L 14 AS 1599/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 104 AS 10259/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 1599/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin wird zurückgewiesen. Der Antrag auf vorläufige Erbringung eines höheren Zuschusses zu den Beiträgen für eine private Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit von Juni 2010 bis November 2010 wird abgelehnt. Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nicht durch § 172 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SGG) Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist allein die mit dem Antrag vom 24. März 2010 geltend gemachte vorläufige Erbringung eines höheren Zuschusses zu den Beiträgen des Antragstellers zu seiner privaten Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit von Dezember 2009 bis Mai 2010. Die Entscheidungen des Antragsgegners in den Bescheiden vom 28. Mai 2010 und 12. Juli 2010, dem Antragsteller für die Zeit von Juni 2010 bis November 2010 nur einen Zuschuss in Höhe von 126,05 Euro bzw. 18,04 Euro zu diesen Beiträgen zu gewähren, sind entgegen dessen Auffassung nicht nach § 96 SGG – auch nicht in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift – Gegenstand des beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahrens (S 104 AS 10259/10) geworden, da sie die Verwaltungsakte, die Gegenstand jenes Verfahrens sind, nicht ändern oder ersetzen (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, Urteile vom 25. Juni 2008 – B 11b AS 35/06 R –, vom 23. November 2006 – B 11b AS 9/06 R – so-wie vom 6. November 2006 – B 7b AS 14/06 R –). Der Rechtsschutz im einstweiligen Verfah-ren kann jedoch nicht weiter reichen als im Hauptsacheverfahren. Folgerichtig hat das Sozialgericht über diesen Zeitraum auch nicht entschieden.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Maßgebend sind dabei – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landesso-zialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennen-der Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO], 12. Er-gänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 des Grund-gesetzes (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anord-nungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist sie durch den Zeitablauf überholt; das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn ande-renfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen.

Hier besteht für eine – ohnehin nur vorläufige – Regelung kein schützenswertes Bedürfnis. Selbst wenn der Antragsgegner dem Antragsteller einen Zuschuss in der von diesem begehrten Höhe erbrächte, um Beitragsrückstände für die Zeit von Dezember 2009 bis Mai 2010 zu zah-len, verblieben Rückstände für die Zeit bis einschließlich November 2009. Das Ruhen der Leistungen der privaten Kranken- und Pflegeversicherung könnte durch die Zahlung der Beitragsrückstände lediglich für Dezember 2009 bis Mai 2010 (und im Übrigen auch für die Zeit ab Juni 2010) nicht beendet werden, da dafür die Zahlung aller rückständigen und der auf die Zeit des Ruhens entfallenden Beitragsanteile erforderlich wäre (§ 193 Abs. 6 Satz 5 des Versicherungsvertragsgesetzes [VVG]). Der Antragsteller hat aber nicht erklärt, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass und mit welchen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln er die verbleibenden Beitragsrückstände (für die Zeit bis November 2009) ausgleichen könnte.

Entscheidend kommt hinzu, dass der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass "die Leistungen" (vom Gesetzgeber gemeint wohl: "der Anspruch auf die Leistungen") der Kranken- und Pflegeversicherung überhaupt – weiterhin – ruhen. Er verweist zwar auf eine entsprechende Mitteilung seines Versicherers vom 6. Juli 2009. Nach § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG endet das Ruhen (des Anspruchs auf die Leistungen aus der Versicherung) aber auch, "wenn der Versi-cherungsnehmer oder die versicherte Person hilfebedürftig im Sinn des Zweiten oder Zwölften Buches Sozialgesetzbuch wird". Diese Regelung erfasst nicht nur die Fälle, in denen der Ver-sicherungsnehmer oder die versicherte Person während des (bereits eingetretenen) Ruhens hilfebedürftig "wird", sondern auch die, in denen er bzw. sie bereits vor dem Eintritt des Ruhens hilfebedürftig war (und weiterhin ist), (ebenso LSG für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem den vom Antragsteller angezogenen Beschluss des SG Gelsenkirchen vom 2. Oktober 2009 – S 31 AS 174/09 ER – aufhebenden Beschluss vom 5. Mai 2010 – L 7 B 379/09 AS ER – unter Hinweis auf Beschluss des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. März 2010 – L 19 AS 235/10 B ER – m.w.Nw.). Denn andernfalls würde – sinnwidrig – der Versicherungsnehmer bzw. die versicherte Person, der bzw. die bereits vor Eintritt der Hilfebedürftigkeit Zahlungsrückstände verursacht hat (etwa durch Zahlungsunwilligkeit trotz Zahlungsfähigkeit), besser stehen als der oder die, dessen (deren) Zahlungsrückstände erst mit oder nach Ein-tritt der Hilfebedürftigkeit entstanden sind.

