L 10 B 193/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 65 AS 30513/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 B 193/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 07. Januar 2008 insofern geändert, als die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 07. November 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2008 angeordnet und ihm für das Verfahren vor dem Sozialgericht für die Zeit ab Antragstellung am 17. Dezember 2007 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L gewährt wird. Dem Antragsteller wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L gewährt. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller drei Viertel seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Im Übrigen werden außergerichtliche Kosten nicht erstattet.

Gründe:

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Beschluss vom 07. Januar 2007 sowohl den auf einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin (Agegn) zur Gewährung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit ab "August 2006" (vgl. Bl. 1 der Gerichtsakten, gemeint war vermutlich ab der Neuantragstellung im August 2007, das kann aber hier dahin stehen) gerichteten Antrag des Antragsteller (Ast) nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als auch den sinngemäßen Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Absenkungsbescheid vom 07. November 2007 abgelehnt.

Die am 22. Januar 2008 bei Gericht eingegangene Beschwerde ist nach dem in der Beschwerdeschrift vom 16. Januar 2008 zum Ausdruck gekommenen Willen des Ast so auszulegen (§ 123 SGG), dass sie sich (neben der Versagung von Prozesskostenhilfe (PKH)) "nur" auf die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Absenkungsbescheid vom 07. November 2007 bezieht. Dagegen wendet sich der Ast nicht gegen die Ablehnung des Antrags auf einstweilige Verpflichtung der Agegn zur Bewilligung von Alg II, für den im Übrigen schon im Laufe des (Eil-)Verfahrens vor dem SG das Rechtsschutzschutzbedürfnis dadurch entfallen ist, dass die Agegn dem Ast mit Bescheid vom 21. Dezember 2007 Alg II für die Zeit vom 27. August 2007 bis zum 29. Februar 2008 bewilligt hat, wovon das Gericht bei Beschlussfassung am 07. Januar 2008 offenbar keine Kenntnis gehabt hat. Die Beschwerde richtet sich auch nicht gegen den weiteren Absenkungsbescheid vom 28. Dezember 2007 für die Zeit von Februar bis April 2008, von dem weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in der Beschwerdeschrift die Rede gewesen ist. Diesbezüglich steht es dem Ast frei, gesondert um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen.

Die so verstandene Beschwerde ist zulässig und begründet.

Der Antrag nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (zum Vorrang gegenüber der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG, "soweit") ist hier statthaft. Dies ergibt die diesen Einzelfall kennzeichnende besondere Sachlage, ohne dass es der Entscheidung bedürfte, ob "Absenkungsfälle", in denen auf einen isolierten Sanktionsbescheid eine umsetzende Bewilligungsentscheidung folgt, allgemein nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG oder als Vornahmesache (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG) zu behandeln sind. Den nachrangigen (dazu oben) Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG zu gewähren, würde voraussetzen, eine Bescheideinheit von Sanktionsbescheid und nachfolgender Bewilligungsentscheidung anzunehmen (so für rechtsähnliche Sperrzeit- und Minderungsfälle nach dem Arbeitsförderungsgesetz BSG Urteil vom 15. Dezember 2005 – B 7a AL 46/05 R = SozR 4 – 4300 § 144 Nr. 2 und BSG Urteil vom 18. August 2005 – B 7a AL 4/05 R = SozR 4 – 1500 § 95 Nr. 1). Im Weiteren käme es dann darauf an, ob eine höhere Leistung gleichgültig aus welchem rechtlichen oder tatsächlichen Grund angestrebt wird oder der Berechtigte sich ausdrücklich nur gegen die Absenkungsentscheidung wehrt. In diesem letztgenannten Fall ist auch unter Annahme eine Bescheideinheit – hinreichend unterscheidbare Verfügungssätze des Bewilligungsbescheides vorausgesetzt – nur über ein Anfechtungsbegehren zu entscheiden (so ausdrücklich BSG vom 18. August 2005 aaO); damit wäre im einstweiligen Verfahren nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zu entscheiden. Dieser Situation steht die hier gegebene Sachlage jedenfalls gleich, in der der Antragsteller sich allein und ohne seinen Antrag anzupassen (auch nicht im Beschwerdeverfahren) gegen eine isolierte Sanktionsentscheidung wendet, die in untypischer Weise vor Beginn des Leistungsbezuges ergangen ist, wobei im Hinblick auf die Antragslage (dazu bereits oben) der Sanktionsbescheid Bezugspunkt der Rechtsschutzgewährung bleibt und das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung sich insoweit aus dem Umstand ergibt, dass es nachgehend zu einer Bewilligung gekommen ist, die den Sanktionszeitraum (teilweise) betrifft.

