verlauf der frühen Kindheit sind derartige Misshandlungen dokumentiert. Die Mutter der Klägerin hat 1981 Anzeige erstattet gegen den Stiefvater der Klägerin wegen Kindesmisshandlung und angegeben, dass dieser die Klägerin öfters schlage. Das äußere Erscheinungsbild der Klägerin bestätigt diese Angaben. Es war von häufigen blauen Flecken, blauen Augen und Kratzwunden im Gesicht geprägt, was von der Familienbetreuerin und auch der Klassenlehrerin festgestellt wurde. Die Klägerin gab schließlich selber bei einer polizeilichen Anhörung im Alter von neun Jahren an, vom Vater früher immer geschlagen worden zu sein und aktuell täglich vom älteren Bruder mit der Faust oder Gegenständen geschlagen zu werden. Der Bruder bestätigte diese Angaben. Dass die Klägerin in ihrer Kindheit Opfer wiederholter schwerer körperlicher Gewalt durch verschiedene Täter geworden ist, kann nach diesen schriftlich dokumentierten Umständen zur Überzeugung des Gerichts nicht in Zweifel gezogen werden.

Hingegen liegen hinsichtlich der sexuellen Gewalterfahrungen "nur" die Aussage der Klägerin sowie die Würdigung ihrer Schilderungen durch die Sachverständige GQ. und den Zeugen Dr. RT. vor. Unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung des § 15 Abs. 1 KOVVfG sieht das Gericht die Angaben der Klägerin wie auch die Sachverständige und der Zeuge Dr. RT. als sehr glaubhaft an. Das Gericht hat im gesamten Verfahren und auch aufgrund des Eindrucks der mündlichen Verhandlung keine Anhaltspunkte erkennen können, die Zweifel an der Authentizität und Glaubhaftigkeit der Klägerin und der von ihr gemachten Angaben erlauben würden. Die Klägerin hat belegt durch ihre eigenen Niederschriften, in zahlreichen Untersuchungssituationen, dokumentiert durch eigene Schilderungen, durch Befundberichte, in der Begutachtungssituation und auch im Termin zur mündlichen Verhandlung konsistente Angaben gemacht zu sexuellem Missbrauch seit der frühesten Kindheit. Dies gilt exemplarisch für den Bericht des Sanatoriums Dr. RB. vom 19.05.2000 wie auch für den Bericht der TH-Klinik DW. vom 07.12.1999 und die zahlreichen Berichte des behandelnden Psychotherapeuten Dr. RT ... Der Zeuge hat im Termin zur mündlichen Verhandlung das Krankheitsbild einer dissoziativen Identitätsstörung differenziert dargestellt und es sowohl losgelöst vom konkreten Fall, als auch im Einzelfall der Klägerin ausführlich erläutert. Trotz seiner durch die Therapeutenstellung nachvollziehbaren Nähe zur Klägerin hat das Gericht keinen Anlass an der Objektivität seiner Angaben und der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu zweifeln. Der Zeuge wirkt mit der Klägerin und dem Umgang mit ihrer Krankheit vor allem auch in der Dissoziationssituation vertraut. Bei seinen Angaben war er in Anwesenheit der Klägerin sichtbar um Rücksichtnahme und Vermeidung von Triggersituationen bemüht. Seine Erläuterungen wiesen jedoch keinerlei erkennbar subjektiven Einschlag auf, sondern erwiesen sich als konsistent in der Zusammenschau mit den Ausführungen der Sachverständigen Dr. GQ. und decken sich mit dem vom Gericht in Eigenrecherche erworbenen Erkenntnissen.

