L 8 AL 1225/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AL 5168/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AL 1225/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Alg-Anspruch eines vormaligen Grenzgängers, der vor der Arbeitslosigkeit wieder in seinem Wohnsitzland Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt war, ist nach Art. 62 Abs. 1 EU-VO Nr. 883/2004, der wortgleich mit Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EG-VO 1408/71 ist, nicht fiktiv nach § 152 SGB III, sondern in entsprechender Anwendung von § 151 SGB III zu bemessen (a.A. LSG Ba.-Württ. Urteil v. 19.10.2011 - L 3 AL 5476/10 - zu EG-VO 1408/71, juris).
Die eine fiktive Bemessung anordnende Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit widerspricht früherem und aktuellem EG-Recht.
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des der Klägerin bewilligten Arbeitslosengeldes für den Zeitraum vom 19.08.2010 bis 30.11.2010 streitig.

Die 1964 geborene Klägerin meldete sich am 03.08.2010 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Sie gab hierbei an, sie habe von 1986 bis Juni 2010 in der Schweiz gearbeitet und sei während ihrer Auslandsbeschäftigung täglich an ihren Wohnort in Deutschland zurückgekehrt. Von 1990 bis zum Januar 2006 sei sie als Krankenschwester in S. (Schweiz) und von Januar 2006 bis Juni 2010 als Teamleitung/Pflegedienstleitung in einem Altersheim in S. (Schweiz) beschäftigt gewesen (Jahresverdienst 91.800 CHF). Zuletzt sei sie vom 01.07.2010 bis 15.08.2010 im Altersheim B. in K. (Deutschland) beschäftigt gewesen. Das Arbeitsverhältnis sei von ihrem Arbeitgeber in der Probezeit am 30.07.2010 zum 15.08.2010 gekündigt worden.

Ausweislich der Arbeitsbescheinigung der B. P. GmbH erzielte die Klägerin während ihrer Beschäftigung Arbeitsentgelt in Höhe von brutto 2.838,71 EUR für den Monat Juli 2010 und 2.489,33 EUR für den Zeitraum vom 01.08. bis 15.08.2010, wobei in diesem Zeitraum noch eine Urlaubsabgeltung in Höhe von 553,85 EUR berücksichtigt wurde. Der Urlaub hätte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bis 18.08.2010 angedauert. Die Beklagte erließ am 27.08.2010 einen Ruhensbescheid, wonach der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 16.08.2010 bis 18.08.2010 gemäß § 143 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) ruhe. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Bescheid vom 27.08.2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin Alg für 360 Kalendertage ab dem 16.08.2010, wobei für die Zeit vom 16.08.2010 bis 18.08.2010 ein Leistungsbetrag von 0 EUR festgesetzt wurde. Ab dem 19.08.2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin einen Leistungsbetrag von 37,28 EUR kalendertäglich. Dabei ging die Beklagte von einem Bemessungsentgelt von 85,17 EUR, der Lohnsteuerklasse II und einem erhöhten Leistungssatz von 67 % aus.

Mit Schreiben vom 03.09.2010 legte die Klägerin Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes seien nicht die letzten 12 Monate berücksichtigt worden. Da sie immer als Grenzgängerin tätig gewesen sei und sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gehabt habe, somit auch Steuern und Abgaben in Deutschland beglichen habe, könne sie dies nicht akzeptieren.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.09.2010 wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bemessungsrahmen umfasse ein Jahr, er ende mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der Entstehung des Anspruchs. Im vorliegenden Fall umfasse der Bemessungsrahmen die Zeit vom 16.08.2009 bis 15.08.2010. Die Klägerin habe vor der Antragstellung zum 16.08.2010 folgenden beruflichen bzw. leistungsrechtlichen Werdegang gehabt:

01.02.2006 bis 30.06.2010 Grenzgängerbeschäftigung in der Schweiz; 01.07.2010 bis 15.08.2010 Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland.