Der Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist auch begründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 07. November 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2008 ist anzuordnen, weil entgegen der Auffassung des SG ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides bestehen. Diese beziehen sich in erster Linie auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses bzw auf den Zweck des § 31 SGB II, durch die Leistungsabsenkung auf einen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen so einzuwirken, dass er zur Verwirklichung des Nachranggrundsatzes seine Arbeitskraft zur Selbsthilfe einsetzt. Zum einen waren hier seit dem Absenkungsgrund, dem Nichtantritt der Maßnahme "Selbstvermarktungsstrategien" beim Träger 2C Coaching & Consulting am 28. August 2007 bzw. der Nichterfüllung der entsprechenden Pflicht gemäß der Eingliederungsvereinbarung vom Vortag bereits deutlich mehr als zwei Monate vergangen. Der Zweck des § 31 SGB II erfordert einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem auslösenden Ereignis (etwa der Weigerung, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen) und der Leistungsabsenkung, zumal nach der Regelung des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB II, wonach der dreimonatige Absenkungszeitraum mit dem auf den Bescheid folgenden Kalendermonat beginnt, weitere Zeit verstreicht, bis die Sanktion für den Betroffenen spürbar wird. Denn die Sanktionen nach § 31 SGB II werden nicht als Strafe für die Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten verhängt, sondern sie dienen dazu, Verhaltensänderungen für die Zukunft zu erreichen, indem aufgezeigt wird, dass die Pflicht- bzw Obliegenheitsverletzungen nicht folgenlos bleiben und in diesem Sinne erzieherisch wirken (vgl. Beschluss des Senats vom 12. Mai 2006 – L 10 B 191/06 AS ER – veröffentlicht in juris und Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 31 Rdnr 9, 15). Dementsprechend verlangen Rechtsprechung und Literatur teilweise eine unverzügliche (d.h. ohne schuldhaftes Zögern) Reaktion des Leistungsträgers, nachdem er von der Pflichtverletzung Kenntnis erlangt hat (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 2. Aufl., § 31 Rdnr 144 mwN; ferner SG Hamburg, Urteil vom 09. November 2007 – S 62 AS 1701/06 – juris, und SG Berlin, Beschluss vom 07. März 2006 – S 103 AS 68/06 ER – juris). Ob die Agegn hier dem Erfordernis zu jedenfalls raschem Tätigwerden genügt hat, erscheint zweifelhaft. Noch gewichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass der Absenkungsentscheidung ein weiterer Vermittlungsvorschlag vorausging: am 05. November 2007 schlug die Agegn dem Ast eine Stelle als Lager- und Transportarbeiter vor, weshalb er sich mit der ComJob GmbH in Verbindung setzen sollte. Bei Beachtung des dargestellten Sanktionszwecks hätte es nahe gelegen, entweder mit einer neuerlichen Vermittlungsbemühung so lange zu warten, bis dem Ast durch die Verhängung der Sanktion wegen des ersten (mutmaßlichen) Fehlverhaltens die Folgen einer etwaigen weiteren Verweigerungshaltung vor Augen geführt worden sind, oder aber nun zunächst den Ausgang der laufenden Arbeitsvermittlung abzuwarten und (nur) im

Falle einer Ablehnung von Seiten des Ast ohne wichtigen Grund mit einer – erstmaligen – zeitnah ausgesprochenen Leistungsabsenkung zu reagieren. Wenn die Agegn indes am 07. November 2007 (also nur zwei Tage nach dem neuerlichen Arbeitsangebot) die Sanktion wegen des bereits länger zurückliegenden Nichtantritts der Maßnahme "Selbstvermarktungsstrategien" ohne Rücksicht auf den aktuellen Vermittlungsvorgang ausgesprochen hat, hat dies jedenfalls aus der Sicht des Ast in erster Linie Strafcharakter, was nicht im Sinne des § 31 SGB II ist (vgl. Berlit, aaO Rdnr 2, Valgolio, aaO Rdnr 15). Die gravierenden Folgen der Absenkung einer existenzsichernden Leistung um 30 % der Regelleistung für die Dauer von drei Monaten – ohne die Möglichkeit einer Verkürzung etwa bei nachträglichem Wohlverhalten (eine Sanktionsmilderung sieht § 31 Abs. 5 Satz 3 SGB II für Erwachsene nur bei einer Leistungsminderung um 100 v.H. vor) – erfordern eine eher restriktive Handhabung der Vorschrift, an der es hier mangelt. Darüber hinaus ist der Einwand des Ast, er habe mangels Leistungsbewilligung zunächst nicht über das für die Teilnahme der Maßnahme "Selbstvermarktungsstrategien" erforderliche Fahrgeld verfügt und damit einen wichtigen Grund für sein Verhalten im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II gehabt (vgl. Winkler in Gagel, SGB III, Bd. II, Stand September 2007, § 31 SGB II Rdnr 97), nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Angesichts der nach alledem bestehenden erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 07. November 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 2008 war die aufschiebende Wirkung anzuordnen.

Hatte der Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG danach hinreichende Aussicht auf Erfolg, war dem Ast unter Aufhebung der entgegen stehenden diesbezüglichen Entscheidung des SG PKH unter Beiordnung seines Bevollmächtigten sowohl für das erstinstanzliche Verfahren ab Antragstellung am 17. Dezember 2007 als auch für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, §§ 73 a SGG, 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Ast im Beschwerdeverfahren voll obsiegt und nach den obigen Ausführungen auch vor dem SG mit seinem Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG hätte Erfolg haben müssen, nicht jedoch mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Eine Regelungsanordnung kam, worauf das SG zu Recht
hingewiesen hat, für die Zeiten vor Antragstellung bei Gericht von vornherein nicht in Betracht. Die im Verfahrensverlauf erfolgte Leistungsbewilligung (auch für die Zeit nach Stellung des Eilantrags) beruhte maßgeblich darauf, dass der Ast nachträglich mit anwaltlichem Schreiben vom 12. Dezember 2007 (Bd II, Bl. 414 der Leistungsakten) insbesondere das ausgefüllte Zusatzblatt 3 mit Angaben zu seinen Vermögensverhältnissen eingereicht hatte, das die Agegn zu Recht für die Leistungsbewilligung verlangt hatte.

Diese Entscheidungen sind nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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