S 6 R 129/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 R 129/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 00.00.1965 geborene Klägerin ist gelernte Facharbeiterin für Fleischverarbeitung. Zuletzt war sie als Kassiererin im Penny-Markt in Hattingen bis 1991 beschäftigt, anschließend arbeitslos. Vom 01.09.2002 bis 31.07.2003 war sie als Pflegeperson tätig und pflegte in der Talbotstraße 10 in Aachen ihre pflegebedürftige Mutter. Vom 01.08.2003 bis zum 20.02.2005 war sie im Marienhospital Aachen als Stationsgehilfin beschäftigt, ab 18.09.2004 war sie durchgehend krank geschrieben. Von Februar 2006 bis 27.06.2006 erhielt sie Leistungen der Bundesagentur für Arbeit.

Am 07.12.2002 wurde die Klägerin Opfer einer Vergewaltigung. Nach eigenen Angaben nahm sie an diesem Tag nach Beendigung ihrer Pflegetätigkeit von der Talbotstraße in Aachen den Bus zur Haltestelle Universitätsklinikum Aachen. Dort stieg sie aus dem Bus aus und nahm in westlicher Richtung einen Feldweg. Die Vergewaltigung ereignete sich bei den Sieben Quellen in Aachen-Seffent. Mit (inzwischen) bestandskräftigem Bescheid vom 10.07.2006 lehnte der Gemeindeunfallversicherungsverband eine Entschädigung aus diesem Ereignis ab, weil das Vorliegen eines Unfallereignisses nicht bewiesen sei.

Am 05.03.2003 wurde die Klägerin Opfer eines Raubüberfalles. Dieser Überfall ereignete sich während einer Busfahrt auf dem Weg von ihrer Arbeitsstelle im N-Hospital Aachen nach Hause. Mit Bescheid vom 10.07.2006 erkannte der Gemeindeversicherungs-verband den Überfall als Arbeitsunfall nach § 8 SGB VII an und gewährte der Klägerin eine Unfallrente.

Am 03.11.2005 stellte die Klägerin unter Hinweis auf Untersuchungsberichte des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld, Klinik für psychosomatische Medizin, vom 27.10.2005 und vom 16.11.2005 einen Rentenantrag. Die Beklagte zog Unterlagen des Universitätsklinikums Aachen, Medizinische Klinik III, vom 09.12.2004 sowie des Universitätsklinikums Aachen, Klinik für Psychiatrie, vom 01.03.2005, bei und wertete ein Attest des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. I vom 13.09.2005 aus. Anschliessend veranlasste sie unter dem 02.02.2006 eine Begutachtung durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C und lehnte den Antrag nach Stellungnahme ihres medizinischen Dienstes vom 06.02.2006 mit Bescheid vom 22.03.2006 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin sei seit dem 18.09.2004 voll erwerbsgemindert. Unter Zugrundelegung des Eintritts der vollen Erwerbsminderung am 18.09.2004 aber fehle es am Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente, weil in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung keine 3 Jahre mit Pflichtbeiträgen vorhanden seien. Die Klägerin legte am 24.03.2006 Widerspruch ein, den die Beklagte unter Vertiefung ihrer bisherigen Ausführungen mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2006 zurückwies.

Hiergegen richtet sich die am 20.07.2006 erhobene Klage.

Die Klägerin führt aus, die Vergewaltigung am 07.12.2002 sei als Arbeitsunfall einzustufen. Deshalb lägen die Voraussetzungen für die begehrte Rente vor.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.03.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.07.2006 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest.

Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes von Amts wegen eine Begutachtung durch die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. G veranlasst. Die Sachverständige hat in ihrem unter dem 20.02.2007 erstellten Gutachten ausgeführt, das Leistungsvermögen der Klägerin sei auf unter 3 Stunden herabgesunken. Dieser Zustand bestehe bereits seit der Vergewaltigung im Dezember 2002.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die beigezogenen Verwaltungsakten des Gemeindeunfallversicherungs-verbandes verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Sie hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Ein solcher Anspruch besteht für Versicherte, die erwerbsgemindert im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr.1 Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) sind und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Zwar ist die Klägerin voll erwerbsgemindert, weil ihr Leistungsvermögen im Erwerbsleben unstreitig auf unter 3 Stunden herabgesunken ist. Sie erfüllt jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht. Hiernach müssen die Versicherten vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben.