Ein zurückgelegtes Beschäftigungsverhältnis in einem Mitgliedsland der EU sei nach dem Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft so zu berücksichtigen, als ob es in Deutschland ausgeübt worden wäre und somit hinsichtlich der Erfüllung der Anwartschaftszeit auf Arbeitslosengeld grundsätzlich heranzuziehen. Im vorliegenden Fall seien ausschließlich die nationalen Bemessungsvorschriften anzuwenden, da zuletzt Versicherungspflichtzeit in Deutschland bestanden habe. Das im Ausland - vorliegend Grenzgängerin Schweiz - erzielte Arbeitsentgelt sei bei der Bemessung grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Dies führe zu folgendem Bemessungsergebnis:

Der 1-jährige Bemessungszeitraum umfasse zunächst die Entgeltzeiträume vom 16.08.2009 bis 15.08.2010. In diesem Zeitraum könne - ebenfalls wie im auf 2 Jahre erweiterten Bemessungszeitraum - kein Bemessungszeitraum mit 150 Tagen mit Anspruch auf deutsches Arbeitsentgelt gebildet werden. Könne ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf 2 Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, sei gemäß § 132 SGB III als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Da auch im erweiterten Bemessungsrahmen vom 16.08.2008 bis 15.08.2010 keine 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt festzustellen seien, sei deshalb der Bemessung ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das sich entsprechend der beruflichen Qualifikation der Klägerin nach der Qualifikationsgruppe 2 richte. Die Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch betrage jährlich 30.660,- EUR. Für die Qualifikationsgruppe 2 ergebe sich danach ein tägliches Bemessungsentgelt in Höhe von 85,17 EUR. Damit ergebe sich unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abzüge ein Leistungsentgelt in Höhe von 55,64 EUR. Da bei der Klägerin ein Kind zu berücksichtigen sei, habe sie Anspruch auf Alg nach dem erhöhten Leistungssatz von 67 % des Leistungsentgelts. Das Alg betrage daher täglich 37,28 EUR. Aufgrund der besonderen Rechtslage nach dem Internationalen Recht der EU - § 68 Abs. 1 VO - könne jedenfalls das erzielte Arbeitsentgelt als Grenzgängerin in der Schweiz - wie von der Klägerin geltend gemacht - nicht für die Bemessung herangezogen werden, da sie zuletzt in Deutschland eine Versicherungszeit zurückgelegt habe und damit ausschließlich inländische Bemessungsvorschriften maßgeblich seien. Der Widerspruch habe daher keinen Erfolg haben können.

Dagegen erhob die Klägerin am 11.10.2010 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) mit dem Begehren, ihr höheres Alg unter Berücksichtigung ihrer in der Schweiz in den letzten 12 Monaten erzielten Einkünfte zu gewähren.

Mit Gerichtsbescheid vom 14.02.2011 änderte das SG den Bescheid der Beklagten vom 27.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2010 ab und verurteilte die Beklagte, der Klägerin Alg für die Zeit ab dem 16.08.2010 unter ausschließlicher Berücksichtigung des zuletzt in Deutschland tatsächlich erzielten Entgelts zu gewähren; im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung ist ausgeführt, die Beklagte habe die Höhe des Arbeitslosengeldes zu niedrig berechnet. Die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimme sich in der Regel nach den §§ 129 ff. SGB III. Danach umfasse der für die Ermittlung des Bemessungsentgelts maßgebliche Bemessungszeitraum grundsätzlich die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten Zeiten mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des Bemessungsrahmens. Könne ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des - erweiterten - Bemessungsrahmens von 2 Jahren nicht gebildet werden, sei als Bemessungsgrundlage ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, § 132 SGB III. Nach Auffassung der Kammer modifiziere und verdränge Art. 68 VO als Spezialvorschrift diese Berechnungsvorschriften jedoch für den Fall, dass der Arbeitslose Beschäftigungszeiten in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt habe, zuletzt jedoch in dem Mitgliedsstaat beschäftigt gewesen sei, indem er Leistungen beantrage. Aus dem Wortlaut des Artikel 68 VO ergebe sich, dass die Beklage verpflichtet sei, bei der Berechnung der Höhe der Arbeitslosengeld-Leistungen ausschließlich das zuletzt in Deutschland erzielte Entgelt zu berücksichtigen. Im Vergleich zu Art. 68 Abs. 1 Satz 2 VO, der eine Berechnung nach einem "üblichen" (und damit wohl auch fiktiven) Entgelt ermögliche, stellte Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO damit nach Auffassung der Kammer auf das tatsächlich erzielte Entgelt ab. Die systematische Auslegung der VO ergebe, dass der Normgeber in anderen Normen der VO ausdrücklich festschreibe, dass Arbeitslose Leistungen "nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates" erhalten (vgl. insbesondere Art. 71 VO). Diese Formulierung verwende die VO in Art. 68 VO gerade nicht, so dass ein Rückgriff auf die deutschen Bemessungsvorschriften im Falle einer Inlandsbeschäftigung von mehr als 4 Wochen nicht möglich sei. Es komme im Fall des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO damit ausschließlich auf das zuletzt tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt in Deutschland an. Auf dieser Grundlage sei das von der Klägerin zuletzt in Deutschland erzielte durchschnittliche Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, was - ohne dass dies hier entschieden werden müsse - einem Bemessungsentgelt von ca. 129,- EUR entspreche, so dass der Bewilligungsbescheid vom 03.09.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.09.2010 die Klägerin in ihren Rechten verletze. Soweit die Klägerin darüber hinaus begehre, bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes ihr in der Schweiz erzieltes Arbeitsentgelt zu berücksichtigen, sei dies nach Art. 68 der VO nicht möglich. Dazu werde auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid der Beklagten verwiesen.

Gegen den - der Beklagten am 24.02.2011 zugestellten - Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 23.03.2011 Berufung eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, entgegen der Auffassung des SG Freiburg sei die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht zu niedrig bemessen worden. Die Klägerin sei von 1990 bis 30.06.2010 in der Schweiz beschäftigt gewesen. Ihr Wohnort sei in Deutschland gewesen. Vom 01.07.2010 bis 15.08.2010 sei die Klägerin als Arbeitnehmerin in Deutschland beschäftigt gewesen. Bei Arbeitslosen, die zuletzt vor der Arbeitslosmeldung und Beantragung von Arbeitslosengeld nach deutschem Recht beschäftigt oder selbständig erwerbstätig gewesen seien, würden für die Bemessung ausschließlich deutsches Arbeitsentgelt (d.h. Entgelt aus nach deutschem Recht versicherten Beschäftigungen) zugrunde gelegt. Es seien daher die deutschen Bemessungsvorschriften (§§ 129 ff. SGB III) anzuwenden. Bei der Bildung des Bemessungszeitraumes würde nur Zeiten einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach § 25 SGB III berücksichtigt; ausländische Versicherungs- und Beschäftigungszeiten (Art. 61 VO) blieben außer Betracht.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 14. Februar 2011 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin trägt vor, entgegen ihrer Ausführungen habe das SG eine andere Entscheidung getroffen, mit der sie sich aber auch zufrieden geben könne. Ihre Arbeitslosigkeit sei vom 18.08.2010 bis zum 30.11.2010 gegangen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, der Akten des SG Freiburg und der Senatsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Der Beschwerdewert von mehr als 750,- EUR ist erreicht. Nach der Vergleichsberechnung der Beklagten käme für die Klägerin ein höheres tägliches Arbeitslosengeld von 14,73 EUR (51,65 EUR statt 37,28 EUR) in Betracht. Für den hier streitigen Zeitraum vom 19.08.2010 bis 30.11.2010 (3 Monate + 12 Tage = 102 Tage à 14,37 EUR) ergibt sich daher ein Beschwerdewert von 1.465,74 EUR.

Die Berufung der Beklagten ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG vom 14.02.2011 ist nicht zu beanstanden.

