S 15 R 5030/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 15 R 5030/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der am 30.03.1952 geborenen Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 29.01.2007 ab dem 01.05.2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 850,09 Euro (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen), längstens zahlbar bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres. Dabei legte die Beklagte zur Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte einen Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde und begründete dies damit, dass sich der Zugangsfaktor für jeden Kalendermonat nach dem 31.03.2012 bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres um 0,003 vermindern würde. Danach betrage die Verminderung für 36 Kalender¬monate 0,108. Angesichts der Summe aller Entgeltpunkte von 0,0136 würden daher die persönlichen Entgeltpunkte 0,0121 und angesichts der Summe aller Entgeltpunkte (Ost) von 46,2631 würden daher die persönlichen Entgeltpunkte (Ost) 41,2667 betragen (siehe Anlage 6 des Rentenbescheids vom 29.01.2007).

Mit ihrem Widerspruch vom 23.02.2007, begehrte die Klägerin unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 16.05.2006, Az. B 4 R 22/05 R, die Anwendung eines Zugangsfaktors von 1,0. Die Beklagte habe die verfassungskonforme Auslegung des § 77 SGB VI rechtswidrig unterlassen. Die Anwendung des verminderten Zugangsfaktors im Falle der Klägerin stelle eine Verletzung des Eigentumsrechts dar. In § 77 SGB VI sei ausdrücklich vorgesehen, dass die Zeit des Bezuges einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelte. Die Kürzung habe nur dazu dienen sollen, ein spekulatives Ausweichen der Versicherten in die Erwerbsminderungsrenten wegen der Rentenabschläge bei vorzeitigen Altersrenten zu verhindern. Einem Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf eventuelle Parallelverfahren werde nicht zugestimmt.

Unter dem 29.05.2007 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid zurück. Gemäß der Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI sei bei Renten wegen Erwerbsminderung, welche vor Vollendung des 63. Lebens¬jahres des Versicherten beginnen würden, stets der Zugangsfaktor zu vermindern. Der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 werde nicht gefolgt. Dagegen spreche sowohl die Intention des Gesetzgebers bei Einführung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, mit dem mit einer Übergangszeit vom 01.01.2001 bis 31.12.2003 die Abschläge für die vorzeitige Inanspruchnahme von Erwerbsminderungsrenten eingeführt worden sei, als auch die Verlängerung des Zugangsfaktors nach § 59 SGB VI durch das gleiche Gesetz. Durch letztere würden die hinzunehmenden Rentenkürzungen kompensiert.

Mit ihrer Klage vom 29.06.2007 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie bezieht sich auf das Urteil des BSG vom 16. Mai 2006. Die Festsetzung eines niedrigeren Zugangsfaktors als 1,0 sei verfassungswidrig. Sie stelle eine fehlerhafte Anwendung des geltenden Rechts dar und verletze die Klägerin in ihren Grundrechten aus Art. 3 Grundgesetz sowie Art. 14 Grundgesetz. Das Prinzip der "(Vor-)Leistungsbezogenheit einer Rente" dürfe nicht ohen ausdrückliche gesetzliche Grundlage durchbrochen werden. Eine solche Grundlage bestehe bei zutreffender Auslegung nicht in § 77 SGB VI. Der von der Beklagten vorgenommenen Auslegung stünden der Wortlaut des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI und die Gründe der Entscheidung des BSG vom 16.05.2006, der sich nunmehr auch das LSG Saarland angeschlossen (Urteil vom 09.02.2007, Az. L 7 RJ 40/06 und L 7 RJ 61/07) habe, entgegen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchs¬bescheides vom 29. September 2007 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 01. Mai 2004 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf der Grundlage von 0,0136 persönlichen Entgeltpunkte und von 46,2631 persönlichen Entgeltpunkten (Ost) zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte wiederholt ihre Begründungen aus dem angegriffenen Bescheid und Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus, dass der vom BSG im Urteil vom 16.05.2006 vorgenommenen Auslegung auch aus gesetzessystematischen Gründen nicht gefolgt werden könne. So führe diese Auslegung dazu, dass der Gesetzgeber eine bereits getroffene Regelung (§ 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI) im nächsten Satz der Vorschrift (Satz 3) nochmals klarstellend wiederholt. Die von der Beklagten vertretene Auslegung der Norm hingegen, wonach § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI eine Ergänzung zu § 77 Abs. 3 sei, erfülle die Norm mit Inhalt und sei vorzugswürdig. Zudem sei die Formulierung des § 77 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 SGB VI überflüssig, wenn die gesetzgeberische Intention tatsächlich, wie vom BSG angenommen, darin bestanden hätte, den Begriff "vorzeitig" für die Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf den Zeitraum des Rentenbezugs ab vollendetem 60. Lebensjahr zu beschränken. Letztlich werde das Urteil des 4. Senats der Gesetzgebungsgeschichte nicht gerecht. Entgegen der Auffassung des BSG werde an zahlreichen Stellen des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 deutlich, dass der Gesetzgeber auch Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 für Zeiten des Bezuges von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres habe einführen wollen. So werde an zahlreichen Stellen in den Gesetzgebungsmaterialien konkret beziffert, wie stark sich die Einbuße durch die Abschläge durch die verlängerte Zurechnungszeit per saldo vermindere. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Modellrechnungen zur Kompensation von Abschlägen und verlängerten Zurechnungszeiten sei im Urteil des BSG vom 16.05.2006 nicht festzustellen. Die Beklagte regt die Zulassung der Sprungrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage an.

