L 16 AS 220/12 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 AS 51/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 220/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
wegen einstweiliger Anordnung
Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend festzustellen. Aufgrund der vorzunehmenden Folgenabwägung sind Leistungen im ER-Verfahren vorläufig zu gewähren.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg vom 14.02.2012 wird zurückgewiesen.

II. Der Beschwerdeführer trägt die außergerichtliche Kosten der Beschwerdegegner.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 01.02.2012 streitig.

Die Beschwerdegegner (Bg) sind bulgarische Staatsangehörige. Der 1959 geborene Bg zu 1), lebt seit August 2009 in der Bundesrepublik Deutschland. Seine 1964 geborene Ehefrau lebt seit Juni 2010 und der 1990 geborene Bg zu 3) seit August 2009 in Deutschland. Die Bg zu 2) und 3) legten eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht nach § 5 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) vor. Sie verfügen seit September bzw. Oktober 2011 über eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitsberechtigung-EU nach § 284 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III).

Die Bg zu 1) und 3) waren unständig, tage- bzw. wochenweise, sozialversicherungspflichtig beschäftigt; nach Aktenlage zuletzt im August 2011 bzw. März 2011.

Für die Zeit von August 2011 bis Januar 2012 waren den Bg vom Beschwerdeführer (Bf) mit Bescheid vom 05.08.2011 (in der Fassung der Änderungsbescheide vom 29.08.2011 und 10.10.2011) Leistungen nach dem SGB II bewilligt worden.

Den Weiterbewilligungsantrag vom 19.01.2012 für die Zeit ab dem 01.02.2012 lehnte der Bf mit Bescheid vom 25.01.2012 ab, da die Bg die Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 SGB II nicht erfüllen würden. Sie seien bulgarische Staatsbürger und würden nicht mehr über einen Arbeitnehmerstatus verfügen, da sie keine 12 Monate durchgehend in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hätten. Sie seien daher nicht in der Lage einen erheblichen Anteil zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zu erbringen. Der Antrag werde daher nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 7 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 SGB II abgelehnt. Über den dagegen erhobenen Widerspruch vom 30.01.2012 wurde, nach Aktenlage, noch nicht entschieden.

Am 31.01.2012 stellten die Bg beim Sozialgericht Regensburg einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz. Sie hätten keine Mittel für die Sicherung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung und seien auch nicht krankenversichert.

Der Bf führte zur Erwiderung aus, dass für ein halbes Jahr Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden hätte, da aufgrund der dokumentierten Beschäftigungszeiten ein "Arbeitnehmerstatus" für ein halbes Jahr erlangt worden sei. Ein unbefristeter Arbeitnehmerstatus setze jedoch eine durchgehende Beschäftigungszeit von einem Jahr voraus, die die Bg nicht erfüllen würden.

Mit Beschluss des Sozialgerichts vom 14.02.2012 wurde der Bf verpflichtet, den Bg für die Zeit vom 01.02.2012 bis zum 31.07.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zu zahlen. Das Sozialgericht hielt einen Anspruch der Bg auf Leistungen nach dem SGB II für möglich, da der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform auszugestalten sei. Aufgrund einer Folgenabwägung gewährte das Sozialgericht Leistungen.

Mit Bescheid vom 20.02.2012 gewährte der Bf in Ausführung des Beschlusses des Sozialgerichts Regensburg für die Zeit von Februar bis Juli 2012 den Bg Leistungen in Höhe von monatlich 1323,00 EUR.

Der Bf hat am 14.03.2012 Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts eingelegt und zur Begründung vorgetragen, dass die Bg zu 1) und 3) unständige Tätigkeiten von insgesamt weniger als einem Jahr ausgeübt hätten. Daher hätten sie gemäß § 2 Abs. 3 FreizügG/EU lediglich einen Status für die Dauer von sechs Monaten erhalten. Außerdem sei es bereits fraglich, ob die Zeiten einer unständigen Beschäftigung zu addieren sind.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Bf Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172,173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung) ist nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile umschreibt den sogenannten Anordnungsgrund (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl das zu sichernde Recht, der sogenannte Anordnungsanspruch, als auch der Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit, glaubhaft gemacht sind (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO) oder nach Durchführung der von Amts wegen im Eilverfahren möglichen und gebotenen Ermittlungen glaubhaft erscheinen.

Glaubhaftigkeit bedeutet, dass für das Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich ist als die volle richterliche Überzeugung. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit insoweit genügt, ist bei unklaren Erfolgsaussichten in der Hauptsache nach einer umfassenden Abwägung der Interessen aller Beteiligten und der öffentlichen Interessen zu bestimmen: Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch besteht, gegen die Folgen, die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch nicht besteht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., 2012, § 86b Rdnr. 29a).

Sofern dabei auf Seiten des Anordnungsgrundes das Existenzminimum eines Menschen bedroht ist, genügt für die Glaubhaftigkeit des Anordnungsanspruchs ein geringer Grad an Wahrscheinlichkeit, nämlich die nicht auszuschließende Möglichkeit seines Bestehens. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit entschieden, dass in Fällen, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums geht, eine Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund fehlender Erfolgsaussichten der Hauptsache nur dann zulässig ist, wenn das Gericht die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend geprüft hat (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 Az. 1 BvR 569/05 = NJW 2005, 2982 und Beschluss vom 06.02.2007 Az. 1 BvR 3101/06, unveröffentlicht). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die Gerichte eine Verletzung der Grundrechte des Einzelnen, insbesondere der Menschenwürde, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, zu verhindern haben.

