S 9 AS 130/09

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Bremen (NSB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Bremen (NSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 130/09
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Holt die Behörde eine zuvor nicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung im Sinne von § 24 Abs 1 SGB X im gerichtlichen Verfahren gemäß § 41 Abs 2 SGB X nach, so muss am Ende dieses nachgeholten Anhörungsverfahrens eine weitere Entscheidung durch Verwaltungsakt stehen, die nach § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens wird.

Der Rechtsstreit ist auf einen Antrag nach § 114 Abs 2 S 2 SGG hin vom Tatsachengericht nicht auszusetzen, damit die Behörde eine im Sinne von § 24 Abs 1 SGB X nicht ordnungsgemäß durchgeführte Anhörung nachholen kann, wenn mit einem das nachzuholende ordnungsgemäße Anhörungsverfahren abschließenden, gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens werdenden Verwaltungsakt die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X nicht mehr gewahrt werden kann.
1. Der Bescheid des Beklagten vom 04. Juli 2008 in der Ge-stalt des Änderungsbescheides vom 09. Januar 2009, die-ser wiederum in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 12. Januar 2009, wird aufgehoben. 2. Der Beklagte hat den Klägerinnen die diesen entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Berechtigung des Beklagten, der gemäß § 76 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch 2 (SGB II) aufgrund des zum 01. Januar 2011 erfolgten Wechsels der Organisationsform an die Stelle der zuvor zuständigen Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) in das gerichtliche Verfahren eingetreten ist (weshalb der besseren Lesbarkeit wegen im Folgenden das Wort "Beklagter" synonym für beide Organisa-tionsformen Verwendung findet), zur teilweisen Aufhebung seiner der Klägerin zu 2. Leistun-gen für die Monate August und September 2007 bewilligenden Entscheidung sowie die Ver-pflichtung der Klägerin zu 2. zur Erstattung von 138,00 Euro.

Der Beklagte bewilligte der Klägerin zu 1. und der 2002 geborenen Klägerin zu 2., die die Tochter der Klägerin zu 1. ist, durch Bescheid vom 16. April 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 28. April bis zum 30. September 2007 einschließlich. Als Einkommen der Klägerin zu 2. rechnete er dabei auf deren Leistungsan-spruch Kindergeld in Höhe von monatlich 154,00 Euro sowie Zahlungen nach dem Unter-haltsvorschussgesetz (UVG) in Höhe von 127,00 Euro monatlich an.

Am 20. August 2007 teilte dann die Klägerin zu 1. gegenüber dem Beklagten telefonisch mit, dass der Vater der Klägerin zu 2. für diese jetzt ab dem 01. August 2007 Unterhalt in Höhe von 196,00 Euro monatlich zahle. Eine Neuberechnung des Leistungsanspruchs ab August 2007 wurde seitens des Beklagten dennoch erst Ende Juni 2008 vorgenommen.

Mit Schreiben vom 24. Juni 2008 hörte der Beklagte dann die Klägerin zu 1. dazu an, dass sowohl sie als auch die (gesetzlich von ihr vertretene) Klägerin zu 2. in der Zeit vom 01. August 2007 bis zum 30. Juni 2008 insgesamt 759,00 Euro an Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu Unrecht bezogen hätten, weil statt monatlicher Zahlungen nach dem UVG in Höhe von 127,00 Euro Unterhaltszahlungen des Kindsvaters in Höhe von 196,00 Euro monatlich zugeflossen seien. Der Klägerin zu 1. wurde ein Schuldvor-wurf im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) gemacht. Ferner wurden die zurück zu fordernden 759,00 Euro nach Leistungsberechtigten, Leistungszeiträu-men, Leistungsarten und jeweiligen Leistungshöhen aufgeschlüsselt.

