S 5 AS 309/10 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 309/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 01.08.2010 vorläufig die Fahrtkosten für den Besuch der Fachoberschule in C-Stadt für das Schuljahr 2010/2011 in Höhe von 736,20 EUR zu leisten.

Der Antragsgegner hat der Antragsstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Übernahme der Kosten für die Schülerjahresfahrkarte des Regionalen Nahverkehrsverbandes AAA., die so genannte "CleverCard".

Die 1993 geborene Antragstellerin lebt mit ihrer Mutter in einer Bedarfsgemeinschaft und bezieht vom Antragsgegner Leistungen nach dem SGB II.

Mit Schreiben vom 08.07.2010 beantragte die Mutter als gesetzliche Vertreterin der noch minderjährigen Antragstellerin die Übernahme der Kosten für eine Busfahrkarte. Zur Begründung trug sie vor, dass die Antragstellerin ab dem 01.08.2010 die Fachoberschule in C-Stadt besuche und parallel dazu ein schulbezogenes Praktikum beim Amtsgericht AAA. mache.

Auf Anforderung des Antragsgegners wurde der Praktikumsvertrag eingereicht, aus dem sich ergab, dass die Antragstellerin das Praktikum an drei Tagen in der Woche am Amtsgericht in AAA. ableistet und dafür kein Entgelt erhält.

Die Fachoberschule in C-Stadt ist ca. 13 km vom Wohnort der Antragstellerin entfernt; das Amtsgericht in AAA. ca. 24 km.

Mit Bescheid vom 27.07.2010 wurde der Antrag abgelehnt.

Mit ihrem bei Gericht am 27.07.2010 eingegangenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes –den das Gericht im Übrigen auch als Widerspruch gegen die behördliche Entscheidung wertet- verfolgt die Antragstellerin ihr Ziel weiter.
Sie beantragt (sinngemäß) den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, die Kosten für die Jahreskarte "CleverCard" für das Schuljahr 2010/2011 an der Fachoberschule in C-Stadt in Höhe von 736,20 EUR zu leisten.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Er ist der Ansicht, dass keine gesetzliche Grundlage für die Übernahme der Fahrtkosten existiere und daher nicht im Rahmen der SGB II- Leistungen zu übernehmen seien.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichts- und Leistungsakte, die zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen, Bezug genommen.

II.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung dafür ist die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes. Dabei entspricht der Anordnungsanspruch dem materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, während der Anordnungsgrund die besondere Dringlichkeit der Anordnung begründet. Es muss also ein Sachverhalt vorliegen, der eine Eilentscheidung notwendig macht und ein weiteres Zuwarten –insbesondere das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache- unzumutbar erscheinen lässt. Zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besteht eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderung an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) hat der Antragsteller Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne liegt vor, wenn das Vorliegen der den Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund begründenden Tatsachen für das Gericht überwiegend wahrscheinlich ist. Der Antrag nach § 86 b Abs. 2 SGG ist gemäß § 86 b Abs. 3 SGG schon vor Klageerhebung zulässig.

Nach Maßgabe dieser Ausführungen ist dem Begehren der Antragstellerin voll zu entsprechen.

Gemäß § 21 Abs. 6 SGB II in der Fassung des Art. 3 a Nr. 2 lit. b) des "Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze" (StabRuaÄndG) vom 27.05.2010 (BGBl. I, Nr. 26, Seite 671 ff.) dessen Einführung mit Wirkung zum 03.06.2010 die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, NJW 2010, S. 505 ff.] umsetzt, erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Das ist der Fall, wenn der Bedarf insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Nach der Gesetzesbegründung soll der Sonderbedarfsanspruch angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen auf wenige Fälle begrenzt sein [BR Drs. 17/1465, S. 8 f.].

Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben ist vorliegend ein unabweisbarer besonderer Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II n. F. ausreichend glaubhaft gemacht.

Insbesondere hat der Staat über § 21 Abs. 6 SGB II auch solche existenzsichernden Leistungen zu erbringen, die sich auf die Teilhabechancen am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben beziehen, wenngleich dieses nur ein "Mindestmaß" an Teilhabe fordert [BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, aaO]. Freilich ist der Teilhabeanspruch auf die Mittel beschränkt, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind und die der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Eine andere Sichtweise liefe auf ein Missverständnis von Freiheit hinaus, bei dem verkannt würde, dass sich die persönliche Freiheit des Einzelnen nicht losgelöst von Funktionsfähigkeit und Gleichgewicht der Gesellschaft verwirklichen lässt und dass ein unbegrenztes subjektives Anspruchsdenken auf Kosten der Allgemeinheit unvereinbar mit dem Sozialstaatsgedanken ist.