Unstreitig liegt Eilbedürftigkeit und somit ein Anordnungsgrund für die beantragte Regelungsanordnung vor, da die Bg nicht über die notwendigen finanziellen Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes verfügen.

Das Bestehen eines Anordnungsgrunds im Sinne eines Leistungsanspruches hält der Senat zumindest für möglich.

Die Bg sind unstreitig hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB II. Sie haben auch das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, sie sind erwerbsfähig und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bg zu 1) und zu 3) haben eine unbeschränkte Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art für das gesamte Bundesgebiet gemäß § 284 Abs. 1 S. 2 SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit erhalten.

Ob die Bg als bulgarische Staatsangehörige zu dem Kreis der erwerbsfähigen, leistungsberechtigten aber ausgeschlossenen Ausländer nach § 7 Abs.1 S. 2 SGB II gehören, kann nicht abschließend beurteilt werden. Der Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II, wonach Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörige in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland generell aus dem Kreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ausgeschlossen sind, kommt ersichtlich nicht in Betracht. Auf diesen Ausschlussgrund beruft sich der Bf auch nicht.

Als einziger Ausschlussgrund kommt § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Der Bf geht davon aus, dass die Bg lediglich ein Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU haben. Da die Bg zu 1) und 3) eine Arbeitserlaubnis nach § 284 SGB III besitzen, ist gemäß § 13 FreizügG/EU das Freizügigkeitsgesetz/EU auch für Staatsangehörige der Republik Bulgarien anzuwenden. Nach Aktenlage kann derzeit der Aufenthaltstitel der Bg nicht überprüft werden. Den Bg zu 1) und 3) wurde nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht, bestätigt, ohne die Rechtsgrundlage für dieses Aufenthaltsrecht zu benennen. Daher kann nicht abschließend beurteilt werden, ob die Bg ihr Aufenthaltsrecht lediglich aus dem Zweck der Arbeitssuche ableiten und so der Anwendungsbereich der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eröffnet ist (vgl. hierzu auch Beschluss des Senats vom 22.12.2010, L 16 AS 767/10 B ER) oder ob sie ein Aufenthaltsrecht aufgrund einer anderen Regelung, z.B. nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. oder Abs. 3 FreizügG/EU (wegen einer bestehenden oder früheren Beschäftigung als Arbeitnehmer) haben.

Ob die Bg ein nicht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben, kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dahinstehen. Es ist jedenfalls zweifelhaft und in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II geregelte Leistungsausschluss für Unionsbürger europarechtskonform ist (vgl. z.B. Beschluss des Senats vom 22.12.2010, L 16 AS 767/10 B ER ; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 11.03.2011, L 13 AS 51/11 B ER und vom 11.08.2011, L 15 AS 188/11 B ER ; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.06.2011, L 25 AS 535/11 B ER ; Hessisches LSG, Beschluss vom 14.07.2011, L 7 AS 107/11 B ER). Gemäß § 30 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) geht über- und zwischenstaatliches Recht dem inländischen Recht vor. Nach Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.
Der Senat hat die in Rechtsprechung und Literatur geäußerten Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit europäischem Gemeinschaftsrecht im Beschluss vom 22.12. 2010 geteilt. Es ist zwischenzeitlich noch immer nicht geklärt, ob sich der bundesdeutsche Gesetzgeber auf die Vorschrift des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG berufen kann. Diese Ausnahmevorschrift gestattet es, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen denen dieser Status erhalten bleibt und ihren Familienangehörigen keine Ansprüche auf "Sozialhilfe" zu gewähren. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aus Art. 45 AEUV, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union gewährt, für Unionsbürger, die zum Zweck der Arbeitssuche aufenthaltsberechtigt sind, einen Anspruch auf Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, abgeleitet (vgl. EuGH vom 04.06.2009,Rs. C 22/08, 23/08). Entscheidend ist daher die Frage, wie die Leistungen nach dem SGB II europarechtlich einzuordnen sind. Sind die Leistungen nach dem SGB II als Ansprüche auf "Sozialhilfe" zu qualifizieren - dann kann ein Leistungsausschluss europarechtskonform möglich sein- oder sind die Leistungen nach dem SGB II Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, dann erscheint ein unbefristeter Leistungsausschluss mit Unionsrecht unvereinbar.

Die Frage der Europarechtskonformität der Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für arbeitsuchende Unionsbürger kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden, so dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen bezeichnet werden muss (vgl. hierzu im Einzelnen Beschluss vom 22.12.2010). Die folglich anhand einer Folgenabwägung zu treffende Entscheidung führt dazu, dass im Hinblick auf die zur Sicherung des Existenzminimums erforderlichen Leistungen das Interesse der Antragsteller an einer vorläufigen Leistungsgewährung höher zu bewerten ist. Das rein fiskalische Interesse des Bf muss insoweit zurückstehen.
Daher ist die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Regensburg zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs.1 Satz 1 SGG in entsprechender Anwendung.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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