Ohne den Ablauf der selbst gesetzten Anhörungsfrist (am 11. Juli 2008) abzuwarten, erließ der Beklagte am 04. Juli 2008 einen auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X sowie auf § 50 SGB X gestützten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des angekündigten Inhaltes. Auch dieser wies – ebenso wie das Anhörungsschreiben vom 24. Juni 2008 – eine differenzierte Darstel-lung des Gesamtrückforderungsbetrages in Höhe von 759,00 Euro auf. Auf die Klägerin zu 2. sollten danach – u. a. Erstattungsbeträge in Höhe von 53,43 Euro für den Monat August 2007 und in Höhe von 69,00 Euro für den Monat September 2007 (jeweils wegen erbrachter Leis-tungen für Unterkunft und Heizung) entfallen.

Gegen diesen Bescheid legten die Klägerinnen am 09. Juli 2008 Widerspruch ein.

Die gegebene Begründung, auf deren Inhalt an dieser Stelle Bezug genommen wird, nahm der Beklagte zum Anlass, unter dem 09. Januar 2009 einen Bescheid zu verfassen, mit dem der angegriffene Bescheid vom 04. Juli 2008 hinsichtlich der Klägerin zu 1. in Gänze und hin-sichtlich der Klägerin zu 2. in Bezug auf den Zeitraum vom 01. Oktober 2007 bis zum 30. Juni 2008 einschließlich aufgehoben wurde. Ferner wurde die teilweise Aufhebung des mit Be-scheid vom 16. April 2007 der Klägerin zu 2. bewilligten Leistungsanspruchs jetzt auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt und es wurden von der Klägerin zu 2. sowohl für den Mo-nat August 2007 als auch für den Monat September 2007 jetzt jeweils 69,00 Euro zurückge-fordert.

Dementsprechend erließ der Beklagte am 12. Januar 2009 einen - dem Widerspruch teilweise stattgebenden – Widerspruchsbescheid, mit dem zusammen auch der Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 bekannt gegeben wurde. Auch im Widerspruchsbescheid wurde die getroffene Aufhebungsentscheidung jetzt auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt. Ferner wurde durch den Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 entschieden, dass die im Wi-derspruchsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendun-gen zu acht Zehntel erstattet würden.

Gegen den Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 haben die Klägerinnen am 27. Januar 2009 vor dem Sozialgericht Anfechtungsklage erhoben, mit der sie allerdings – wohl hilfsweise für den Fall einer Klageabweisung – auch die Verurteilung des Beklagten erreichen wollen, ihnen die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung im Widerspruchs-verfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen in voller Höhe zu erstatten. Die Klageer-hebung auch durch die Klägerin zu 1. begründet diese damit, dass sie nicht Schuldnerin der geforderten Summe sei. Wegen der weiteren Einzelheiten der gegebenen Klagebegründung wird an dieser Stelle Bezug genommen auf den Inhalt des Klageschriftsatzes vom 27. Januar 2009.

Die Klägerin zu 2. beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 04. Juli 2008 in der Gestalt des Änderungs-bescheides vom 09. Januar 2009, beide wiederum in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 12. Januar 2009, aufzuheben.

Ferner beantragen die Klägerinnen hilfsweise, den Beklagten unter Abänderung der von ihm im Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 getroffenen Kostenentscheidung dazu zu verurteilen, ihnen die im Widerspruchsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung ent-standenen notwendigen Aufwendungen in voller Höhe zu erstatten.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Wegen der von ihm abgegeben Klageerwiderung wird an dieser Stelle Bezug genommen auf den Inhalt seines Schriftsatzes vom 11. Juni 2009.

Die Klägerinnen bezweifeln im Übrigen jetzt auch sowohl die Beteiligtenfähigkeit des Beklag-ten nach § 70 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als auch dessen Passivlegitimation.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Ge-richtsakte verwiesen. Die Verwaltungsakte des Beklagten hat bei der Entscheidung vorgele-gen. Auf deren Inhalt wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 54 Abs. 1 SGG statthafte sowie form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.

Sie richtet sich jetzt gegen das Jobcenter Bremen als Rechtsnachfolger der BAgIS. Die gegen dessen Beteiligtenfähigkeit und Passivlegitimation von den Klägerinnen vorgebrachten ver-fassungsrechtlichen Bedenken teilt die erkennende Kammer nicht.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 04. Juli 2008 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 09. Januar 2009, dieser wiederum in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides vom 12. Januar 2009, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. Sie haben daher Anspruch auf Aufhebung dieser vom Beklagten (bzw. seiner Rechtsvorgängerin) erlassenen Bescheide.

