L 10/1 Ar 1000/79

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 16 Ar 566/78
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 10/1 Ar 1000/79
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Im besonders gelagerten Einzelfall kann auch der Zuzug einer Mutter zum Vater ihres Kindes, um dessen gemeinsame Betreuung zu ermöglichen, ein wichtiger Grund für die Arbeitsplatzaufgabe im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG sein. Dies gilt im Hinblick auf den Verfassungsrang des Erziehungsrechts der Eltern nach Art. 6 Abs. 2 GG auch dann, wenn sie unverheiratet zusammenleben.
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 21. Mai 1979 und der Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1978 aufgehoben.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Klägerin eine Sperrzeit gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) eingetreten ist.

Die 1946 geborene Klägerin ist geschieden und von Beruf Diplom-Psychologin. In diesem Beruf war sie zuletzt vom 1. Februar 1974 bis 26. April 1978 bei der in beschäftigt. Nachdem sie schwanger geworden war, kündigte sie ihr Arbeitsverhältnis am 2. November 1977 zum Ende der Mutterschutzfrist am 26. April 1978. Der Vater des Kindes, mit dem sie in K. zusammenlebte, fand im August 1977 in O. eine Arbeitsstelle und zog nach F. um. Die Klägerin, die nicht beabsichtigte, den Vater des Kindes zu heiraten, folgte ihm mit dem am 1. März 1978 geborenen Kind Oliver nach F. nach. Sie meldete sich am 26. April 1978 zum 27. April 1978 beim Arbeitsamt F. arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld, das ihr zunächst mit Bewilligungsbescheid vom 15. Juni 1978 vorläufig vom 25. Mai 1978 an bewilligt wurde.

Mit Bescheid vom 13. Juli 1978 stellte die Beklagte bei der Klägerin den Eintritt einer Sperrzeit von vier Wochen in der Zeit vom 27. April 1978 bis 24. Mai 1978 nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG fest, weil sie ihr Arbeitsverhältnis bei der Firma ohne eignen wichtigen Grund selbst gekündigt habe.

Auf den Widerspruch der Klägerin stellte die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 1978 fest, daß die Sperrzeit gem. § 119 Abs. 2 AFG nur zwei Wochen umfaßt und wies den Widerspruch im übrigen als unbegründet zurück.

Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin mit Schriftsatz vom 11. November 1978 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main Klage. Sie machte geltend, sie habe einen wichtigen Grund zur Auflösung ihres Arbeitsverhältnisses gehabt, weil eine sachgerechte Kindererziehung nur durch beide Elternteile gemeinsam möglich sei. Pflege und Erziehung minderjähriger Kinder sei ein besonders geschütztes Rechtsgut, dem gegenüber das Interesse der Versichertengemeinschaft an der Vermeidung von Arbeitslosigkeit in gewissen Grenzen zurückstehen müsse.

Die Beklagte vertrat die Auffassung, die von der Klägerin gegebene Begründung für die Lösung ihres Beschäftigungsverhältnisses stelle keinen wichtigen Grund im Sinne des Gesetzes dar, sei jedoch Anlaß für eine mildere Beurteilung, die in der Herabsetzung der Sperrzeit auf zwei Wochen ihren Ausdruck gefunden habe.

Das Sozialgericht Frankfurt am Main wies mit Urteil vom 21. Mai 1979 die Klage ab und ließ die Berufung zu. Zur Begründung führte es aus, der Klägerin sei zu Recht ein Teil der arbeitslosenversicherungsrechtlichen Nachteile aufgebürdet worden, die durch ihre Kündigung entstanden seien. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG stehe der Klägerin für die Arbeitsplatzaufgabe nicht zur Seite. Bei einem Umzug und einer Kündigung, die Monate im voraus geplant würden, liege die Verantwortung für einen Anschlußarbeitsplatz bei der Klägerin.