Die Klägerin hat sich unter dem 18.01.2008, die Beklagte am 03.12.2007 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze, die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die auf die Höhe des Rentenanspruchs beschränkte Klage ist als Teilanfechtungs- und Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 Alt. 2, Abs. 4 SGG). Über sie konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben. Das Begehren der Klägerin, die Rente unter Anwendung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu berechnen und auszuzahlen, war dahingehend auszulegen, dass sie die Berücksichtigung von 0,0136 persönlichen Entgeltpunkte und von 46,2631 persönlichen Entgeltpunkten (Ost) bei der Berechnung der Rente begehrt. Denn dies entspricht der Anwendung des Zugangsfaktors von 1,0.

Die Klage ist allerdings unbegründet. Die Beklagte hat bei der Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte der Klägerin zu Recht einen auf 0,892 geminderten Zugangsfaktor in Ansatz gebracht. Der Bescheid der Beklagten vom 29.01.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.09.2007 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Bewertung des Zugangsfaktors durch die Beklagte beruht auf der Regelung des § 77 Abs. 2 SGB VI i.V.m. § 264 c und Anlage 23 zum SGB VI. Gemäß § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend, wobei gemäß § 264c SGB VI bei einem Rentenbeginn vor dem 01.01.2004 anstelle der Vollendung des 60. Lebensjahres die Vollendung des in Anlage 23 angegebenen Lebensalters maßgebend ist. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme (§ 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI).

Nach Ansicht der Kammer sind die Vorschriften des § 77 Abs. 2 SGB VI dahingehend auszulegen, dass Erwerbsminderungsrenten nach dem 01. Januar 2004 (vgl. § 253a SGB VI), die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden, auf Grund des auf 0,892 geminderten Zugangs¬faktors stets einem Abschlag von 10,8 v. H. unterliegen (so auch die rentenrechtliche Literatur, vgl. Polster in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungs¬recht, Bd. 1, 2006, § 77 SGB VI, Rn. 21; Stahl in Hauck/Noftz, SGB VI, § 77, Rn. 45; Plagemann in jurisPR SozR 20/2006 m. w. N.). Der Abschlag reduziert sich nach der Vorschrift des § 264 c SGB VI i.V.m. Anlage 23 zum SGB VI nur, wenn der Rentenbeginn vor dem 01.01.2004 liegt; im Falle der Klägerin wurde der Zugangsfaktor danach zutreffend auf 0,892 reduziert.

Die Kammer vermag sich der Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI, die der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006 zu Grunde liegt und auf die sich die Klägerin bezieht, nicht anzuschließen. Nach dem Urteil des 4. Senats des BSG unterliegen Bezieher einer Erwerbs¬min¬der¬ungs¬rente, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Renten¬abschlägen nur dann, wenn sie die Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen. Zwar bezieht sich die Entscheidung des 4. Senats anders als der vorliegende Fall auf den Renten¬anspruch einer Versicherten, deren zeitlich befristete Erwerbsminderungs¬rente vor Voll¬endung des 60. Lebensjahres begann und vor Vollendung des 60. Lebensjahres endet. Das Urteil des BSG enthält aber den Hinweis, dass auch bei Erwerbs¬minderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr begonnen haben, der Rentenabschlag von 10,8 vH (36 x 0,003) ab Vollendung des 60. Lebensjahres greift (vgl. BSG, Urteil vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R, Rn. 37 des Originaldokuments, abgebildet in JURIS-online unter http://www.juris.de).