An dieser der Klage stattgebenden Entscheidung sah sich die erkennende Kammer trotz des vom Bevollmächtigten des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung gestellten Aus-setzungsantrages gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht gehindert. Nach dieser Norm kann das Gericht die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist. Dies hat die Kammer allerdings nicht zu bejahen vermocht, weil nach ihrer Auffassung selbst im Falle einer Aussetzung des Verfahrens und nach ordnungsgemäßer Nachholung der erforderlichen Anhörung durch den Beklagten keine rechtmäßige Entscheidung stehen kann (siehe hierzu ausführlich weiter un-ten). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsauffassung würde eine Aussetzung des Verfahrens keine verfahrensbeschleunigende, sondern im Gegenteil eine verfahrensverzögernde Wirkung entfalten. Ein solcher Effekt ist gerade nicht im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdien-lich.

Die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Bescheide des Beklagten beruht auf Verstößen gegen § 24 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Norm ist einem Beteiligten, bevor ein Verwaltungsakt erlas-sen wird, der in dessen Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entschei-dung erheblichen Tatsachen zu äußern. Gegen diese Verpflichtung hat der Beklagte gleich Mehrfach verstoßen.

So hat er in seinem Anhörungsschreiben vom 24. Juni 2008 den Klägerinnen eine Frist zur Stellungnahme bis zum 11. Juli 2008 gewährt. Seinen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid hat er dann aber bereits unter dem 04. Juli 2008 erlassen. Insoweit ist allerdings festzustellen, dass der hierin zu sehende Anhörungsfehler mit der Durchführung des Widerspruchsverfah-rens geheilt worden ist.

Ausweislich seines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 04. Juli 2008 hat der Be-klagte von der Klägerin zu 2. zunächst für den Monat August 2007 lediglich 53,43 Euro zu-rückgefordert. Mit dem Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 hat er dann allerdings inso-weit einen Erstattungsbetrag in Höhe von 69,00 Euro geltend gemacht. Zu einem Betrag in dieser Höhe sind die Klägerinnen aber zu keinem Zeitpunkt angehört worden.

Schließlich ist vom Beklagten sowohl in seinem Anhörungsschreiben vom 24. Juni 2008 als auch in seinem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 04. Juli 2008 als Eingriffsgrundla-ge § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X angeführt worden. Nach dieser Norm ist eine Aufhebungs-entscheidung mit Wirkung für die Vergangenheit zulässig, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebenden Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekom-men oder ganz oder teilweise weggefallen ist. An einem derartigen, den Klägerinnen zunächst gemachten Schuldvorwurf ist dann aber vom Beklagten im Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 und im Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 nicht mehr festgehalten worden (was der Sache nach auch nicht zu halten gewesen wäre, weil die Klägerinnen, nach-dem die Klägerin zu 1. am 20. August 2007 telefonisch gegenüber dem Beklagten mitgeteilt hatte, dass der Vater der Klägerin zu 2. für diese jetzt ab dem 01. August 2007 Unterhalt in Höhe von 196,00 Euro monatlich zahle und nachdem hierauf zeitnah keinerlei Reaktion des Beklagten erfolgt war, fortan darauf vertrauen durften, dass dann wohl auch weiterhin alles seine Richtigkeit habe). Vielmehr ist als Eingriffsgrundlage im Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 und im Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 erstmalig § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X angeführt worden. Zu dieser – in der Tat einschlägigen (Erzielung von – höherem - anzurechnendem Einkommen) – Aufhebungsalternative des § 48 SGB X sind die Klägerinnen jedoch zu keiner Zeit angehört worden. Zudem ist ihnen der Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 zusammen mit dem Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2009 be-kannt gegeben worden, wodurch sie mit Abschluss des Widerspruchsverfahrens "vor vollen-dete Tatsachen gestellt" worden sind. Ihnen ist vom Beklagten somit keine Möglichkeit mehr gegeben worden, die von ihm getroffene letzte Verwaltungsentscheidung argumentativ zu beeinflussen. Hierin liegt der entscheidende Verstoß des Beklagten gegen § 24 Abs. 1 SGB X, der die angefochtenen Bescheide rechtswidrig macht.