Der Einwand des Beklagten, die Ereignisse seien hinsichtlich Täter, Örtlichkeit und Tatzeit nicht hinreichend präzisiert und definiert, trägt nicht. Rechnung zu tragen ist diesbezüglich vor allem dem Krankheitsbild der Klägerin und den damit verbundenen Einschränkungen bei der Ermittlung des tatsächlichen Sachverhalts. Das Gericht ist davon überzeugt, dass das Krankheitsbild der Klägerin die von dem Beklagten geforderte noch weitergehende Erforschung einzelner Taten und noch genauere Exploration der belastenden Ereignisse nicht zulässt. Aufgrund der Aussagen von Dr. RT. im Termin zur mündlichen Verhandlung, der Einschätzung der Sachverständigen in ihrem Gutachten und aufgrund eigener Recherchen ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass das vorliegende Krankheitsbild einer schweren dissoziativen Identitätsstörung davon geprägt ist, dass Worte, Personen, zum Teil auch Gerüche oder Düfte als sog. Trigger funktionieren, die das Wiedererleben von traumatischen Ereignissen durch Intrusionen und flash-backs mit sich bringen. Das Gericht ist in der mündlichen Verhandlung selber Zeuge eines derartigen Dissoziationszustandes geworden, als die Klägerin durch die Aussage von Dr. RT. getriggert, in einen tranceartigen Zustand verfiel und leichenblass und am ganzen Körper zitternd nur mit großer Mühe in der Lage war, den Sitzungssaal zu verlassen. Dr. RT. hat eindrücklich geschildert, dass bei traumatischen Erlebnissen im familiären Bereich, dieser gesamte Bereich "infiziert" ist und triggert, so dass es für die Betroffenen eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung bedeutet, mit diesen Personen konfrontiert zu werden. Bei dissoziativen Identitätsstörungen ist deshalb hinzunehmen, dass die Betroffenen Zeugenvernehmungen aus dem familiären Umfeld ablehnen. Diese gesundheitlichen Notwendigkeiten können nicht zu Lasten der Betroffenen verwertet werden. Die Sachverständige Dr. GQ. hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme zudem überzeugend erläutert, dass eine weitere Vertiefung der Exploration sich schädigend oder destabilisierend auf die Klägerin hätte auswirken können. Eine vollständige, jede einzelne Tat aufklärende Exploration ist daher krankheitsbedingt nicht möglich. Auch dies kann nicht zu Lasten der Klägerin verwertet werden. Das Gericht hält es bei ständigem, über Jahre andauernden Missbrauch darüber hinaus für schlechterdings unmöglich, sämtliche Vorfälle zu explorieren, zumal die Klägerin in sehr jungem Alter war, was schon biologisch eine bruchstückhafte Erinnerungsfähigkeit bedeutet. Schließlich weisen die Sachverständige und Dr. RT. überzeugend darauf hin, dass bei dem vorliegenden Krankheitsbild eine Verdrängung von Erinnerungen stattfindet, die in Speicher abgelegt werden, die nicht jederzeit zugänglich sind, so dass bei dem vorliegenden Krankheitsbild nicht erwartet werden kann, dass alles erinnert wird.

Trotz dieser krankheitsbedingten Einschränkungen im Bereich der Sachverhaltsermittlung hat das Gericht nach den vorliegenden Fakten keinen Zweifel daran, dass die Klägerin in ihrer Kindheit das Opfer häufigen sexuellen Missbrauchs durch verschiedene Täter geworden ist. Die Vielzahl der Täter ist nach den glaubhaften und schlüssigen Angaben von Dr. RT. im Termin zur mündlichen Verhandlung ein Merkmal, das typischerweise bei diesem Krankheitsbild auftritt. Diese Überzeugung resultiert zum einen aus den dokumentierten Lebensumständen, die ein Umfeld zu Tage fördern, in dem schwere körperliche Misshandlungen an der Tagesordnung waren und so auch sexuelle Missbrauchshandlungen nicht fernliegen. Dass die Klägerin einer extrem pathogenen Familiensituation entstammt, konstatiert auch der beratende Arzt des Beklagten, Dr. XY ...