Zwar wären die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr.2 SGB VI erfüllt, wenn die Klägerin erst seit dem 03.11.2005, dem Datum ihres Rentenantrags, erwerbsgemindert wäre. Denn ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 29.08.2006 wären im dann maßgeblichen Fünfjahreszeitraum vom 03.11.2000 bis 02.11.2005 mindestens 36 Monate mit Pflichtbeitragszeiten belegt. Indessen steht zur Überzeugung der Kammer nicht fest, dass die Erwerbsminderung der Klägerin erst am 03.11.2005 eingetreten ist. Vielmehr spricht im vorliegenden Fall alles dafür, dass die Klägerin bereits seit der Vergewaltigung am 07.12.2002 voll erwerbsgemindert ist.

Die Kammer entnimmt dies dem von Amts wegen eingeholten Gutachten von Frau Dr. G. Die Sachverständige hat nach ausführlicher Würdigung der Biographie der Klägerin sowie der traumtisierenden Ereignisse im Dezember 2002 und im März 2003 nachvollziehbar dargelegt, dass bereits die im Dezember 2002 erlittene Vergewaltigung bei der Klägerin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt hat, aufgrund derer sie nicht mehr in der Lage ist, Tätigkeiten auch nur im Umfang von mindestens 3 Stunden täglich zu verrichten. Aufgrund dieses ausführlichen Gutachtens, gegen das die Klägerin im Übrigen substantiierte Einwendungen nicht vorgebracht hat, sieht die Kammer keine Bedenken, sich der Einschätzung von Frau Dr. G anzuschliessen.

Sie verkennt hierbei nicht, dass die Klägerin nach der Vergewaltigung am 07.12.2002 noch einer Pflegetätigkeit nachgegangen ist und dass einer tatsächlichen Berufsausübung ein stärkerer Beweiswert zukommen kann, als medizinischen Befunden. Insbesondere kann eine tatsächliche Arbeitsleistung den Eintritt einer von einem medizinischen Sachverständigen festgestellten Erwerbsminderung unter Umständen widerlegen (siehe etwa BSG, Urteil vom 26.09.1975, 12 RJ 208/74; Niesel, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 55. Auflage 2007, § 43 Rdnr. 28). Im vorliegenden Fall indessen ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin selbst nach dem zweiten traumatisierenden Ereignis, dem Raubüberfall am 05.03.2003, nicht nur einer Beschäftigung nachgegangen ist, sondern sogar eine neue Tätigkeit noch aufgenommen hat. Denn sie war seit dem 01.08.2003 als Stationsgehilfin im N-Hospital beschäftigt. Aus diesem Grund geht das Gericht mit der Sachverständigen Frau Dr. G davon aus, dass die Tätigkeit als Pflegeperson, die die Klägerin vom 01.09.2002 bis 31.07.2003 ausgeübt hat, nur auf Kosten ihrer Gesundheit und mit großer Anstrengung möglich war (vgl. Seite 48 des Gutachtens vom 20.02.2007). Dies wiederum läßt den Eintritt einer vollen Erwerbsminderung mit der Vergewaltigung am 07.12.2002 plausibel erscheinen.

Ist eine volle Erwerbsminderung der Klägerin aber bereits am 07.12.2002 eingetreten, sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Denn ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 29.08.2006 sind im maßgeblichen Fünfjahreszeitraum vor Eintritt der Erwerbsminderung keine 36 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Verlängerungstatbestände nach § 43 Abs. 4 SGB VI sind weder ersichtlich, noch vorgetragen. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass der Versicherungsverlauf Unrichtigkeiten oder Unvollständigkeiten enthält. Insbesondere die vor dem 01.08.2002 bestehende Lücke im Versicherungsverlauf steht offenbar mit der tatsächlichen Erwerbsbiographie der Klägerin in Einklang.

Das Erfordernis von 3 Jahren mit Pflichtbeiträgen im Fünfjahreszeitraum vor Eintritt der Erwerbsminderung am 07.12.2002 ist auch nicht nach § 43 Abs. 5 i.V.m. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB VI entbehrlich. Insbesondere ist die Klägerin nicht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 SGB VI wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden. Zwar ist der am Raubüberfall am 05.03.2003 vom Gemeindeunfallversicherungsverband als Arbeits- bzw. Wegeunfall anerkannt worden. Allerdings ist die volle Erwerbsminderung der Klägerin nicht durch das Ereignis am 05.03.2003 eingetreten, sondern bereits durch die Vergwaltigung im Dezember 2002. Auch läßt der Umstand der tatsächlichen Ausübung einer Pflegetätigkeit der Klägerin nach dem 07.12.2002 – wie dargelegt – nicht an den Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. G zweifeln. Aus diesen Gründen geht die Kammer nicht davon aus, dass die Klägerin durch den Raubüberfall am 05.03.2003 voll erwerbsgemindert geworden ist.