Der aus dieser Rechtswidrigkeit folgende Aufhebungsanspruch der Klägerin zu 2. scheitert auch nicht an der Bestimmung des § 42 Satz 1 SGB X. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 40 SGB X nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtli-che Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Ob letzteres hier der Fall gewesen ist, kann dahin stehen bleiben, da § 42 Satz 1 SGB X nach Satz 2 dieser Norm nicht gilt, wenn die er-forderliche Anhörung unterblieben "oder" (korrekt müsste es heißen: "und") nicht wirksam nachgeholt ist. Als "erforderliche Anhörung" in diesem Sinne kann nur eine fehlerfrei durchge-führte Anhörung verstanden werden. An einer solchen hat es hier jedoch gerade gefehlt. Sie ist zwischenzeitlich vom Beklagten auch nicht wirksam nachgeholt worden.

Allerdings eröffnet § 41 Abs. 2 SGB X (in der seit dem 01. Januar 2001 geltenden Fassung) die Möglichkeit, u. a. die erforderliche (ordnungsgemäße) Anhörung eines Beteiligten bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachzuho-len. Eine solche Möglichkeit hätte somit auch hier bestanden, weshalb vom Bevollmächtigten des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung auch beantragt worden ist, das Verfah-ren nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG auszusetzen, um ein ordnungsgemäßes Anhörungsverfah-ren nachzuholen. Die erkennende Kammer hat aber das Vorliegen der tatbestandlichen Vor-aussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht zu bejahen vermocht und deshalb das Ver-fahren nicht ausgesetzt. Grund für diese Entscheidung ist, dass ein am Ende eines nachge-holten und ordnungsgemäß durchgeführten Anhörungsverfahrens nur ein Bescheid, der nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden wäre, hätte stehen können, der ebenfalls rechtswidrig ist.

Um dies nachvollziehen zu können, muss man sich zunächst die drei Zwecke vor Augen füh-ren, denen die sich aus § 24 Abs. 1 SGB X ergebende Anhörungspflicht dient:

• Sie soll dem Beteiligten bereits im Verwaltungsverfahren die Möglichkeit sichern, alle ihm günstigen rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die für die Entscheidung er-heblich werden können, vorzubringen (insoweit ist dieser Zweck vergleichbar dem, der den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren dienen soll)

• Die Anhörungspflicht soll den Beteiligten aber auch vor Überraschungseingriffen der Behörde schützen

• Schließlich soll sie das Vertrauen des Beteiligten auf eine unvoreingenommene und unparteiliche wie ergebnisoffene und sorgfältige Verfahrensleitung der zum Eingriff be-rufenen Behörde stärken.

Ist das Anhörungsverfahren bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens (durch die Be-kanntgabe des Widerspruchsbescheides) nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, führt die damit gegebene Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes zunächst einmal zu einem Aufhe-bungsanspruch des das Gericht anrufenden Klägers gemäß § 42 SGB X (s. o.). Allerdings sieht § 41 Abs. 2 SGB X (in der seit dem 01. Januar 2001 geltenden Fassung) die Möglichkeit der Vernichtung dieses Aufhebungsanspruches des Klägers auch noch im gerichtlichen Ver-fahren I. und II. Instanz vor, wenn die Behörde die gebotene Anhörung ordnungsgemäß nachholt und diese Nachholung "wirksam" ist, sie also dazu führt, dass die Position des Betei-ligten – soweit dies objektiv in einem solchen Verfahrensstadium überhaupt noch möglich ist – in vollem Umfang wiederhergestellt wird (Grundsatz der sogenannten realen Fehlerheilung). Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine "vollwertige" Nachholung der durch die Be-stimmung des § 24 Abs. 1 SGB X gebotenen Handlungen nur bedingt möglich ist. Denn die Behörde hat den Zweck des Schutzes des Beteiligten vor Überraschungsentscheidungen be-reits dadurch vereitelt, dass ihrer letztlich getroffenen Verwaltungsentscheidung keine ord-nungsgemäße Anhörung voraus gegangen ist. Lediglich die beiden anderen Zwecke der ge-setzlich nominierten Anhörungspflicht könne nach einer Anrufung der Sozialgerichte durch die Nachholung einer ordnungsgemäßen Anhörung - zumindest teilweise – noch erreicht werden. So kann der Beteiligte durch die Darstellung seiner eigenen Sicht der Dinge auf die letzte maßgebliche Verwaltungsentscheidung im Sinne deren nachträglicher Überprüfung noch bedingt einwirken; ferner kann die Behörde durch eine vollständige und verständliche Mittei-lung der entscheidungserheblichen Tatsachen und durch sorgfältige Überprüfung ihrer Ent-scheidung doch noch zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses im partnerschaftlichen Ver-waltungsverfahren beitragen.

Eine wenigstens diesen Zwecken der Anhörungspflicht entsprechende Nachholung einer ord-nungsgemäßen Anhörung setzt demgemäß voraus, dass die Behörde vor Abschluss der ge-richtlichen Tatsacheninstanzen all die Handlungen vornimmt, die nach § 24 Abs. 1 SGB X bereits vor Erlass des Eingriffsaktes hätten vorgenommen werden müssen. Sie muss also dem Beteiligten alle Haupttatsachen mitteilen, auf die sie ihren Eingriff gestützt hat oder jetzt stützen will (soweit dies bereits geschehen ist, genügt allerdings ein entsprechender Hinweis). Ferner muss die Behörde dem Beteiligten eine angemessene Frist zur Äußerung ihr gegen-über geben. Nimmt der Beteiligte gegenüber der eingreifenden Behörde Stellung, so muss sie sein Vorbringen zur Kenntnis nehmen und überprüfen, ob sie den angefochtenen Verwal-tungsakt ganz oder teilweise aufhebt oder aber ihn bestätigt. Äußert sich der Beteiligte ge-genüber der eingreifenden Behörde nicht, muss diese gleichwohl ihm und dem Gericht ihre Entscheidung darüber mitteilen, ob sie den angefochtenen Verwaltungsakt, d. h. die mit dem Staatsakt getroffene Regelung, bestätigt, aufhebt oder abändert. Diese das nachgeholte, ord-nungsgemäß durchgeführte Anhörungsverfahren abschließende Entscheidung über die Bes-tätigung, Aufhebung oder Abänderung der im Gerichtsverfahren angefochtenen Verfügungen ist nach Auffassung der erkennenden Kammer selbst ein Verwaltungsakt, der dann gemäß § 96 Abs. 1 SGG (gegebenenfalls anstelle des bislang angefochtenen Verwaltungsakts) zum Gegenstand der Klage wird. Die erkennende Kammer schließt sich insoweit den Ausführun-gen des Bundessozialgerichtes (BSG) in seinem Urteil vom 31. Oktober 2002 zum Aktenzei-chen B 4 RA 15/01 R an (vgl. dazu auch das Urteil des BSG vom 06. April 2006 zum Akten-zeichen B 7a AL 64/05 R, wonach eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren ein entsprechendes "mehr oder minder förmliches Verwaltungsverfahren" voraussetzt, sowie das Urteil des BSG vom 09. November 2010 zum Aktenzeichen B 4 AS 37/09 R, in dem die Rede davon ist, dass die Behörde zum Abschluss des nachgeholten Anhörungsverfahrens zu er-kennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung der Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungs-akt festhält, sich jedenfalls abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert und dem Be-teiligten zuvor Gelegenheit dazu gegeben hat, durch sein Vorbringen zum entscheidungser-heblichen Sachverhalt deren bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen).