Das SG hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheides die für die Entscheidung maßgeblichen Vorschriften und Rechtsgrundsätze vollständig und zutreffend dargestellt. Das SG hat weiter ausführlich und zutreffend begründet, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg bei der Klägerin vorliegen, dass die angegriffenen Bescheide hinsichtlich der auf der Grundlage der Bestimmungen der §§ 129 ff. SGB III errechneten Höhe des bewilligten Alg rechtlich zu beanstanden sind, weil die Vorschriften der §§ 129 ff. SGB III durch die gemeinschaftsrechtliche Bestimmung des Art. 68 EWG-VO Nr. 1408/71 verdrängt werden, da aus Art. 68 Abs. 1 Satz 1 EWG-VO Nr. 1408/71 hervorgehe, dass in der Regel der Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit das Entgelt zugrunde zu legen sei, das der Arbeitnehmer während seiner letzten Beschäftigung erhalten habe und nur dann, wenn die inländische Beschäftigung weniger als 4 Wochen gedauert habe, die im Ausland ausgeübte Beschäftigung im Rahmen einer fiktiven Bemessung berücksichtigt werde, dass die Leistungsbemessungsvorschriften des zuständigen Trägers sich diesem Grundsatz unterzuordnen hätten mit der Folge, dass der relevante Bemessungszeitraum für das Alg modifiziert werde und dass hiervon ausgehend das Alg der Klägerin auf der Grundlage des Verdienstes im Altersheim B. i. K. (Deutschland) vom 01.07.2010 bis 15.08.2010 unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zu berechnen ist. Der Senat gelangt nach eigener Überprüfung zu demselben Ergebnis und nimmt zur Begründung seiner Entscheidung zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Gerichtsbescheides vollumfänglich Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend und im Hinblick auf das Berufungsvorbringen bleibt auszuführen:

Nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 (Abkommen) ist die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II des Abkommens geregelt (Art. 8 des Abkommens). Gemäß Art. 1 des Anhangs II des Abkommens sind im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung anzuwenden und der Begriff "Mitgliedstaaten" in den Rechtsakten ist auch auf die Schweiz anzuwenden. Nach Abschnitt A 1. des Anhangs II des Abkommens gehört zu den Rechtsakten, auf die im Abkommen Bezug genommen wird, die EG-Verordnung Nr. 1408/71. Mit Inkrafttreten der EG-Verordnung Nr. 883/2004 (VO Nr. 883/2004) zum 01.05.2010 wurde die VO Nr. 1408/71 aufgehoben (Art. 90 Abs. 1 S. 1 VO Nr. 883/2004). Dagegen bleibt die VO Nr. 1408/71 nach Art. 90 Abs. 1 S. 2 lit. c VO Nr. 883/2004 in Kraft und behält ihre Rechtswirkung für die Zwecke des zwischenstaatlichen Abkommens über die Freizügigkeit, soweit auf die Verordnung Nr. 1408/71 darin Bezug genommen wird, solange das Abkommen nicht infolge der Verordnung aufgehoben oder geändert worden ist. Dies ist zwischenzeitlich geschehen. Mit Beschluss vom 31.03.2012 des Gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist die VO Nr. 883/2004 als Rechtsakt, auf den im Abkommen Bezug genommen wird, bestimmt worden (Amtsblatt der Europäischen Union L 103/51 vom 13.04.2012).

Der Senat lässt dahinstehen, ob die zum Zeitpunkt der Alg-Antragstellung noch anzuwendende VO Nr. 1408/71 oder die zum Entscheidungszeitpunkt des Senats geltende Rechtslage mit der VO Nr. 883/2004 auf den vorliegenden Rechtsstreit anzuwenden ist. Nach beiden Rechtsgrundlagen ist die Berufung der Beklagten nicht begründet.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 27.08.2010 (L 8 AL 1022/10, unveröffentlicht) bereits folgendes ausgeführt:

Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 68 Absatz 1 EG-VO Nr. 1408/71 beruht diese Vorschrift auf dem allgemeinen Grundsatz, dass das zur Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit maßgebliche frühere Entgelt dasjenige ist, das der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung, die er unmittelbar vor seiner Arbeitslosigkeit ausgeübt hat, tatsächlich erhalten hat. Dieser Grundsatz entspricht nicht nur den Erfordernissen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer i.S. von Art. 51 des EWG-Vertrages, sondern auch der der EG-VO Nr. 1408/71 zugrunde liegenden Forderung, den Arbeitnehmern bei Arbeitslosigkeit Leistungen zu sichern, die in angemessenem Verhältnis zur Höhe des Entgeltes stehen, das sie zu dem Zeitpunkt erhielten, zu dem sie arbeitslos wurden. Hiervon abweichend kann nur in dem in Art. 68 Absatz 1 Satz 2 EG-VO Nr. 1408/71 geregelten Sonderfall, dass die letzte Beschäftigung weniger als vier Wochen gedauert hat, was bei der Klägerin unstreitig nicht der Fall ist, die Berechnung der Leistung auf der Grundlage des vermuteten und nicht des tatsächlichen Entgeltes für die letzte Beschäftigung erfolgen (vgl. zum Vorstehenden EuGH, Urteil vom 28.02.1980 - Az.: 67/79 -, SozR 6050 Art. 68 Nr. 1).

Diesen Maßstäben wird die von der Beklagten (im Fall der Klägerin) praktizierten Methode zur Berechnung der Höhe des Alg-Anspruches nicht gerecht. Sie widerspricht dem Bestreben des Art. 68 Absatz 1 EWG-VO Nr. 1408/71, für die Mobilität der Arbeitskräfte bessere Voraussetzungen zu schaffen (vgl. hierzu EuGH vom 28.02.1980, a.a.O.). Die Beklagte lässt, insoweit Art. 68 Absatz 1 EWG-VO Nr. 1408/71 folgend, das von der Klägerin während ihrer Tätigkeit in der Schweiz im Bemessungszeitraum erzielte Bemessungsentgelt unberücksichtigt, was - ausgehend von der Ansicht der Beklagten - die Voraussetzungen für die Mobilität der Arbeitskräfte verschlechtern kann, wenn erzieltes Arbeitsentgelt gänzlich unberücksichtigt bleibt und die Höhe des Alg auf der Grundlage eines fiktiven Bemessungsentgeltes berechnet wird, das zudem nicht den Vorgaben des Art. 68 Abs. 1 Satz 2 EWG-VO Nr. 1408/71 zur fiktiven Bemessung des Arbeitsentgeltes entspricht (vgl. auch EuGH, a.a.O., für den Fall eines Grenzgängers). Die Leistungsbemessungsvorschriften der § 129 ff. SGB III haben sich dem Grundsatz, dass das zur Berechnung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit maßgebliche frühere Entgelt dasjenige ist, das der Arbeitnehmer während der letzten Beschäftigung, die er unmittelbar vor seiner Arbeitslosigkeit ausgeübt hat, tatsächlich erhalten hat, unterzuordnen (vgl. Geiger, "Aktuelle europarechtliche Entwicklungen zu Ansprüchen auf Arbeitslosenunterstützung", info also 2004, 58 ff.). Die EWG-VO Nr. 1408/71 ist allgemein verbindlich. Sie gilt in den Mitgliedstaaten unmittelbar und bedarf zu ihrer Wirksamkeit keines staatlichen Umsetzungaktes (vgl. Schlegel in Eicher/Schlegel, SGB III EWGVO Nr. 1408/71, Vor Art. 67-71a, RdNr. 28). Die abweichenden Dienstanweisungen zu Art. 68 Absatz 1 EWG-VO Nr. 1408/71 der Beklagten sind nicht mit der oben dargestellten vom EuGH (a.a.O.) vertretenen und für die deutschen Gerichte bindenden Auslegung zu vereinbaren (vgl. auch Geiger, a.a.O.). Der abweichenden Ansicht von Marscher in GK-SGB III, Art. 68 RdNr. 7, auf die sich die Beklagte beruft, kann nicht gefolgt werden. Die Ansicht, das Entgelt der letzten Beschäftigung werde nach Maßgabe der Berechnungsvorschriften der §§ 129 ff. SGB III berechnet, wird in einem "Nebensatz" ohne weitere Begründung geäußert und setzt sich nicht mit der oben genannten Rechtsprechung des EuGH zu Art. 68 Absatz 1 EWG-VO Nr. 1408/71 auseinander."