Gegen dieses ihr am 23. August 1979 zugestellte Urteil richtet sich die am 5. September 1979 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung der Klägerin. Die Klägerin macht geltend, sie habe weder die Arbeitslosigkeit grob fahrlässig herbeigeführt, noch ihr Arbeitsverhältnis bei der in ohne einen wichtigen Grund beendet. Sie betrachte die Herstellung der Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind als einen wichtigen Grund zur Arbeitsaufgabe. Denn ohne einen Umzug von K. nach F. sei die Herstellung der im Interesse des Kindes gebotenen familienähnlichen Gemeinschaft nicht möglich gewesen. Nach neuen sozialpsychologischen Erkenntnissen sei es für die Entwicklung von Kleinkindern wesentlich, daß diese nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Vater mitbetreut würden.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 21. Mai 1979 und den Bescheid der Beklagten vom 13. Juli 1978 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 16. Oktober 1978 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte macht geltend, ein wichtiger Grund für die Aufgabe des Arbeitsplatzes habe der Klägerin nicht zur Seite gestanden. Auch unter dem Gesichtspunkt, daß die gemeinsame Erziehung durch Vater und Mutter für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung sei, hätten die Interessen der Klägerin an der Arbeitsplatzaufgabe kein größeres Gewicht als das der Versichertengemeinschaft an der Vermeidung vor Arbeitslosigkeit gehabt. Es hätte vielmehr im Hinblick auf die bekanntermaßen schlechte Arbeitsmarktsituation für Diplom-Psychologen nahegelegen, den Vater des Kindes zu bewegen, wieder nach K. zurückzukehren, anstatt die gut entlohnte Arbeitsstelle ohne jede Aussicht auf einen neuen Arbeitsplatz aufzugeben. Der Umzug zur Begründung eines gemeinsamen Haushaltes mit dem Vater ihres Kindes genieße nicht den Schutz des Artikels 6 Grundgesetz (GG), da sie weder verheiratet sei, noch beabsichtige, eine Ehe mit ihm einzugehen. Da das gemeinsame Kind auch im Falle der Berufstätigkeit beider Elternteile genauso wenig optimal im Sinne der modernen sozialpsychologischen Erkenntnisse aufwachsen könne wie bei nur einem Elternteil, liege auch unter diesem Aspekt ein wichtiger Grund im Sinne des § 119 AFG nicht vor. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im übrigen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf den gesamten Inhalt der Gerichtsakten und der Leistungsakte der Beklagten – Stamm-Nr. XXXX – Bezug genommen, die beigezogen war.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist form- und fristgerecht eingelegt und durch Zulassung statthaft (§§ 150 Nr. 1, 151 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).

In der Sache ist die Berufung begründet. Der Bescheid vom 13. Juli 1978 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Oktober 1978, mit dem die Beklagte gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AFG den Eintritt einer Sperrzeit bei der Klägerin feststellte, kann rechtlich keinen Bestand haben.

Nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG tritt eine Sperrzeit von vier Wochen ein, wenn der Arbeitslose das Arbeitsverhältnis gelöst hat und dadurch vorsätzlich oder probfährlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat, ohne für sein Verhalten einen wichtigen Grund zu haben, wobei gem. § 119 Abs. 2 AFG die Sperrzeit 2 Wochen dann umfaßt, wenn eine Sperrzeit von 4 Wochen für den Arbeitslosen nach den für den Eintritt der Sperrzeit maßgeblichen Tatsachen eine besondere Härte bedeuten würde. Es kann dahinstehen, ob, die Klägerin, insofern die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG erfüllte, als sie am 2. November 1977 ihr Arbeitsverhältnis mit der in zum 26. April 1978 selbst gelöst hat, insbesondere, ob sie dadurch zumindest grobfährlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. Nach ihren Angaben bei ihrer Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 1980 hatte sie sich zwar bereits vor ihrer Entbindung telefonisch an das Arbeitsamt Frankfurt am Main gewandt und es war ihr von dem Sachbearbeiter die Auskunft gegeben worden, es reiche aus, wenn sie sich am Tage der Arbeitslosigkeit melde. Andererseits waren ihr aber keine konkreten Aussichten bekannt, im Raum F. einen Anschlußarbeitsplatz zu finden. Die bloße Annahme eines Arbeitslosen, aufgrund seiner Qualifikationen auf ein entsprechen des Arbeitsangebot zurückgreifen zu können, reicht im allgemeinen nicht aus, um den Schuldvorwurf, der sich nur auf die Verursachung der Arbeitslosigkeit bezieht, ausschließen zu können (vgl. BSG in SozR 4100 § 119 Nr. 2 AFG).