Eine seine Hilfebedürftigkeit bestätigende Bescheinigung hat der Antragsgegner dem Antragsteller bereits im August 2010 zur Verfügung gestellt. Dieser hat danach nicht dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass sich sein Versicherer gleichwohl weiterhin darauf beruft, dass der Anspruch auf Leistungen ruht. Zudem hält es der Senat (ebenso wie das Bayerische LSG, Beschluss vom 21. April 2010 – L 7 AS 201/10 B ER –) für einem Hilfebedürftigen durchaus zumutbar, vor der Inanspruchnahme vorläufigen sozialrechtlichen Schutzes zunächst seine zivilrechtlichen Ansprüche gegenüber seinem Versicherer – ggfl. ebenfalls in einem gerichtlichen Eilverfahren – durchzusetzen bzw. zu klären.

Schließlich hat der Antragsteller weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sein Versicherer zur Behandlung schwerwiegenden Erkrankungen unabweisbare Leistungen in der Vergangenheit nicht erbracht hat oder dies unmittelbar droht. Der derzeit erkennbare Nachteil für den Antragsteller besteht augenscheinlich allein darin, dass seine Schulden allmonatlich wachsen. Dies ist jedoch kein schwerer und unzumutbarer Nachteil, der durch das Hauptsachverfahren nicht mehr beseitigt werden könnte (so bereits Bayerisches LSG, a.a.O.). Auch deshalb erscheint eine vorläufige Regelung nicht nötig (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – sog. Anordnungs-grund).

Es ist somit im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren zu klären, ob der Antragsteller nach der bestehenden Rechtslage einen höheren Zuschuss zu seinen Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung beanspruchen kann (so SG Stuttgart, Urteil vom 14. Januar 2010 – S 9 AS 5449/09 –, Revision anhängig beim BSG – B 14 AS 36/10 R – und LSG für das Saarland, Ur-teil vom 13. April 2010 – L 9 AS 15/09 –, Revision anhängig beim BSG – B 4 AS 108/10 R –).

Das vom Antragsteller erstmals mit der Beschwerde beim Landessozialgericht geltend gemachte Begehren, ihm (vorläufig) einen höheren Zuschusses zu den Beiträgen für seine private Kranken- und Pflegeversicherung – auch – für die Zeit von Juni 2010 bis November 2010 zu erbringen, ist unzulässig. Wie eingangs erwogen, sind die Entscheidungen des Antragsgegners in den Bescheiden vom 28. Mai 2010 und 12. Juli 2010 über die Höhe des Zuschusses nicht nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) – auch nicht in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift – Gegenstand des beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahrens geworden. Durchaus folgerichtig hat der Antragsteller deswegen denn auch eine weitere Klage (S 77 AS 30503/10) erhoben. Einen Antrag auf eine den dort streitbefangenen Zeitraum betreffende einstweilige Anordnung müsste er demgemäß beim insoweit zuständigen "Gericht der Haupt-sache" des ersten Rechtszugs stellen (§ 86b Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGG).

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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