Maßgeblich ist für das Gericht, dass die Angaben der Klägerin Vorfälle von sexuellem Missbrauch in sich schlüssig und widerspruchsfrei, zum Teil auch detailliert, beschreiben und diese Angaben im Abgleich mit den bekannten äußeren Umständen als glaubhaft anzusehen sind (vgl. Voß, Zeitschrift für Sozialversicherung 2005, 100, 102). Entscheidend ist, dass die Klägerin in ihren Briefen, Gedichten und Schilderungen in der Begutachtungssituation sogar einzelne Taten mit erstaunlichem Detailreichtum darstellt. So hat eines Tages der Stiefvater DH. die Mutter der Klägerin und die Klägerin selber verprügelt und vergewaltigt, nachdem er zuvor Steine gegen die Fenster geworfen hatte, um eingelassen zu werden. Die Klägerin schildert dieses Ereignis sowohl in einem Brief als auch in der Begutachtungssituation. Die Klägerin hat ausweislich einer Schilderung der neunjährigen Innenperson mit Namen UU. mit vorgehaltenem Messer und an einen Stuhl mit einem Gürtel gebunden mit angesehen, wie ihre kleine Schwester vergewaltigt wurde. Ihr wurde suggeriert, dass dies nur aufgrund ihres eigenen Ungehorsams geschehe. Die Schilderung der ersten Vergewaltigung durch den Vater sowie einer Vergewaltigung durch den Nachbarn jeweils in der Begutachtungssituation enthält den gleichen Detailreichtum. Die Klägerin gibt die Erinnerung an die Örtlichkeiten genau wieder. Es war Vollmond. Der Vater hatte weit aufgerissene eiskalte Augen und hat nach Schnaps gestunken. Aus einem Brief an das Gericht ergeben sich weitere Taten. Unter anderem wurde die Klägerin nackt an einen Baum gefesselt, "nahe bei den Schienen" und musste den Vater dort oral befriedigen. Auch die Täterschaft des Stiefvaters und des Nachbarn wird hier erneut bestätigt. Die Klägerin hat zudem in einem handschriftlichen Lebenslauf detaillierte Angaben zu den Tätern und den Zeitraum der Taten gemacht. So ist der sexuelle Missbrauch durch den leiblichen Vater seit Mitte 1975, seit 1978 durch den Nachbarn, zwischen 1980 und 1982 durch den Stiefvater geschehen. An der Glaubhaftigkeit dieser Schilderungen hat das Gericht wie auch der Zeuge Dr. RT. und die Sachverständige Dr. GQ. keine Zweifel. Das Gericht teilt die Einwände des Beklagten nicht, dass das Gutachten nicht den Anforderungen an ein Glaubhaftigkeitsgutachten genüge. Die Sachverständige hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 14.09.2007 dazu ausdrücklich geschildert, dass multiple ähnliche Ereignisse eine besondere Schwierigkeit bei der Beurteilung mit sich bringen. In der wissenschaftlichen Literatur wird daher nahegelegt, nur das Ereignis des jeweiligen Lebensabschnittes zu explorieren, das mit der höchsten subjektiven Belastung verbunden sei. Diese Vorgehensweise hält das Gericht vor dem oben geschilderten Umstand, dass eine Exploration aller Taten unmöglich ist, für ausgesprochen plausibel. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin kann durch dieses Vorgehen jedenfalls nicht in begründete Zweifel gezogen werden. Die Sachverständige legt zudem überzeugend dar, warum sie auf eine explizite Formulierung der Nullhypothese und eine aussagepsychologische Zusatzbegutachtung verzichtet hat. Die Sachverständige weist insbesondere darauf hin, dass eine aussagepsychologische Untersuchung im Falle einer Aussage eines erwachsenen Zeugen zu kindlichen Traumatisierungen auf keinerlei empirisch gesicherte Datenbasis hinsichtlich der Unterscheidung zwischen auto- oder fremdsuggerierten und erlebnisbasierten Erinnerungen zurückgreifen kann und daher wissenschaftlich nicht sinnvoll sei. Das Gericht hält die Vorgehensweise für sehr plausibel, vor allem vor dem Hintergrund, dass das gesamte Aktenmaterial keine Anhaltspunkte für Inkonsistenzen in den Aussagen der Klägerin liefert.