Einer näheren Abklärung der Frage, ob und ggf. in welchem Maße die Klägerin ihre Arbeitslosigkeit verschuldete, bedurfte es nicht, weil ihr für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses ein wichtiger Grund im Sinne des Gesetzes zur Seite stand. Der unbestimmte Rechtsbegriff des wichtigen Grundes ist nach der Rechtsprechung des BSG dann gegeben, wenn Umstände vorliegen, die nach verständigem Ermessen dem Arbeitslosen, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar erscheinen lassen, weil sonst das Interesse des Kündigenden in unbilliger Weise geschädigt würde (BSG, 21, 205, 206; BSG in SozR 4100 § 119 Nr. 2). Nach den Materialien des Gesetzes soll eine Sperrzeit nur dann eintreten, wenn dem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung seiner Interessen und der Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden kann (vgl. Bundestagsdrucksache V/4110, Ausschußbericht S. 21, Vorbemerkung zu § 108 a des Entwurfes zum AFG). Im Falle der Klägerin kann zwar nach herrschender Meinung der Zuzug zu einem Partner allein nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG angesehen werden, weil nur der Schutz von Ehe und Familie Verfassungsrang im Sinne des Artikels 6 Abs. 1 GG habe, während die gemeinschaftliche Lebensführung von Mann und Frau ohne rechtliche Bindung nicht den besonderen Schutz der Rechtsordnung genieße (vgl. hierzu BSG in SozR 4100 § 119 Nr. 2 s. auch Rüfner in SGb 1979, 589 ff). Auf diese Frage kam es jedoch im vorliegenden Fall nicht entscheidend an, weil die gebotene Interessenabwägung in bezug auf die von der Klägerin angestrebte gemeinsame Betreuung ihres am 1. März 1978 geborenen Sohnes Oliver zu ihren Gunsten ausfallen mußte. Nach den Gesamtumständen des Falles unterliegt es keinem Zweifel, daß für die Entwicklung eines Kleinkindes die Beziehung zu Vater und Mutter von prägender Bedeutung ist. Dies ergibt sich aus den von der Klägerin zitierten neueren sozialpsychologischen Forschungsergebnissen. Hinzu kommt, daß die Betreuung eines Kleinkindes im Regelfalle durch beide Eltern besser erfolgen kann, als dies durch eins alleinstehende Mutter möglich wäre. Der Senat verkennt dabei nicht, daß die von der Klägerin befürchteten nachteiligen Auswirkungen nicht schon bei einer kurzzeitigen Alleinerziehung durch einen Elternteil, sondern erst nach einer geraumen Zeit eintreten können. Unter diesem Gesichtspunkt wäre der Klägerin unter Umständen zuzumuten gewesen, sich um eine Verlängerung des alten Arbeitsverhältnisses zu bemühen, bis sie einen Anschlußarbeitsplatz im Raum F. gefunden hätte. Aus dem Verlauf der Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes Frankfurt am Main nach der Arbeitslosenmeldung der Klägerin ergibt sich jedoch, daß eine zeitnahe Vermittlung in ein neues Beschäftigungsverhältnis nicht möglich war. Im Einklang damit steht auch die von der Beklagten als schlecht bezeichnete Arbeitsmarktsituation für Diplom-Psychologen, die eine Aussicht auf eine baldige Vermittlung nicht zuließ. Unter Berücksichtigung der Interessen der Klägerin an einer gedeihlichen Entwicklung ihres Kindes muß auch bei voller Würdigung der Belange der Versichertengemeinschaft davon ausgegangen werden, daß ein wichtiger Grund im Sinne des Gesetzes für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben war. Das gilt um so mehr, als auch dem Erziehungsrecht der Eltern Verfassungsrang nach Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG) zukommt, was auch bei der nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG gebotenen Interessenabwägung zu beachten ist. Nach dieser Norm des Grundgesetzes sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Hierin liegt eine Wertentscheidung der Verfassung, die zwar primär zur Abwehr gegen unzulässige staatliche Eingriffe berechtigt, aber auch als Richtlinie für das staatliche Handeln im Bereich der Leistungsverwaltung zu beachten ist. Dabei umfaßt der Begriff "Eltern” insbesondere die natürliche Beziehung eines Kindes zu seinem Vater und seiner Mutter, ohne daß es auf die Ehelichkeit oder Nichtehelichkeit seiner Geburt ankommt (vgl. von Mangoldt-Klein Art. 6 Anm. IV 2 b). Die Beklagte kann sich demgegenüber nicht mit Erfolg darauf berufen, daß es näher gelegen hätte, den Vater des Kindes zur Rückkehr nach K. unter Aufgabe seines erst neu erlangten Arbeitsplatzes zu bewegen. Der damit möglicherweise verbundene Eingriff in höchstpersönliche Rechte und Pflichten der Eltern erscheint im Rahmen der nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG gebotenen Betrachtung nicht gerechtfertigt, so daß insoweit das Interesse der Versichertengemeinschaft zurücktreten muß. Bei dieser Abwägung kann es auch nicht entscheidend sein, daß die Betreuung des Kindes ohnehin durch die Berufstätigkeit beider Elternteile erschwert wird; denn insoweit weist die Klägerin zutreffend darauf hin, daß jedenfalls nach Feierabend, vor Arbeitsbeginn und an Wochenenden sich beide Elternteile mit dem Kind befassen können.

Die Beklagte hat zwar den Belangen der Klägerin schon insoweit Rechnung getragen, daß sie eine besondere Härte annahm und die Sperrzeit im Widerspruchsbescheid gemäß § 119 Abs. 2 AFG auf zwei Wochen herabsetzte. Dieser Bescheid kann aber nicht aufrechterhalten werden, da die Klägerin für ihr Verhalten einen wichtigen Grund hatte und somit der Tatbestand des § 119 Abs. 1 Nr. 1 AFG nicht erfüllte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird zugelassen, weil der Senat der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG beimißt.
Rechtskraft
Aus
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