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr.2 SGB VI sind auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Klägerin durch die Vergewaltigung am 07.12.2002 voll erwerbsgemindert geworden ist. Denn die Voraussetzungen des § 43 Abs. 5 i.V.m. § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 SGB VI liegen nicht vor. Entgegen der Auffassung der Klägerin erfüllt das Ereignis am 07.12.2002 nicht die Voraussetzungen eines Arbeits- bzw. Wegeunfalls nach § 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicheruung (SGB VII). Die Kammer kann hierbei offen lassen, ob es am sog. inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Ereignis (vgl. für den Fall einer Vergewaltigung BSG, Urteil vom 26.06.2001, B 2 U 25/00 R m.w.N.) bereits deshalb fehlt, weil nicht ersichtlich ist, dass die Beweggründe des Täters am 07.12.2002 in Umständen zu suchen sind, die in Verbindung mit der versicherten Tätigkeit der Klägerin stehen. Denn selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass der innere Zusammenhang deshalb besteht, weil sich die Vergewaltigung auf dem Weg von dem Ort der Pflegetätigkeit der Klägerin ereignet hat, erfüllt das Ereignis vom 07.12.2002 nicht die Voraussetzungen eines Arbeits- bzw. Wegeunfalls im Sinne von § 8 SGB VII. Denn es fehlt insoweit an der Unmittelbarkeit des Weges im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr.1 SGB VII. Voraussetzung hierfür ist, dass der Weg notwendig ist, um sich nach dem Ende der versicherten Tätigkeit in den privaten Bereich zurückzubegeben. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn es sich um privat bedingte Wege(teile) handelt, die in die entgegengesetzte Richtung führen (vgl. nur Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Unfallversicherungsrecht, 55. Auflage 2007, § 8 Rdnr. 202 ff.). Hier fand die von der Klägerin ausgeübte Pflegetätigkeit in der Talbotstraße 10 in Aachen statt. Nach ihren eigenen Angaben hat die Klägerin anschliessend den Bus zur Haltestelle Uniklinikum Aachen genommen und von dort einen Feldweg in westlicher Richtung eingeschlagen. Nach den Ausführungen der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 13.07.2007 hat sich die Vergewaltigung bei den Sieben Quellen in Aachen-Seffent ereignet. Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt, dass ihr der genaue Ort der Vergewaltigung nicht mehr erinnerlich ist, hat sie demnach zunächst einen Weg in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Denn seinerzeit wohnte sie nach eigenen Angaben in der Hans Böckler Allee in Aachen, die sich südlich von der Haltstelle Universitätsklinikum befindet. Demgegenüber befinden sich die Sieben Quellen in nördlicher Richtung von der Haltestelle Universitätsklinikum. Gestützt wird diese Annahme auch durch die Angaben der Klägerin gegenüber der Sachverständigen Frau Dr. G. Hier hatte die Klägerin erklärt, sie habe seinerzeit nach der Arbeit etwas abschalten wollen und einen Spaziergang in der Nähe der Wohnung unternommen (Bl. 12 des Gutachtens vom 20.02.2007). Ähnliches läßt sich dem Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. G vom 11.12.2004 (Bl. 5 der Beiakte) entnehmen. Hier hatte die Klägerin angegeben, sie sei am 07.12.2002 in Aachen-Seffent bei den Sieben Quellen nach Betreuung ihrer Mutter spazieren gewesen. Auch das Verhalten der Klägerin selbst spricht gegen das Vorliegen eines Wegeunfalls. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass sie den Bescheid vom 10.07.2006, mit dem der Gemeindeunfallversicherungsverband eine Entschädigung aus dem Ereignis vom 07.12.2002 abgelehnt hat, hat bestandskräftig werden lassen.

Gegen das Risiko einer Berufsunfähigkeit ist die am 22.05.1965 geborene Klägerin – unabhängig von den auch hier notwendigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, §§ 240 Abs. 1, 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI – nicht mehr versichert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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