Nach den Ausführungen des 4. Senats ist allein diese Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI, die einen verringerten Zugangsfaktor für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres ausschließt, rechtmäßig und frei von verfassungs¬widriger Willkür. Denn auf Grundlage dieser Vorschrift sei eine Durchbrechung des Prinzips der "(Vor-) Leistungs¬bezogen¬heit der Rente" nicht zulässig. Das Prinzip der "(Vor-) Leistungs¬bezogen¬heit der Rente" sei Ausdruck der Beachtung der Vorleistung, die ein Versicherter für die Rentenversicherung erbracht hat und werde durch den in die konkrete Renten¬berechnung einzustellenden Zugangsfaktor, der grundsätzlich mit 1,0 bewertet ist, gewährleistet. Eine Reduzierung dieses Zugangsfaktors und damit eine Nichtbeachtung der erbrachten Vorleistungen sei nur möglich, wenn besondere, im Gesetz ausdrücklich ausgestaltete und verfassungsgemäße Sachgründe dies aus¬nahms¬weise erlauben würden. Solche Sachgründe lägen vor, soweit eine gegenüber der nach dem Gesetz "normalen" Inanspruchnahme einer Rente eine "vorzeitige" Inanspruchnahme mit individuellen Vermögensvorteilen im Vergleich zu "Normalrentnern" mit gleicher Vorleistung erfolgt, so dass die Nichtberücksichtigung eines Teils der Vorleistung zum Ausgleich dieser ungerechtfertigten, systemwidrigen Vermögensvorteile notwendig sei (vgl. Rn. 15 f. des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006, aaO). Die Zeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres gelte gemäß § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI aber ausdrücklich nicht als vorzeitige Inanspruchnahme. Auch schließe die Regelung des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI ausdrücklich einen Rentenabschlag für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus (vgl. Rn. 25 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006, aaO). Diese Auslegung werde zudem durch die Entstehungsgeschichte des EM-ReformG gestützt. Prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor durch das EM-ReformG war, die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten anzupassen und damit "Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken". Ein Ausweichen der Versicherten vor einer vorzeitigen Altersrente mit Abschlag in eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente sei aber erst ab dem 60. Lebens¬jahr möglich (vgl. Rn. 33 des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006). In den Gesetzesmaterialien fänden sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Abschläge bei Erwerbs¬minderungs¬renten, die vor dem vollendeten 60. Lebensjahr begonnen haben, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres gekürzt werden dürfen (vgl. Rn. 34b des Urteil des BSG vom 16. Mai 2006).

Diese Auslegung der Vorschrift des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG ergibt sich nach Auffassung der Kammer nicht zwingend aus dem Wortlaut des Gesetzes und ist zudem mit dem Willen des Gesetzgebers und der Gesetzeshistorie nicht vereinbar. Vielmehr folgt aus der Entstehungsgeschichte der Norm, dass auch Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch genommen werden, mit einem Abschlag zu versehen sind. Mit Blick auf den Wortlaut des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI ist für die Kammer nicht erkennbar, ob der Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres auch insoweit für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist, dass davor liegende Bezugszeiten keine Rentenabschläge zur Folge haben sollen. Auch § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI stellt lediglich fest, dass die Zeiten des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeiten einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelten, ohne jedoch daraus ausdrücklich den Schluss zu ziehen, dass die Personengruppe der Erwerbsminderungs¬rentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres Rentenabschläge hinnehmen müssen. Vielmehr ergänzt § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI die Ausgangsregelung des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI, welche regelt, dass die vorzeitige Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungs¬rente vor dem 63. Lebensjahr zu Abschlägen führt, dabei aber den Beginn dieses "Vorzeitigkeitszeitraums" offen lässt, und zwar dahingehend, dass eine Verminderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Erwerbsminderungsrente notwendigerweise zeitlich begrenzt ist auf die Zeit zwischen Vollendung des 60. und 63. Lebensjahres, d.h. auf maximal 36 Kalendermonate je 0,003. Damit regelt die Vorschrift des § 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI eine Untergrenze der in § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI genannten abschlagsfähigen Kalendermonate; hierzu zählt danach jeder Kalendermonat der Inanspruch¬nahme von Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 63. Lebens¬jahres. Sie stellt zur Überzeugung der Kammer jedoch nicht, wovon die Entscheidung des 4. Senats scheinbar ausgeht, eine Unter¬grenze der dem Abschlag unterliegenden genannten Personengruppe auf die Gruppe der Erwerbsminderungsrentner mit Vollendung des 60. Lebensjahres bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres dar (vgl. Mey, RVaktuell 2007, S. 44, 46). Danach modifiziert § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI die Vorschrift des § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB VI dahingehend, dass für die Zeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres kein Abschlag erfolgt (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06). Diese Auslegung ergibt sich vor allem aus den Gesetzesmaterialien zum EM-ReformG. Dort findet sich kein Hinweis auf eine beabsichtigte Privilegierung der unter 60-jährigen. Vielmehr soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Zugangsfaktor für "jeden Monat des Rentenbeginns vor dem 63. Lebensjahr" um 0,3 %, höchstens um 10,8 % gemindert werden (BT-Drucksache 14/4230, S. 26, zu Nummer 22 (§ 77)). Hieraus ist zwar nur indirekt, zur Überzeugung der Kammer aber zwingend zu entnehmen, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die Verringerung des Zugangsfaktors alle Erwerbsminderungsrenten erfasst, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch genommen werden. Denn eine solche Formulierung ist nur dann zu erwähnen ist, wenn sich ohne eine ausdrückliche entsprechende Formulierung ein höherer Abschlag errechnen könnte (so auch SG Aachen, Urteil vom 09. Februar 2002, Az.: S 8 R 96/06). Zwar ist zutreffend, dass mit dem EM-ReformG auch Ausweich¬reaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegen gewirkt werden soll, eine solche Ausweichreaktion aber nur bei Personen zu erwarten ist, die das 60. Lebensjahr vollendet haben. Allerdings war es das primäre Ziel des Gesetzgebers, eine Anpassung der Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten bei Verlängerung der Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr zu erreichen (vgl. BT-Drucksache 14/4230, S. 1 und S. 26, zu Nummer 22 (§ 77)). Auch mit Blick auf die durch das EM-ReformG eingeführte Anhebung der Zurechnungszeit gemäß § 59 SGB VI vermag sich die Kammer der Auslegung durch das BSG nicht anzuschließen. Seit dem 01. Januar 2001 endet die Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 S. 2 SGB VI mit Vollendung des 60. Lebensjahres. Diesbezüglich heißt es in der Gesetzesbegründung: "Vorteile eines längeren Renten¬be¬zugs werden durch einen verminderten Zugangsfaktor ausgeglichen. Um die Wirkung auf die Renten für erwerbsgeminderte Versicherte und deren Hinterbliebene zu mildern, wird die Zeit zwischen dem 55. und dem 60. Lebensjahr (Zurechnungszeit), die bisher nur zu einem Drittel angerechnet wurde, künftig in vollem Umfang angerechnet." (BT-Drs. 14/4230, S. 68). Daraus, dass der Gesetzgeber selbst von Einbußen der unter sechzigjährigen Erwerbsminderungsrentner ausgeht, wird die eindeutige gesetzgeberische Intention erkennbar, Erwerbsminderungsrenten auch vor Vollendung des 60. Lebensjahres auf Grund eines verringerten Zugangsfaktors mit Abschlägen zu unterwerfen. Die Entscheidung des 4. Senats ignoriert diesen Zusammenhang zwischen Rentenabschlag und Anhebung der Zurechnungszeit und korrigiert entgegen dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers einen Teil des Regelungskomplexes im Wege einer verfassungskonformen Auslegung, während es die damit im Zusammenhang stehende Änderung des § 59 SGB VI unan¬getastet lässt. Die Grenze der verfassungskonformen Auslegung wird indes durch den Gesetzeswortlaut und den Willen des Gesetzgebers bestimmt (vgl. Plagemann in jurisPR SozR 20/2006, Anm. 4; BVerfGE 100, 1, 43 ff.).

Auch eine verfassungskonforme Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI unter Beachtung von Art. 14 GG führt angesichts der Verlängerung der Zurechnungszeiten durch den Gesetzgeber des EM-ReformG zu keiner anderen Beurteilung. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist Voraussetzung für den Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen, dass die vermögenswerte Rechtsposition auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht (vgl. BVerfGE 69, 272 (300 f.); Beschluss des BVerfG vom 13. Juni 2006, (1 BvL 9/00)). Bei den Zurechnungszeiten gemäß § 59 SGB VI handelt es sich um solche der Klägerin zugute kommenden rentenrechtliche Zeiten, welche nicht auf Beitrags- und Beschäftigungszeiten beruhen und trotzdem einen erheblichen Anteil an den Entgeltpunkten des Versicherten haben. Jedoch kann eine Minderung des Zugangsfaktors für vor der Vollendung des 60. Lebensjahres bezogene Erwerbs¬minderungs¬renten nicht zum Schutz der Rentenanwartschaft gemäß Art. 14 GG führen, wenn zugleich eine Verlängerung der nicht beitragsgebundenen Zurechnungszeiten erfolgt. Unter Berücksichtigung der Anhebung der Zurechnungszeit in § 59 SGB VI ist die Regelung verhältnismäßig. Diese Anhebung der Zurechnungszeit steht mit dem Abschlag in engem Zusammenhang. Beide Regelungen wurden nicht unmittelbar, sondern gemäß §§ 253a, 264c SGB VI schrittweise eingeführt (Kreikebohm a. a. O., Rn. 13), so dass den Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf die Übergangsregelungen Genüge getan ist.

Ebenso ist es mit Blick auf das durch die Erwerbsminderungsrente angestrebte Versorgungsziel wohl nicht erklärbar, dass ein Versicherter ab dem 60. Lebensjahr eine deutliche Rentenkürzung hinzunehmen hätte, obwohl seine Hinzuverdienstmöglichkeiten mit zunehmenden Alter sinken, während der Bezieher einer Erwerbsminderungsrente, deren Bezugzeit vor dem 60. Lebensjahr endet, keinen Abschlägen unterliegt (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. Dezember 2006, L 2 R 566/06).

Für die von der Kammer vertretene Auffassung spricht letztlich auch das "Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung" vom 20.04.2007 (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz, abgedruckt in BGBL. I Nr. 16 v. 30.04.2007 S. 554-575), mit welchem die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden. Aus dem Regelungsinhalt des Gesetzes und der Begründung ist erkennbar, dass die Auslegung des § 77 Abs. 2 SGB VI durch den 4. Senat des BSG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers des EM-ReformG entspricht. Demnach soll bei Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit "mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres", statt bisher dem 60. Lebensjahr, ein Abschlag von 10,8 % erhoben werden. Auch sollen die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten i.H von 10,8 % entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes und entgegen der Entscheidung des 4. Senats des BSG in allen Fällen vorgenommen werden, in denen die Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird (vgl. BR-Drs. 2/07, vom 05. Januar 2007, S. 91, zu Nummer 23 (§ 77)). Zudem beabsichtigt laut Medieninformation Nr. 6/08 des Bundessozialgerichts vom 29. Januar 2008 auch der 5a. Senat, die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundessozialgerichts zum Rentenabschlag bei Erwerbsminderungsrenten (Urteil vom 16. Mai 2006) aufzugeben. Begründet wird dies damit, das eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Praxis der Rentenversicherungsträger, den Zugangsfaktor zu mindern, auch wenn die Rente bereits vor dem 60. Lebensjahr des Versicherten beginnt, gesehen werde. Dieser gesetzgeberische Wille finde in den Vorschriften des SGB VI hinreichend deutlich seinen Ausdruck. Dabei spiele insbesondere der systematische Zusammenhang zur gleichzeitig be¬schlossenen Verlängerung der Zurechnungszeit eine Rolle, mit der eine Annäherung an die Renten¬höhe bei vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten erreicht wird, indem die Erwerbsminde¬rungsrente um so stärker absinkt, je näher der Rentenbeginn an das 60. Lebensjahr des Versicherten heranrückt. Insoweit liege darin die praktische Umsetzung eines bereits im Zusammenhang mit der Rentenreform 1992 formulierten Anliegens des Gesetzgebers.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Sprungrevision war gemäß §§ 161 Abs. 1 und 2, 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil das Urteil von der Entscheidung des BSG vom 16. Mai 2006, B 4 RA 22/05 R, abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
Rechtskraft
Aus
Saved