S 123 AS 38416/08 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
123
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 123 AS 38416/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1) bis 4) sowie 6) und 7) vorläufig ab dem 08. Dezember 2008 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Rechtsstreit in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2009, monatlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 770,60 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Den Antragstellern wird mit Wirkung ab dem 09. Dezember 2008 für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt R F, ... B, gewährt. Der Antragsgegner hat den Antragstellern zu 1) bis 4) sowie 6) und 7) ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

Der am 08. Dezember 2008 beim Sozialgericht eingegangene Antrag der Antragsteller mit dem Begehren,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 86b SGG zu verpflichten,

1. ihnen Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II in Höhe von 1.002,90 EUR für die Zeit ab 01.12.2008 zu bewilligen,

2. ihnen für den Monat Dezember 2008 den zu Unrecht nicht bezahlten Mietanteil von 312,90 EUR nachzuzahlen,

ist zulässig und zum Teil auch begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsnordung). Die Antragsteller begehren hier den Erlass einer solchen Regelungsanordnung.

Voraussetzung für den Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist mithin das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes, wobei der Anordnungsanspruch den materiellen Anspruch auf die Regelung an sich beinhaltet und der Anordnungsgrund ein besonderes Eilbedürfnis, also die Dringlichkeit der begehrten Regelung für den Antragsteller voraussetzt. Die tatsächlichen Voraussetzungen für den Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind durch den Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz -SGG- i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-). Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass durch eine einstweilige Anordnung grundsätzlich keine endgültige Entscheidung vorweggenommen werden darf.

Im Rahmen der einstweiligen Anordnung dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden (Bundesverfassungsgericht -BVerfG- NVwZ-RR 1999, S. 217, 218; BVerfG, Beschluss v. 12.05.2005, 1 BvR 1586/02, zitiert nach juris).

Unter Beachtung dieser Grundsätze kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang dargelegt und glaubhaft gemacht worden sind.

Hinsichtlich der Antragstellerin zu 5) konnte die Kammer weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch feststellen. Sie erzielt Erwerbseinkommen aus einer unselbständigen Tätigkeit. Laut eingereichter Verdienstbescheinigung hatte sie im Dezember 2008 ein Nettoeinkommen von 650,84 EUR (brutto: 789,95 EUR). In den beiden vorausgehenden Monaten war das Einkommen deutlich höher. Aus diesem Erwerbseinkommen ist ausgehend von einem Gesamtfreibetrag von 237,99 EUR (Grundfreibetrag gem. § 11 Abs. 2 S. 2 SGB II von 100 EUR plus Freibetrag gem. § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i. V. m. § 30 SGB II von 137,99 EUR) der Betrag von 412,85 EUR anrechenbares Einkommen nach § 11 SGB II. Demgegenüber steht ein Gesamtbedarf der Antragstellerin zu 5) in Höhe von 409,43 EUR, wobei 281 EUR als Regelleistung gem. § 20 Abs. 2 S. 2 SGB II und 128,43 EUR (1/7 von 899,93 EUR als angemessene Unterkunftskosten, vgl. sogleich) als anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 SGB II anzusetzen sind. Da somit ihr anrechenbares Einkommen ihren Gesamtbedarf überschreitet, ist sie nicht hilfebedürftig gem. § 9 SGB II, so dass sie nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II auch nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ihrer übrigen Familienangehörigen ist. Selbst wenn der Antragstellerin zu 5) ein geringer Anspruch auf Arbeitslosengeld II zustehen sollte, kann sie im Hinblick auf ihre Lohneinkünfte auf den Rechtsschutz in der Hauptsache verwiesen werden. Ein Anordnungsgrund besteht daher nicht.