Die "Bildung" des Einzelnen ist aus Sicht der Kammer aber ein unbedingt erforderliches Teilhaberecht, was die Heranziehung der Allgemeinheit in ihrem eigenen Interesse erfordert. Die moderne Soziologie sieht Bildung als wesentliches Element der Demokratisierung und Emanzipation; der Zugang zur Bildung soll im Gegensatz zum historischen Klassensystem über leistungsbezogene Prinzipien erfolgen und nicht über die Herkunft [Marshall in "Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates" 1992, S. 33-94]. Wesentliche Elementarkompetenzen der Bildung sind Wissen, Denken und Kommunikationsfähigkeit: Wissen umfasst dabei die Wissensinhalte, das Denken die unterschiedlichen Strategien des Erkenntnisgewinns wie Problemlösen, Beschreiben, Erklären, Interpretieren usw. Unter Kommunikationsfähigkeit kann in diesem Zusammenhang die Fähigkeit eines Menschen verstanden werden, seine Gedanken, Ideen, Thesen usw. anderen transparent zu machen und umgekehrt sich in die Gedankenwelt anderer aktiv hineinzuversetzen [Samsen/Fischer, "Bildung" fundus 2/2010, Quelle: www.fundus-verband-mdh.de]. Bildung ist damit unabdingbar für die individuelle Entwicklung, das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, und der Fortentwicklung des Gemeinwesens.

Dieser gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung entsprechend finden sich in den Ländergesetzen so z.B. § 1 Abs. 1 und 2 des Hessischen Schulgesetzes (HSchG) als Ausfluss des Grundrechtes in Art. 12 GG Hinweise darauf, dass jeder junge Mensch ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und seines Geschlechts ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung hat. Wenngleich sich der Teilhabeanspruch dabei vornehmlich auf den gleichberechtigten Zugang zur Bildungseinrichtung richtet [vgl. BSG, Urteil vom 28.10.2009 Aktenzeichen B 14 AS 44/08 R], wäre dieses Teilnahmerecht ohne die Gewährleistung der hierfür notwendigen finanziellen Rahmenbedingungen, wertlos und verkäme zur leeren Hülse. Durch viele Studien der letzten Jahre ist belegt, dass in der Bundesrepublik Deutschland Kinder und Jugendliche aus armen Haushalten nicht dieselben Chancen haben, am Bildungserfolg zu partizipieren wie Kinder und Jugendliche von besser situierten Eltern [vgl. Allmendinger, "Soziale Herkunft, Schule und Kompetenzen", Politische Studien, Sonderheft 3/2003, S. 79-90]. So haben zum Beispiel Kinder aus der oberen Einkommensschicht bei gleichen kognitiven Fähigkeiten eine sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als jene aus unteren bis mittleren Einkommensschichten [Bundestags-Drucksache 16/5253].

Der Zugang zu Bildung ist damit eine zentrale Aufgabe des Einsatzes öffentlicher Mittel, weil dadurch die Zukunftsperspektiven des Landes maßgeblich beeinflusst werden. Dabei ist sicherzustellen, dass der Zugang zur Bildung nicht nur formal gleichberechtigt allen Kindern und Jugendlichen offen steht, sondern dass auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Angebote tatsächlich beanspruchen zu können [Bundestags-Drucksache 16/4486]. Im Rahmen des SGB II gilt dies umso mehr, als der Gesetzeszweck originär die Förderung der Bildungs- und Teilhabechancen zum Inhalt hat. Dabei zeigen Erhebungen der Nachbarländer, dass die Arbeitslosigkeit immer noch stark vom Bildungsabschluss abhängig ist. Die Statistiken des Arbeitsmarktservice Österreich aus März 2009 zeigen beispielhaft, dass 46,9 Prozent der Arbeitslosen lediglich einen Pflichtschulabschluss besitzen, wohingegen Akademiker mit Abschluss mit 2,8 Prozent zu jener Gruppe gehören, welche die niedrigsten Arbeitslosenzahlen aufweisen [Quelle: www.ams.at/ docs/001 am bildung 0309.pdf] Damit bildet die Gewährung einer soliden Ausbildung die Grundlage, den Lebensunterhalt zukünftig durch Arbeit eigenständig sicherstellen und unabhängig von Sozialleistungen leben zu können. In einem solidarisch finanzierten Sozialstaat ist es daher schlichtweg nicht hinnehmbar, dass Eltern davon abgehalten werden, ihre Kinder eine weiterführende Schule besuchen zu lassen, weil sie den mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verbundenen Kostenaufwand finanziell nicht tragen können und deswegen auf eine zukunftsorientierte Ausbildung verzichten.

Ausgehend davon ist der Einsatz öffentlicher Mittel zur Übernahme der Schülerbeförderungskosten in der Situation der Antragstellerin geboten.