Die Klägerin schildert ein in die Gesamtumstände der Lebenssituation passendes und konsistentes Bild, das keinerlei Aggravations- oder Simulationstendenzen aufweist. Für die Glaubhaftigkeit der Klägerin spricht zudem, dass Wunsch- und Zweckreaktionen bereits deshalb ausgeschlossen werden können, weil eine schwerwiegende Symptomatik im Sinne von psychischer Erkrankung und Suizidversuchen bereits deutlich vor dem Antrag auf Opferentschädigung vorlagen. Der Detailreichtum der Schilderungen ist beeindruckend. Die Klägerin erinnert sich sogar daran, dass sie bei einer Vergewaltigung durch den Stiefvater im Zimmer ihrer kleinen Schwester eine türkisfarbene Hose und ein gelbes Nikkishirt, aber keine Socken und Schuhe getragen habe. Die Klägerin schilderte dem Gericht zudem auch in der mündlichen Verhandlung eindrücklich die Tatumstände, indem sie die Aussage von Dr. RT., befragt zu den Tätern und Tatorten, jeweils unterbrach, um die Angaben zu präzisieren und zu ergänzen. Die Aussage "Es gab im Leben meiner Mutter keinen Mann, der nicht geprügelt oder vergewaltigt hat" spricht insoweit für sich.

Ein weiteres gewichtiges Indiz dafür, dass die Klägerin in der Kindheit Vergewaltigungen erlitten hat, sind die in den Briefen zu findenden Splash’s (-). Der Versorgungsarzt des Beklagten, MD NK. erläutert, dass diese anstelle bestimmter Buchstaben gesetzt würden, um die Worte für die Betroffenen unkenntlich zu machen und so zu verhindern, dass sie als Trigger zu Intrusionen oder flash-backs führen. Anhand der Worte, die mit solchen Splash’s versehen sind, kann also auf Trigger rückgeschlossen werden. Diese Worte sind u. a. "Prügel", "verprügelt", "schlagen", "Mutter", aber auch gerade das Wort "vergewaltigt".

Die sexuellen und gewaltsamen Übergriffe in der Kindheit der Klägerin sind auch als Ursache der seit Antragstellung festzustellenden gesundheitlichen Störungen anzusehen. Im Sinne des Urteils des BSG vom 18.10.1995 (SozR 3-3800 § 1 Nr. 4 = BSGE 77, 1) legt das Gericht zunächst zugrunde, dass in der medizinischen Wissenschaft weit überwiegend davon ausgegangen wird, dass sexuelle Missbräuche in der Kindheit zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen können bzw. dass ein Ursachenzusammenhang anzunehmen ist, weil nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs dieser Erkrankung nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht ist.

Dies ergibt sich zum einen aus den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1996" (AHP 1996), ebenso wie nach den 2004 und 2008 herausgegebenen Neufassungen. So kommen nach Nr. 71 durch psychische Traumen bedingte Störungen nach lang andauernden psychischen Belastungen in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Nach Nr. 71 Abs. 3 können insbesondere auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter wie sexueller Missbrauch oder häufige Misshandlungen nach Art und Intensität sehr unterschiedlich sein. Sie können zu Neurosen wie zu vorübergehenden oder chronifizierten Reaktionen führen. Störungen im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung und auch diagnostisch anders einzuordnende Störungen können auch nach einer Latenzzeit auftreten. Zwar tritt nach den AHP eine Störung nach einer Latenzzeit nur "gelegentlich" auf, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass in solchen Fällen der Wahrscheinlichkeitszusammenhang besonders genau zu prüfen ist (vgl. BSG vom 18.10.1995, SozR 3-3800 § 1 Nr. 4). Ein Hinweis, dass es sich bei den hier fraglichen Störungen um Auswirkungen auch nach einem längeren Zeitintervall handeln kann, ergibt sich allerdings schon daraus, dass die AHP insoweit auf Traumen "im Kindesalter" (Nr. 71 Abs. 3) bzw. "in früher Kindheit" (Nr. 70) abstellen. Es ist jedenfalls zu beachten, dass Tatsachen vorliegen, die nach den AHP grundsätzlich geeignet sind, einen Ursachenzusammenhang zu begründen und so eine bestärkte Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, die nur durch einen sicheren anderen Kausalverlauf widerlegt werden könnte (vgl. BSG vom 12.6.2003, SozR 4-3800 § 1 Nr. 3).

Zum anderen ergibt sich ein solcher Ursachenzusammenhang im konkreten Fall auch aus dem vorliegenden Gutachten von Frau Dr. GQ. sowie den Berichten und der Aussage des Zeugen Dr. RT ... Das Gericht folgt insbesondere dem Gutachten der Sachverständigen, da sich dieses durch ausgesprochen kritische Hinterfragung des Krankheitsbildes und der Ursachen, sowie durch ausführliche Testung und Befragung der Klägerin auszeichnet, gleichwohl jedoch zu dem eindeutigen Ergebnis des positiven Zusammenhangs kommt. Der Hinweis des Beklagten, der Zusammenhang könne nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, da auch andere Ursachen nicht ausgeschlossen werden könnten, trägt nicht. Das Gericht erachtet die Einschätzung von Dr. XY. in seiner aktenmäßigen Stellungnahme vom 07.11.2002, das schwerwiegende und komplexe Krankheitsbild könne "am ehesten multifaktoriell im Sinne einer Anlagestörung, , Milieuschädigung und evtl. Kombination mit einer frühkindlichen Hirnschädigung" verstanden werden nach den Darlegungen der Sachverständigen Dr. GQ. sowie von Dr. RT. und aufgrund eigener Nachforschungen für hypothetisch. Das Gericht ist mit der Sachverständigen und dem Zeugen Dr. RT. sowie aufgrund eigener Recherchen zu dem Ergebnis gelangt, dass bei einer Prozentzahl von 90% und mehr der Betroffenen ein frühkindlicher Traumatisierungshintergrund besteht. Zwar ist dem Beklagten zuzugeben, dass daraus nicht zweifelsfrei auf einen zwingenden Zusammenhang zwischen einer dissoziativen Identitätsstörung und frühkindlicher sexueller und körperlicher Gewalt geschlossen werden kann. Allein die Diagnose bedeutet jedoch nach dem wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisstand ein gewichtiges Indiz für frühkindliche Traumatisierungen, das es zu widerlegen gilt. Hingegen sind anlagebedingte Ursachen und auch Hirnschädigungen als Ursachen für derartige Erkrankungen wissenschaftlich nicht diskutiert. Die katastrophalen Lebensumstände der Klägerin als "ungünstig" bzw. "Milieuschädigung" herabzuwürdigen empfindet das Gericht als mehr als unangemessen.

Das Gericht erkennt im vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte, die an dem bereits durch das Erkrankungsbild naheliegenden Zusammenhang zwischen den kindlichen Traumatisierungen und der dissoziativen Identitätsstörung zweifeln lassen. Das Gericht verdeutlicht an dieser Stelle nochmals, dass es die schwere, über Jahre wiederholte und häufige körperliche Gewaltanwendung als im Vollbeweis gesichert ansieht. Das Gericht folgt der Sachverständigen diesbezüglich in der Einschätzung, dass bereits diese nachgewiesenen Traumatisierungen als Ursache für die entwickelte dissoziative Identitätsstörung gelten können. Mit der Sachverständigen und Dr. RT. ist das Gericht jedoch auch der Überzeugung, dass der Erkrankung der Klägerin sexuelle Misshandlungen von erheblicher Schwere zugrunde liegen. Dr. RT. hat in der mündlichen Verhandlung die Erklärungen der Sachverständigen bestätigt und eindrücklich erklärt, dass das Krankheitsbild der Klägerin mit schweren, häufigen, wiederholten und vor allem sehr frühen Traumata zu erklären ist. Der Hinweis des Beklagten, die Erkrankung sei durch die vermehrten Schicksalsschläge in den 90er-Jahren sowie auch die Vergewaltigung 2003 zu erklären, überzeugt nicht, insbesondere, weil die Dissoziation ein Phänomen ist, das ein kindliches Gehirn entwickelt. Darüber hinaus legt die Sachverständige dar, dass allein Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen mit Vernachlässigungshintergrund keinesfalls ausreichen, um ein derart schweres Krankheitsbild hervorzubringen.