Für die erkennende Kammer steht somit fest, dass nach einer Aussetzung des Verfahrens gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG und der ordnungsgemäßen Nachholung des Anhörungsver-fahrens an deren Ende eine neue Verwaltungsentscheidung des Beklagten zu stehen hätte. Sollte diese gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens werdende Entschei-dung die durch Änderungsbescheid vom 09. Januar 2009 getroffene Verwaltungsentschei-dung bestätigen, so wäre sie dennoch rechtswidrig, weil sie nicht mit § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der nach § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X bei einer Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 SGB X entsprechend anwendbar ist, vereinbar sein würde. Denn nach § 48 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X muss die Behörde einen Verwaltungsakt mit Wir-kung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufheben, welche die Aufhebung eines rechtswidrig gewordenen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die genannte einjährige Ausschlussfrist auch für einen Aufhebungsbescheid uneingeschränkt gilt, der an die Stelle eines denselben Gegenstand regelnden, zwar fristgemäß erteilten, aber we-gen Rechtswidrigkeit aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheides tritt (vgl. dazu das Ur-teil des BSG vom 27. Juli 1989 zum Aktenzeichen 11/7 RAr 115/87). Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X bewirkt also, dass die Behörde ein Jahr nach Kenntnis von einem Auf-hebungsgrund das Recht verliert, den Verwaltungsakt aus diesem Grund mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben. Diese zeitliche Begrenzung der Aufhebungsbefugnis für die Ver-gangenheit dient nicht etwa dem Vertrauensschutz, sondern der Rechtssicherheit (vgl. dazu die beiden Urteile des 11. Senats des BSG vom 27. Juli 1989, a. a. O. bzw. zum Aktenzeichen 11 RAr 7/88; sich dem anschließend auch der 7. Senat des BSG in seinem Urteil vom 15. Februar 1990 zum Aktenzeichen 7 RAr 28/88 sowie der 7a. Senat des BSG in seinem Urteil vom 06. April 2006, a. a. O). Dementsprechend hat das BSG in seinem oben zunächst genannten Urteil vom 27. Juli 1989 auch klar gestellt, dass die nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X geltende Jahresfrist durch einen aufzuhebenden früheren Aufhebungsbescheid weder ge-wahrt noch unterbrochen wird (Leitsatz 2.).

Die bei der Aufhebung eines rechtswidrig gewordenen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X zu beachtende Jahresfrist beginnt mit der Kenntnis der Tatsachen, welche die Aufhe-bung eines rechtswidrig gewordenen begünstigten Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Dies ist spätestens zu dem Zeitpunkt der Fall, an dem die Bewilligung erstmalig aufgehoben worden ist. Das war im hier zu entscheidenden Fall der 04. Juli 2008. Somit hätte für den Beklagten allenfalls noch bis zum 04. Juli 2009 die Möglichkeit bestanden, unter Wahrung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X als Ergebnis einer nachgeholten ordnungsgemäßen Anhörung einen neuen, rechtmäßigen Aufhebungsbescheid zu erlassen. Da diese Möglichkeit somit zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr bestanden hat, war nicht nur dem gestellten Aussetzungsantrag nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht zu entsprechen, sondern der Klage war auch stattzugeben.

Die getroffene Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Durch sie ist insbesondere mitberücksichtigt worden, dass auch die Klägerin zu 1. ein Interesse daran gehabt hat, dass die auch ihr im Rahmen des Widerspruchsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsvertei-digung entstandenen notwendigen Aufwendungen in voller Höhe, und nicht nur zu acht Zehn-tel, vom Beklagten erstattet werden.

Da die erkennende Kammer den Gründen, die sie dazu veranlasst haben, die tatbestandli-chen Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG hier zu verneinen, grundsätzliche Be-deutung beigemessen hat, war die Berufung nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Landessozialgericht Nie-dersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder bei der Zweigstelle des Landessozial-gerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Nieder-schrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem

Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen

schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begrün-dung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

Ist das Urteil im Ausland zuzustellen, so gilt anstelle der oben genannten Monatsfrist eine Frist von drei Monaten.

Der Berufungsschrift und allen folgenden Schriftsätzen sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

gez. X. Richter am Sozialgericht
Rechtskraft
Aus
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