Der Senat hält an dieser Rechtsauffassung fest. Er teilt nicht die vom 3. Senats des LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.10.2011 - L 3 AL 5476/10 -, juris) vertretene Rechtsauffassung, dass Regelungen zur Höhe des Alg-Anspruchs in der VO Nr. 1408/71 für den Fall, dass der Grenzgänger mehr als vier Wochen im Wohnsitzland versicherungpflichtig vor seiner Alg-Antragstellung beschäftigt war, nicht getroffen worden seien. Vielmehr ist nach dem Urteil des EuGH vom 28.02.1980 (a.a.O.) Art. 68 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 offensichtlich auf den Regelfall des Arbeitnehmers bezogen, der normalerweise im Wohnsitzland beschäftigt ist (vgl. Rdz. 6 des amtl. Abdrucks). Es ist weder nach dem Wortlaut der Regelung noch nach teleologisch-systematischer Auslegung der Vorschriften davon auszugehen, dass mit der in Art. 67 VO Nr. 1408/71 vorgesehenen Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten nur ein Anspruch dem Grunde nach selbst für die Fälle geregelt werden sollte, in denen durch eine - längere - Beschäftigung im Wohnsitzland keine EG-Auslandtätigkeit mehr stattfindet, aber eine Regelung zur gemeinschaftsweit verbindlichen Höhe der Leistung nicht getroffen werden sollte. Gerade dies ist mit dem Wortlaut, dass ausschließlich das Entgelt zu berücksichtigen ist, das der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung erhalten hat, zum Ausdruck gebracht und entspricht der Zwecksetzung der VO, die Freizügigkeit im Anwendungsraum der VO zu erleichtern bzw. der gleichen überschaubaren Regelung zu unterwerfen. Die letztgenannte Zwecksetzung ist zur Überzeugung des Senats auch die ausschlaggebende. Die VO Nr. 1408/71 beinhaltet kein "Günstigkeitsprinzip".

Sofern das Abkommen in der aktuellen Fassung mit Bezug auf die VO Nr. 883/2004 Anwendung findet, ergibt sich nichts anderes. Die einschlägige Vorschrift des Art. 62 VO Nr. 883/2004 enthält zur Berechnung der Leistungen keine Ausnahmeregelung mehr zu Beschäftigungen im Wohnsitzland von unter vier Wochen. Es wird in Abs. 1 und 2 ausdrücklich auf das zuletzt (vor der Arbeitslosigkeit) erzielte Erwerbseinkommen im Wohnsitzland abgestellt. Der Fall des (echten) Grenzgängers im EuGH-Urteil vom 28.02.1980 (a.a.O.) ist nun in Abs. 3 der Vorschrift ausdrücklich geregelt. Entgegen der dem Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 19.10.2011 zugrundeliegenden Rechtsauffassung sind hieraus keine Schlussfolgerungen zur Auslegung der VO Nr. 1408/71 zu ziehen.

Die genannte Dienstanweisung der Beklagten widerspricht früherem und aktuellem EG-Recht bzw. dem rechtsverbindlichen zwischenstaatlichen Recht des o.g. Abkommens.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, denn er misst im Hinblick auf das Urteil des 3. Senats vom 19.10.2011 der streitigen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung bei. Zwar handelt es sich bei der Anwendung der VO Nr. 1408/71 um auslaufendes Recht. Aber nach aktuellem Recht richtet sich die Beurteilung nach Art. 62 Abs. 1 VO Nr. 883/2004, der wortgleich zu Art. 68 Abs. 1 Satz 1 VO Nr. 1408/71 ist und zur unterschiedlichen Auslegung Anlass gab.
Rechtskraft
Aus
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