Von dem Beklagten und auch vereinzelt in der medizinischen Wissenschaft werden iatrogene Einflüsse als Ursache für eine dissoziative Identitätsstörung ins Feld geführt. Der von Dr. XY. im Widerspruchsverfahren vorgetragene Einwand, die dissoziative Identitätsstörung könne auch Resultat von spezifischen Therapieansätzen sein, insbesondere bei histrionischen Persönlichkeitsstörungen wird in seiner Grundsätzlichkeit vom Zeugen Dr. RT. in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Auch der Zeuge Dr. RT. hat dem Gericht geschildert, dass es die theoretische Möglichkeit gibt, einzelne Erinnerungen mit speziellen Therapiemethoden und Praktiken wie z.B. Hypnose zu suggerieren. Die Suggestion einer multiplen Persönlichkeit mit allen Innenpersonen und deren vielschichtigen Erlebnissen schließt der Zeuge jedoch aus. Dieses Krankheitsbild bilde so bizarre Vorstellungen aus, dass es für einen normalen Menschen oder Therapeuten schlichtweg unmöglich sei, sich dies alles auszudenken und zu suggerieren. Auch dem Gericht erscheint es fernliegend, dass sich ein derart komplexes und für Dritte aufgrund der Vielzahl der beteiligten Innenpersonen kaum überschaubares Krankheitsbild durch Suggestion von außen gezielt entwickeln, fördern und mit der vorliegenden Konstanz aufrecht erhalten lässt. Darüber hinaus gibt es bei der Klägerin keinerlei Hinweise auf histrionische Persönlichkeitsanteile. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere auch dem Umstand Bedeutung zu, dass die Klägerin bei der erwähnten Untersuchung eher ein dissimulierendes als ein aggravierendes Verhalten gezeigt hat, indem ihre Darstellung eher als zurückgenommen und schambesetzt erschien. Da es zudem im gesamten Verfahren keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass in Therapiesituationen auf die Klägerin mit derartigen Therapieansätzen eingewirkt worden ist, hält das Gericht eine iatrogene Ursache für die Entstehung des Krankheitsbildes der Klägerin und ihre Erinnerung an die Missbrauchserfahrungen der Kindheit für extrem unwahrscheinlich, nahezu ausgeschlossen. Damit sind derartige Erklärungsversuche für die Ursachenzusammenhänge im vorliegenden Fall in keiner Weise geeignet, den aus der Gesamtschau des Lebensweges und der Lebensumstände der Klägerin naheliegenden, wahrscheinlichen und nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen frühkindlichen, wiederholten und schweren Missbrauchserfahrungen und der dissoziativen Identitätsstörung zu widerlegen.

Es ist für das Gericht schließlich nachvollziehbar, dass gerade bei Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung sogenannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann. Die späte Erinnerung im Rahmen von Trigger- oder Therapiesituationen ist für das Krankheitsbild typisch. Die Verdrängung in speziellen Speichern durch Abspaltung vom Alltagsbewusstsein dient den Betroffenen zur Sicherung der Überlebensfähigkeit und ist eine spezifische Schutzfunktion des Gehirns. Dass die Erinnerungen der Klägerin also erst Jahrzehnte nach der Traumatisierung zurückkehrten, ist Teil des Krankheitsbildes und kann deshalb wiederum nicht zu Lasten Klägerin verwertet werden. Das Gericht teilt die Einschätzung von Dr. RT., der im Termin zur mündlichen Verhandlung eindrücklich erklärt hat, warum die Wiedererinnerung erst so spät erfolgt. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass Kinder, die derartige Traumen erleben, mit Bedrohungen und Verboten konfrontiert werden, die ihnen "wie ein Chip" ins Gehirn eingepflanzt werden, um die Täter nicht zu enttarnen. Dass im Falle der Klägerin mit derartigen Verboten und Bedrohungen "gearbeitet" wurde, ergibt sich aus ihren Briefen und Schilderungen in Untersuchungssituationen. Sätze wie "Nur schwache Mädchen weinen", "Du dachtest wohl, Du bist mich los?" oder "Kinder dürfen nicht reden, weil alles Lüge ist" bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Die Klägerin schildert selbst Jahre später noch die Angst, die Mutter habe überall ihre Spitzel und bekomme sowieso alles heraus. Es gäbe nirgendwo Sicherheit.