Der erforderliche Anordnungsgrund für die getroffene Regelungsanordnung ist gegeben. Es ist den übrigen Antragstellern nicht zumutbar, die ihnen zur Sicherung des Lebensunterhalts gezahlte Regelleistung bzw. das Sozialgeld zur Deckung der nicht übernommenen Unterkunftskosten einzusetzen. Ansonsten wäre das gesetzlich garantierte Existenzminimum auf absehbare Zeit nicht sichergestellt. Auch erscheint es nicht zumutbar, vor Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes erst eine (außerordentliche) Kündigung des Vermieters nach Entstehung von erheblichen Mietrückständen abwarten zu müssen.

Ein Eilbedürfnis besteht dagegen nicht, soweit höhere Leistungen für die Zeit vor dem Antragseingang bei Gericht begehrt werden, also für den Zeitraum 01.12.2008 bis 07.12.2008. Insoweit ist der Anordnungsgrund bereits aufgrund des Bezugs zur Vergangenheit zu verneinen. Denn insoweit gilt der Grundsatz, dass vorläufiger Rechtsschutz für vergangene Zeiträume grundsätzlich nicht zu gewähren ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Aufl., § 86b Rn. 28 a. E.). Irgendwelche durch ein Hauptsacheverfahren nicht mehr vermeidbare wesentliche Nachteile haben die Antragsteller weder dargelegt noch sind sie sonst ersichtlich.

Der Anordnungsanspruch für die getroffene Regelung folgt aus § 22 Absatz 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Dies ist hier der Fall, soweit für die Antragsteller mit Ausnahme der Antragstellerin zu 5) die Gewährung von Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) in Höhe von 770,60 EUR monatlich begehrt wird.

Die von den sieben Antragstellern bewohnte Wohnung ist mit einer Bruttowarmmiete von monatlich 1.002,90 EUR nicht mehr angemessen.

Die Ermittlung der angemessenen Kosten erfolgt mittels der so genannten "Produkttheorie" (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 7. November 2006, -B 7b AS 18/06 R-). Dabei ist zunächst die maßgebliche Größe der Unterkunft zu bestimmen, und zwar typisierend (mit der Möglichkeit von Ausnahmen) anhand der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus. In Berlin ist nach diesen Bestimmungen für sieben Personen grundsätzlich eine 7-Zimmerwohnung angemessen, vgl. insoweit die zur Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz (WoBindG) i.V.m. § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz (WoFG) erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 (Mitteilung Nr. 8/2004), und zwar mit einer Größe bis zu 121 qm, vgl. insoweit die im Land Berlin maßgeblichen Richtlinien für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau (Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 – WFB 1990) vom 16. Juli 1990 (Amtsblatt 1990, S. 1379 ff) in der Fassung der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 (VVÄndWFB 1990; Amtsblatt 1993, S. 98f.).

Für die weitere Feststellung des angemessenen Unterkunftsbedarfs sind die Kosten für eine Wohnung, "die nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist" (BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 18/06 R), zu ermitteln. Maßgeblich ist dabei das Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard, welches sich in der Wohnungsmiete niederschlägt (sog. Produkttheorie). Die Kammer legt insoweit die sich aus der Berliner Mietspiegeltabelle 2007 (Amtsblatt Nr. 30 vom 11. Juli 2007, S. 1797) ergebenden durchschnittlichen Mittelwerte für einfache Wohnlagen und Ausstattungen für Neu- und Altbauten zu Grunde. Danach errechnet sich für Wohnungen in einfacher Wohnlage über 90 qm Größe mit Sammelheizung, Bad und Innen-WC eine durchschnittliche Nettokaltmiete von 4,79 EUR je Quadratmeter. Es ergibt sich somit eine monatliche angemessene Nettokaltmiete von 579,59 EUR (= 121 qm x 4,79 EUR/qm).

