L 6 U 1281/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 4440/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 1281/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts F. vom 6. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger zu gewährenden Pflegegeldes.

Der 1978 geborene Kläger erlitt am 14. Juli 2004 in seiner Tätigkeit als Gerüstbauer einen Arbeitsunfall. Er stürzte kopfüber aus der 2. Etage vom Gerüst und zog sich dabei u. a. eine Fraktur des 7. Halswirbelkörpers mit sensomotorischem Querschnitt zu. Der Kläger wurde zunächst in der Universitätsklinik F., nachfolgend in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T. bis zum 18. Februar 2005 behandelt. Beim Kläger besteht eine inkomplette Tetraplegie sub C-VII motorisch komplett sub C-VIII, sensibel komplett sub TH-III, eine Blasen- und Mastdarmlähmung, eine ausgeprägte Spastik und eine neuropathische Schmerzsymptomatik. Nach der Entlassung aus der stationären Behandlung zog der Kläger in eine eigene Wohnung in einer betreuten Seniorenwohnanlage. Er hält sich jedoch auch viel bei seinen Eltern auf. Er wird zum Großteil von seiner Mutter gepflegt.

Mit Schreiben vom 30. Mai 2005 machte der Kläger u. a. einen "Betreuungslohn" für seine Mutter geltend. Ferner wünschte er einen zusätzlichen Rollstuhl für den Sport, den er auch nach seiner Erkrankung weiterhin betreiben wolle. Bis zur Erlangung eines Führerscheins und eines Autos begehrte er zudem einen Elektrorollstuhl.

Mit Bescheid vom 25. August 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger Pflegegeld nach Kategorie I in Höhe von 90 % des Höchstbetrags von EUR 1.180,00, monatlich EUR 1.062,00. Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 31. August 2005. Er erklärte sich mit einem 10 %-igen Abzug nicht einverstanden. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Das Pflegegeld sei unter Berücksichtigung der Art und Schwere des Gesundheitsschadens sowie des Umfangs der erforderlichen Hilfe auf einen Monatsbetrag festzusetzen. Die Einschätzung erfolge nach den Anhaltspunkten für die Bemessung von Pflegegeld. Zunächst würden die Verletzungsfolgen in eine Kategorie eingestuft. Zur Kategorie I gehörten schwerste Beeinträchtigungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Kommunikation, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung. Darunter fielen in der Regel Versicherte mit schwersten Funktionssausfällen aufgrund von Gliedmaßenverlusten oder Lähmungen an Gliedmaßen und/oder der Ausfall von Sinnesorganen wie bei Tetraplegikern oder Hirnverletzten. In diesem Bereich werde die Höhe des Pflegegeldes mit einem vom Hundert (v. H.)-Satz von 100 bis 80 v. H. gewährt. In die Kategorie II fielen z. B. Versicherte mit erheblichem Funktionsverlusten. Der v. H.-Satz betrage hier nur 80 bis 60 v. H. Die Bewertung des v. H.-Satzes erfolge nach der Schwere der Verletzung. Da der Kläger als Tetraplegiker mit einer Verletzung unterhalb C-VII/C-VIII noch Funktionen im Bereich der Schulter, Ellenbogen, Handgelenke und verschiedene Griffformen, wenn auch stark abgeschwächt und gegebenenfalls wenig ausdauernd, ausführen könne, sei er in die Kategorie I eingestuft worden. Dabei sei richtigerweise nicht der volle v. H.-Satz gewährt, sondern Pflegegeld mit 90 v. H. des Höchstbetrages bewilligt worden. 100 v. H. seien zu gewähren, wenn z. B. ein Tetraplegiker mit einer Verletzung unterhalb C-IV bewegungsunfähig sei.

Hiergegen richtete sich die vom Kläger am 24. Oktober 2005 beim Sozialgericht F. (SG) erhobene Klage. Ihm stehe Pflegegeld zu 100 v. H. wegen einer inkompletten Tetraplegie mit Blasen- und Mastdarmlähmung zu. Das Vorhandensein geringer Restfunktionen im Bereich der Schulter, Ellenbogen, Handgelenke etc. rechtfertige keine Herabstufung um 10 v. H. Die Beklagte verwies zur Erwiderung auf das am 3. Februar 2006 von Prof. Dr. K. (Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik T.) erstellte Erste Rentengutachten sowie auf dessen ergänzende Stellungnahme vom 22. März 2006 zur Frage der Hilflosigkeit. Im Rentengutachten wertete Prof. Dr. K. die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 100 v. H. Einen Hinweis, dass der Kläger nach wie vor beabsichtige, einen Autoführerschein zu machen, enthält das Gutachten nicht. Es wird lediglich ausgeführt, zum einfacheren Transport des Rollstuhls im Auto der Eltern sei an die Gewährung einer Kfz-Hilfe zur Anschaffung eines Kombis zu denken. Ferner geht aus dem Gutachten hervor, dass kein Elektrorollstuhl angeschafft worden sei und dies vom Kläger auch zwischenzeitlich nicht mehr gewünscht werde. Prof. Dr. K. regte die Anschaffung eines zweiten Aktiv-Rollstuhls an. Ein Rollstuhl sei dann gleichzeitig als Sport-Rollstuhl einzusetzen. Ferner berichtete Prof. Dr. K., der Kläger katheterisiere sich etwa 5-mal täglich selbst. Die Sachen dazu müssten jedoch vorgerichtet werden. Aufgrund der hohen Lähmung sei es dem Kläger lediglich möglich, Arbeiten in sitzender Tätigkeit und an einem PC auszuüben. Auch dies werde nicht konkurrenzfähig vonstatten gehen, da seine Handfunktion deutlich eingeschränkt sei. In der ergänzenden Stellungnahme führte Prof. Dr. K. aus, die Gewährung von Pflegegeld in Höhe von 90 v. H. des Höchstbetrags sei mehr als adäquat. Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C-IV seien mit 100 v. H. einzuschätzen und Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C-VII/C-VIII eher im unteren Bereich, d. h. 80 v. H. des Satzes. Des weiteren müsse auch die Verhältnismäßigkeit zu Patienten gesehen werden, die komplett beatmet würden und somit 100 v. H. des Höchstbetrags benötigten. Aufgrund seiner noch vorhandenen Restfunktionen sei der Kläger um ein Vielfaches selbstständiger. Weiter gab Prof. Dr. K. zu bedenken, dass der Kläger selbst kathetern könne, wenn auch der Katheterismus vorbereitet werden müsse.

Dem Kläger wurde während des Klageverfahrens eine Verletztenrente nach einer MdE um 100 v. H. beginnend ab dem 11. Januar 2006 in Höhe von monatlich EUR 966,00 bewilligt.

Mit Gerichtsbescheid vom 06. Februar 2007 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung nahm es auf den Inhalt des Widerspruchsbescheids und den Inhalt der Stellungnahme von Prof. Dr. K. vom 22. März 2006 Bezug. Der Kläger habe trotz Aufforderung zu dem Vortrag der Beklagten mit eingehender Differenzierung zwischen Leistungen nach 90 v. H. und 100 v. H. des Höchstbetrages sowie auf die Zuordnung seiner Behinderung zu den insoweit maßgeblichen Schweregraden von Hilflosigkeit durch Prof. Dr. K. nicht weiter Stellung bezogen.

Gegen den ihm am 09. Februar 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 09. März 2007 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er macht weiter geltend, der Unterschied zu einer Schädigung unterhalb C-IV mache keine 10 v. H. aus. Er sei absolut hilflos.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts F. vom 06. Februar 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 25. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. September 2005 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. Juli 2004 Pflegegeld nach Kategorie I in Höhe von 100 v. H. des Höchstbetrags zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt zur Erwiderung vor, der Kläger sei schwerstgeschädigt und dementsprechend in die Kategorie I eingestuft. Selbstverständlich sei er mit seinen geringen Restfunktionen erheblich eingeschränkt. Dennoch sei er besser gestellt als ein Versicherter mit einer Tetraplegie mit einer Verletzung unterhalb C-IV, der absolut bewegungsunfähig sei.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (Schreiben des Klägers vom 31. Dezember 2007, der Beklagten vom 02. Januar 2008).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist statthaft und zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die angefochtene Entscheidung des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind zutreffend. Der Kläger wird nicht in seinen Rechten verletzt. Ihm steht kein höheres Pflegegeld zu.

Solange Versicherte infolge des Versicherungsfalls so hilflos sind, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des alltäglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfen, wird nach § 44 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Pflegegeld gezahlt, eine Pflegekraft gestellt oder Heimpflege gewährt. Nach § 44 Abs. 2 SGB VII ist das Pflegegeld unter Berücksichtigung der Art oder Schwere des Gesundheitsschadens sowie des Umfangs der erforderlichen Hilfe auf einen Monatsbetrag innerhalb eines vorgegebenen Rahmens festzusetzen. Dieser Rahmen betrug in der Zeit vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2007 zwischen EUR 295,00 und EUR 1180,00 (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 44 SGB VII RndNr. 11).

Damit wird das Pflegegeld nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit abgestuft pauschal gewährt. Hierzu wurden "Kategorien" der Gesundheitsschäden und "Einzeleinstufungen" für die Festsetzung des Pflegegelds bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten geschaffen, die von den Berufsgenossenschaften im Rahmen einer Selbstbindung der Verwaltung an eigene Verwaltungsrichtlinien angewandt werden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., RndNr. 10). Daran sollte auch im Interesse der Gleichbehandlung aller Versicherten festgehalten werden. Die Gesundheitsschäden werden zunächst in grobe "Kategorien" eingeteilt (schwerste Beeinträchtigung, erhebliche Beeinträchtigung, mittlere Beeinträchtigung, leichtere Beeinträchtigung). Für schwerste Beeinträchtigungen, wie sie beim Kläger unstreitig auch aus Sicht des Senats aufgrund der inkompletten Tetraplegie sub C-VII vorliegen, ist die Gewährung von Pflegegeld in Höhe von 80 bis 100 v. H. des Höchstbetrags vorgesehen. Innerhalb der Gruppe der Schwerstbeeinträchtigten wird angesichts der eben genannten Spannbreite (80 bis 100 v. H.) eine weitere Differenzierung vorgenommen. Einschlägig sind hier die Unterdifferenzierungen für Verletzte mit vollständiger Halsmarklähmung (Tetraplegiker) - bei erhaltener Eigenatmung (s. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., RndNr. 10.2 Ziff. 5). Für die "Einzeleinstufungen" werden folgende Kriterien vorgegeben:

"In Abhängigkeit von der Höhe der Schädigung an der Halswirbelsäule (HWS) sind die Bewegungsmöglichkeiten des Verletzten vollständig bis fast vollständig aufgehoben. Die Funktionseinschränkungen hängen ab von den restmotorischen Fähigkeiten. - Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C4 sind bewegungsunfähig. - Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C5 sind in äußerst geringem Maße bewegungsfähig (Schulterbewegung, aktive Ellbogengelenksbeugung, aber ohne Handfunktionen). Die Verletzten benötigen bei geeigneten Alarmsystemen keine Pflege rund um die Uhr. - Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C6 können nach entsprechender Übung teilweise Handfunktionen ausführen - Verletzte mit Tetraplegien unterhalb C7/C8 können Funktionen im Bereich von Schulter, Ellenbogen und Handgelenk ausführen, verschiedene Griffformen sind möglich, jedoch stark abgeschwächt und wenig ausdauernd. Sitzstabilität besteht nicht. Bei allen Lähmungshöhen besteht vollständige Rollstuhlabhängigkeit".

Der Kläger verfügt über Restfunktionen, die am ehesten der zuletzt genannten, günstigsten Gruppe zuzuordnen sind. Er kann insbesondere - wie sich u.a. aus dem Zwischenbericht von Prof. Dr. K. vom 26. Januar 2005 ergibt - den Rollstuhl selbständig antreiben und sich selbst katheterisieren. Im Bericht des Berufshelfers G. vom 27. Oktober 2004 wird zudem ausgeführt, dass der Kläger durch intensive Therapie im Stande sei, eigenständig zu essen und zu trinken. Somit bestehen - im Sinne der "Einzeleinstufungen" - Funktionen im Bereich von Schulter, Ellenbogen und Handgelenke sowie Greiffunktionen; dies wird vom Kläger auch gar nicht bestritten. Die Beklagte hat gleichwohl nicht den unteren Rahmenwert von 80 v. H., sondern den mittleren von 90 v. H. gewählt. Der Senat hält dies in Übereinstimmung mit dem SG und Prof. Dr. K. (Schreiben vom 22. März 2006) für eine adäquate Bewertung. Es bestehen keine Bedenken gegen die in den "Einzeleinstufungen" vorgenommene Binnendifferenzierung bei Tetraplegikern. Die Differenzierung knüpft entsprechend dem Gesetzeswortlaut an der Schwere des Gesundheitsschadens und den verbliebenen Restfunktionen, die maßgeblich für den Hilfebedarf sind, an. Die Notwendigkeit einer Differenzierung wird vom Gesetz vorgegeben.

Der Senat sieht im Übrigen durchaus einen Unterschied hinsichtlich der Abhängigkeiten eines Tetraplegikers, der vollständig bewegungsunfähig ist, zu einem Anderen, der noch in der Lage ist, im Bereich der Schulter, Ellenbogen, Handgelenke und Hände - wenn auch stark eingeschränkt - Bewegungen auszuführen. So kann sich der vollständig bewegungsunfähige Tetraplegiker nicht wie der Kläger mit einem Aktiv-Rollstuhl und dies sogar zu sportlichen Zwecken (siehe Erstes Rentengutachten von Prof. Dr. K. vom 3. Februar 2006) fortbewegen. Eine selbstständige Einmalkatheterisierung ist dem vollständig bewegungsunfähigen Tetraplegiker nicht möglich. Auch wenn der Kläger, wie aus dem Ersten Rentengutachten von Prof. Dr. K. hervorgeht, für das Selbstkathetern insoweit der Hilfe bedarf, als die Sachen vorgerichtet werden müssen, kann die Fähigkeit, das Kathetern an sich selbst auszuführen, bei der Bewertung nicht ganz außer Betracht gelassen werden. Zudem ergibt sich aus dem Ersten Rentengutachten von Prof. Dr. K., dass der Kläger trotz eingeschränkter Handfunktion einen PC bedienen kann. Damit eröffnen sich ihm aus Sicht des Senats Möglichkeiten der Kommunikation, die dem vollständig bewegungsunfähigen Tetraplegiker nicht gegeben sind. Diese Fähigkeiten, vor allem die Möglichkeit der selbstständigen Fortbewegung in einem Rollstuhl, rechtfertigen eine Unterscheidung zu vollständig bewegungsunfähigen Tetraplegikern in einem Umfang von 10 v. H., auch wenn sich der Kläger vor dem Hintergrund der einschneidenden Veränderung seiner Lebenssituation aus seiner Sicht - die der Senat nachvollziehen kann - als absolut hilflos erlebt.

Die Berufung war nach alledem in vollem Umfang zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für die Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung.
Rechtskraft
Aus
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