Des weiteren beschreibt Dr. RT. auch das Phänomen der sogenannten täterassoziierten Personen, die die dunklen Anteile der Persönlichkeit darstellen und die Angst haben, die Täter zu enttarnen und deshalb die Wiedererinnerung erschweren. Dass auch dieses Phänomen bei der Klägerin eine Rolle spielt, dokumentiert der Brief der Innenperson S.

Hinsichtlich der Taubheit rechts fehlt es dem Gericht an Anknüpfungspunkten, die den Zusammenhang zwischen einer Missbrauchshandlung und der Hörschädigung als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen würden. Zwar hat die Klägerin glaubhaft ein Ereignis geschildert, bei dem es zu einer derartigen Schädigung hätte kommen können. Dass die erst im Jahr 2002 dokumentierte Diagnose der Taubheit jedoch auf diesem Ereignis beruht, konnte nicht anhand von ärztlichen Berichten manifestiert werden.

Hinsichtlich der Höhe der schädigungsbedingten MdE schließt sich das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen Dr. GQ. an, die die MdE mit 70 v. H. einschätzt. Der Einschätzung zugrunde zu legen sind die AHP, die in Ziffer 26.3 (S. 48) für Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen folgenden Bewertungsrahmen vorsehen:

Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen 0-20

Stärker behindernde Störungen Mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungs- Fähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) 30-40

Schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50-70
mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80-100

Unter Zugrundelegung dieses Bewertungsrahmens ist die Einschätzung der Sachverständigen nicht zu beanstanden, da die Persönlichkeitsstörungen als schwer einzustufen sind. Da die Klägerin jedoch noch in der Lage ist, in einer eigenen Wohnung zu leben und sich auch weitgehend selbst versorgt, ist die Schwelle zu schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten noch nicht als überschritten anzusehen.

Das Gericht folgt der Sachverständigen auch in der Bewertung der Vergewaltigung aus dem Jahr 2003, die zwar eine zwischenzeitliche Retraumatisierung bedeutete, deren Folgen jedoch in der Gesamt-MdE von 70 v. H. für die dissoziative Identitätsstörung als miterfasst gelten können.

Der Klägerin steht aufgrund ihres beruflichen Betroffenseins auch eine Erhöhung der MdE auf 80 v. H. zu. Die Klägerin kann aufgrund ihrer Krankheit weder den erlernten Beruf als Einzelhandelsverkäuferin noch den angestrebten Beruf der Erzieherin ausüben. Auch bei dieser Einschätzung folgt das Gericht der Sachverständigen Dr. GQ ...

Obwohl die schädigenden Handlungen zum Teil eingetreten sind, bevor das OEG im Jahre 1976 in Kraft getreten ist, scheitert der Versorgungsanspruch der Klägerin nicht an der Regelung der §§ 10,10a OEG. Danach kann ein solcher Anspruch dann entstehen, wenn die Schädigung zu einer MdE von mindestens 50 v. H. führt; dies ist nach dem vorher Gesagten der Fall.

Nach § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 BVG beginnt der Entschädigungsanspruch mit dem Monat der Antragstellung, vorliegend also im Juli 2001.

Nach allem war der Klage weit überwiegend stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Die Nichtanerkennung der Taubheit rechts als Schädigungsfolge ist im Hinblick auf die Kostenfolge im vorliegenden Verfahren von absolut untergeordneter Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
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