Hierzu sind die durchschnittlichen kalten Betriebskosten zu ermitteln. Unter Zugrundelegung der vom Deutschen Mieterbund (DMB) mit dem "Betriebskostenspiegel 2007" veröffentlichten Angaben (www.mieterbund.de) ergeben sich bei Nichtberücksichtigung der für Heizung und Warmwasser angegebenen Kosten durchschnittliche Betriebskosten in Höhe von 1,79 EUR/qm (inklusive Abgaben und Steuern). Die angemessenen kalten Betriebskosten für eine Wohnung von 121 qm betragen 216,59 EUR (= 121 qm x 1,79 EUR/qm) pro Monat. Anschließend sind die von dem Antragsgegner nach § 22 SGB II zu übernehmenden Heizkosten zu ermitteln. Nach dem Betriebskostenspiegel des DMB sind diese mit 0,85 EUR/qm anzusetzen, so dass daraus für eine Wohnungsgröße von 121 Quadratmetern ein Betrag von 102,85 EUR monatlich resultiert. Zusammengerechnet ergibt dies bei einer Wohnungsgröße von 121 Quadratmetern eine angemessene monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von insgesamt 899,03 EUR (= 579,59 EUR + 216,59 EUR + 102,85 EUR). Unter Abzug des auf die nicht hilfebedürftige Antragstellerin zu 5) entfallenden Anteils von 128,43 EUR (=1/7 von 899,03 EUR) ergibt das den hier zugesprochenen Betrag von 770,60 EUR.

Diese angemessenen KdU werden vorliegend mit der innegehabten Wohnung, für die Kosten von 1.002,90 EUR anfallen, überschritten. Dennoch steht den Antragstellern zumindest ein Anspruch auf Übernahme des angemessenen Teils ihrer Wohnungskosten zu. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, wonach die Aufwendungen zu übernehmen sind, "soweit" sie angemessen sind (vgl. BSG, Urteil v. 07.11.2006, B 7b AS 10/06 R Rz. 25, zitiert nach juris).

Zwar übersteigen die hier angesetzten 899,03 EUR die Vorgaben der Nr. 4 Abs. 2 der "Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II" der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales vom 07. Juni 2005 (AV Wohnen; Amtsblatt 2005, S. 3743), wonach für einen Haushalt von sieben Personen regelmäßig nur eine Bruttowarmmiete von 805 EUR als angemessen gilt. Auf die AV Wohnen kann aber zur Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft nicht zurückgegriffen werden, weil sie als bloße Verwaltungsvorschriften das Gericht nicht binden können (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 25. Juni 2007, L 10 B 854/07 AS ER, www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Ein Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen KdU steht den Antragstellern aber ebenfalls nicht zu. Nach Ablauf einer sechsmonatigen Übergangsfrist besteht in der Regel gem. § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II kein Anspruch auf Übernahme von kostenunangemessenen KdU. Hier hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 08.05.2008 auf die unangemessenen hohen KdU hingewiesen und den Antragstellern eine sechsmonatige Frist zur Kostensenkung gesetzt. Gründe, die für die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Kostensenkung sprechen, sind nicht glaubhaft dargelegt. Allein der Schulbesuch von minderjährigen Kindern und der im Umzugsfall mögliche Abbruch von Schulfreundschaften oder ein längerer Schulweg vermögen die Unzumutbarkeit der Kostensenkung nicht zu begründen.

Die Kammer hat auch dem Antragsteller zu 7) im Rahmen dieses Beschlusses einen Anspruch auf höhere KdU vorläufig zugesprochen und ihn im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft insoweit berücksichtigt. Der Antragsgegner hat nicht glaubhaft machen können, dass er tatsächlich nicht mehr bei seiner Familie wohnt und somit bei der Berechnung der angemessenen KdU außer Betracht zu bleiben hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Der Beschluss über die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist für die Beteiligten unanfechtbar (§§ 73a Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-, 127 Abs. 2 der Zivilprozessordnung -ZPO-). Die Staatskasse kann gegen die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Beschwerde einlegen, wenn weder Monatsraten noch aus dem Vermögen zu zahlende Beträge festgesetzt worden sind (§ 127 Abs. 3 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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