Der mit der Beförderung zur Schule verbundene Bedarf ist auch unabweisbar, um die Teilnahmechancen der Antragstellerin als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II angemessen zu fördern. Ohne die Fahrten zur Schule ist ihr eine Teilnahme am schulischen Unterricht/Praktikum nicht möglich. Ein Abbruch, bzw. die Nichtaufnahme der Ausbildung mangels finanzieller Möglichkeiten zum Aufbringen der Schülerbeförderungskosten ist der Antragstellerin wie oben bereits ausgeführt schlichtweg unzumutbar.

Auch handelt es sich bei dem zurückzulegenden Weg nicht bloß um eine unerhebliche Strecke, die auf andere Weise bewältigt werden könnte. Nach den Ermittlungen des Gerichts muss die Antragstellerin zweimal in der Woche einen Weg von 13 km und dreimal sogar einen Weg von 24 km zurücklegen. Ausgehend von einer realitätsnahen Bewertung der Sachlage ist ein Verweis auf die Zurücklegung der Strecke(n) zu Fuß oder zu Fahrrad nicht hinnehmbar. Nach allgemeiner Lebenserfahrung werden Wegstrecken dieser Größenordnung weder von Schülern, noch von Arbeitnehmern aus einkommensschwächeren Bevölkerungskreisen zu Fuß oder per Fahrrad bewältigt. Zudem dürfte auch zu berücksichtigen sein, dass die Witterungseinflüsse bei solchen Entfernungen ungleich höher sind, als bei kurzen Strecken und die mit Weg verbundenen Belastungen damit auch geeignet sind, sich negativ auf den schulischen Erfolg auszuwirken und damit die Teilhabechancen am Bildungserfolg zu verringern. Dieses Ergebnis wird auch durch die landesrechtlichen Regelungen zur Schülerbeförderung bestätigt, die ab einer Entfernung von 3 bis 5 km einen Beförderungsanspruch kodifizieren.

Auch handelt es sich um einen atypischen Bedarf, da Schülerbeförderungskosten gerade nicht jeden SGB II- Empfänger gleichermaßen treffen, sondern nur die, die wegen ihrer Fähigkeiten die Möglichkeiten haben, eine weiterführende Schule zu besuchen.

Der sich aus den Beförderungskosten ergebende Bedarf in Höhe von fast 62,- EUR pro Monat ist nach Auffassung des Gerichts zudem so hoch, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet und damit einen überdurchschnittlichen laufenden Bedarf ausmacht. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), an der sich die Zusammensetzung des Regelbedarfs orientiert, beinhaltet in Abteilung 07 zwar einen eigenen Anteil für Verkehr. Hierzu gehören auch die Kosten für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bzw. vergleichbare Beförderungskosten. Allerdings macht dieser Posten gerade einmal einen Anteil von 15,43 EUR aus, mit dem die oben genannten Kosten nicht einmal annähernd gedeckt werden könnten. Anhaltspunkte dafür, dass Dritte für die Kosten aufkommen oder sonstige Einsparmöglichkeiten existieren, sind nicht ersichtlich.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem möglichen Einwand, die Schülerbeförderung sei grundsätzlich in landesrechtlichen Vorschriften - hier in § 161 HSchG - geregelt.

Es ist nämlich zu beachten, dass es sich bei dem SGB II und SGB XII um Bundesgesetze handelt, die entgegenstehenden landesgesetzlichen Regelungen über die Kosten der Schülerbeförderung als Sozialleistung in außergewöhnlichen Lebenssituationen vorgehen. Die Normsetzungsbefugnis über die Grundsicherung für Arbeitssuchende und über die Sozialhilfe obliegt insoweit nicht den einzelnen Bundesländern, so dass landesrechtliche Regelungen keinerlei Sperrwirkung haben.

In Anbetracht der Tatsache, dass der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch zur Seite steht, sind an den Anordnungsgrund keine übersteigerten Anforderungen mehr zu stellen. Der Anordnungsgrund ergibt sich hier bereits daraus, dass monatlich in der Regel einen Betrag von 62,- EUR für die Beförderungskosten aus seinem Regelsatz bestreiten müsste. Dieser Betrag stellt 21,60 % des ihr zustehenden monatlichen Regelsatzes (287,00 Euro) dar, der zur Deckung sämtlicher Grundbedürfnisse zur Verfügung steht. Durch das Abwarten des Hauptsacheverfahrens würde sich dadurch eine erhebliche Mangellage ergeben, die nicht ohne weiteres wieder rückgängig gemacht werden könnte.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 2 SGG), da in der Hauptsache der Wert der Beschwer von 750 EUR nicht überschritten würde. Eine Zulassung der Beschwerde sieht das SGG nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved