Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 54 AS 1805/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 642/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 22/14 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. Juni 20012 und der Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit von 05.09.2009 bis 30.09.2009 Arbeitslosengeld II in Höhe von 767,- Euro zu bezahlen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt für einen Teil des Septembers 2009 Arbeitslosengeld II, obwohl er am 04.09.2009 zur Haftentlassung Überbrückungsgeld erhalten hatte.
Der 1959 geborene alleinstehende Kläger war von September 2008 bis 04.09.2009 in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert. Bereits Anfang August 2009 stellte er von der Haft aus beim Beklagten einen Antrag auf Arbeitslosengeld II ausdrücklich für die Zeit "ab dem Tag der Entlassung". Als Vermögen gab er lediglich ein Sparguthaben von 17,- Euro an. Der Kläger erhielt am Entlassungstag, dem 04.09.2009, von der JVA einen Betrag von 1.091,74 Euro ausgezahlt. Darin waren 1.017,98 Euro Überbrückungsgeld enthalten.
Für die angemietete Wohnung hatte der Kläger im September 2009 eine Grundmiete von 411,81 Euro, Nebenkosten von 61,- Euro und Heizkosten von monatlich 60,- Euro, zusammen 532,81 Euro zu zahlen. Warmwasser war in den Heizkosten enthalten.
Mit Bescheid vom 23.09.2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei wegen des Überbrückungsgeldes nicht hilfebedürftig. Später wurde dem Kläger Arbeitslosengeld II ab 01.10.2009 von monatlich 871,41 Euro bewilligt.
Der Bevollmächtigte des Klägers erhob gegen den Ablehnungsbescheid am 08.10.2009 Widerspruch. Der Kläger habe das am Entlassungstag auszuzahlende Überbrückungsgeld zur Bestreitung von Kosten aus dem Strafverfahren einsetzen müssen. Vorgelegt wurde hierzu eine Rechung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2008 mit Gerichtskosten für drei Instanzen und Rechtsanwaltsvergütung über insgesamt 3.027,52 Euro sowie eine Stundungsverfügung bis zur Haftentlassung.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28.05.2010 als unbegründet zurückgewiesen. Das Überbrückungsgeld sei als einmalige Einnahme gemäß § 11 Abs. 1 SGB II anzurechnen. Die Zahlung sei im September nach Antragstellung zum 04.09.2009 zugeflossen und in diesem Monat als Einkommen zu berücksichtigen. Es handle sich nicht um Vermögen, weil die Zahlung im Bedarfszeitraum (Tag der Antragstellung) erfolgte. Die Schuldverpflichtungen könnten nicht berücksichtigt werden - das Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) trage nicht zur Schuldentilgung bei.
Der Kläger erhob am 30.06.2010 Klage zum Sozialgericht München und begehrte Leistungen für den Zeitraum vom 05.09.2009 bis 30.09.2009. Der Kläger habe Leistungen für die Zeit nach der Haftentlassung beantragt. Das Überbrückungsgeld sei aber am Entlassungstag, also nach Art. 18 Abs. 1 BayStVollzG am letzten Hafttag, ausgezahlt worden. Es handle sich daher nicht um Einkommen. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger zu Protokoll, dass er nach seiner Erinnerung am 07.09.2009 knapp 1.000,- Euro bei der Gerichtskasse in A-Stadt bar eingezahlt habe. Auf den Restbetrag zahle er monatlich 5,- Euro ab.
Mit Urteil vom 27.06.2012 wies das Sozialgericht München die Klage ab. Das Überbrückungsgeld sei Einkommen, weil der Antrag auf Leistungen bereits für den 04.09.2009 ("ab dem Tag der Entlassung") gestellt wurde und dem Kläger die Zahlung an diesem Tage zugeflossen sei. Die Zahlung des Überbrückungsgeldes um die Mittagszeit gelte für den ganzen Tag. Die einmalige Einnahme sei im Zuflussmonat zu berücksichtigen, § 4 i.V.m. § 2 Abs. 4 Arbeitslosengeld II-Verordnung (Alg II-V). Der Bedarf sei durch das Überbrückungsgeld abgedeckt, so dass für den Monat September 2009 kein Anspruch bestehe. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass der Kläger, laut seinem Vortrag, das Geld am 07.09.2009 für die Zahlung von Gerichtskosten verwendet habe. Bestehende Verbindlichkeiten und deren Begleichung seien nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger hat am 24.08.2012 Berufung gegen das Urteil eingelegt. Selbst wenn das Überbrückungsgeld Einkommen wäre, dürfe dieses nicht angerechnet werden, weil es im Bedarfszeitraum aufgrund der Schuldentilgung nicht mehr als "bereite Mittel" zur Verfügung gestanden habe.
Der Kläger hat nach Aufforderung durch das Gericht mitgeteilt, dass er keine Nachweise zur Verwendung des Überbrückungsgelds vorlegen könne. Die Staatsanwaltschaft hat auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass die erste Zahlung des Klägers auf die Verfahrenskosten im Oktober 2009 eingegangen sei und lediglich 5,- Euro betragen habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.06.2012 sowie den Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 05.09.2009 bis 30.09.2009 Arbeitslosengeld II zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Beklagten, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Berufungsgerichts verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, und begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II für die strittige Zeit. Der Kläger hat seinen Leistungsantrag - ggf. mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs - für den 04.09.2009 zurückgenommen. Damit ist die gesamte Entlassungszahlung von 1.091,74 Euro als Vermögen einzustufen. Weil das vorhandene Gesamtvermögen unter den Freibeträgen nach § 12 Abs. 2 SGB II lag, bestand auch Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 und der dadurch abgelehnte Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II im September 2009. Aufgrund des Klage- und Berufungsantrags ist strittig die Zeit vom 05.09.2009 bis 30.09.2009. Für den Entlassungstag, den 04.09.2009, begehrt der Kläger ausdrücklich keine Leistung.
Statthaft ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 4, § 56 SGG.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG). Die Berufungssumme von 750,- Euro wird mit 767,- Euro knapp überschritten (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
2. Der alleinstehende Kläger erfüllt in der strittigen Zeit die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Er war mit einem Alter von 49 Jahren im einschlägigen Lebensalter (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 7a SGB II), erwerbsfähig (§ 8 SGB II) und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er war auch hilfebedürftig nach § 9 Abs. 1 SGB II. Auf die Frage, ob und wann der Kläger aus seiner Entlassungszahlung eine Zahlung für die Verfahrenskosten des Strafverfahrens geleistet hat, kommt es nicht an.
3. Die Entlassungszahlung von 1.091,74 Euro ist als Vermögen zu werten. Zusammen mit dem Sparguthaben von 17,- Euro blieb das Gesamtvermögen des Klägers deutlich unter den Vermögensfreibeträgen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 4 SGB II (49 vollendete Lebensjahre mal 150,- Euro plus 750,- Euro = 8.100,- Euro).
a) Ob ein Mittelzufluss Einkommen oder Vermögen ist, richtete sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG nach der modifizierten Zuflusstheorie. Einkommen ist alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, Vermögen das, was er vor der Antragstellung schon hat (zuletzt etwa BSG, Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 27).
Der Kläger hatte bereits im August 2009 ausdrücklich Leistungen für die Zeit ab dem Tag der Haftentlassung, also ab dem 04.09.2009, beantragt. Hierzu war er im Rahmen seiner Dispositionsbefugnis berechtigt. Dieser 04.09.2009 gilt dann als Tag der Antragstellung im Sinne der Zuflusstheorie. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II schließt nur Leistungen für die Zeit vor Antragstellung aus. Erst ab 01.01.2011 schränkt § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. diese Dispositionsbefugnis durch Rückwirkung des Antrags zum jeweiligen Monatsanfang ein.
Wie das BSG im Urteil vom 14.02.2013, B 14 AS 51/12 R, Rn. 15, klargestellt hat, geht es um den Tag der Antragstellung. Es ist also nicht entscheidungserheblich, wann der Kläger am 04.09.2009 das Überbrückungsgeld erhalten hat. Dies liegt daran, dass die kleinste mögliche Bedarfszeit der Kalendertag ist.
Nach der Zuflusstheorie wäre zumindest das Überbrückungsgeld von 1.017,98 Euro als einmalige Einnahme zu werten und gemäß § 11 SGB II i.V.m. § 2 Abs. 3 Alg II-V in der bis 31.03.2011 geltenden Fassung (danach gilt § 11 Abs. 3 SGB II n. F.) auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen. Da das Überbrückungsgeld gemäß Art 51 Abs. 1 BayStVollzG für die vier Wochen nach der Haftentlassung gezahlt wird, wäre dies der angemessene Verteilzeitraum (BSG, Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 36). Durch dieses Einkommen, bereinigt um die Versicherungspauschale von 30,- Euro, wäre der Bedarf von monatlich 885,34 Euro (Regelleistung von 359,- Euro plus Aufwendungen für Unterkunft und Heizung abzüglich 6,47 Euro für Warmwasser) vollständig gedeckt.
Ob neben dem Überbrückungsgeld von 1.017,98 Euro auch das Eigengeld und Hausgeld nach Art. 50 und 52 BayStVollzG - hier 73,76 Euro - Einkommen sein kann, kann offen bleiben, weil bereits das Überbrückungsgeld als Einkommen den Bedarf vollständig abdecken würde. Weil diese Gelder dem Inhaftierten grundsätzlich schon vor der Entlassung verfügbar sind, dürfte es sich regelmäßig um Vermögen handeln (vgl. dazu BSG Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 38 ff; unklar aber die dortige Aufteilung der Entlassungszahlung in Teilbeträge).
b) Das Überbrückungsgeld ist aber als Vermögen einzustufen, weil der Kläger seinen Leistungsantrag für den 04.09.2009 wirksam zurückgenommen hat. Ab dem Klageverfahren wurden nur noch Leistungen ab 05.09.2009 begehrt.
aa) Es ist strittig, wie lange ein Antrag auf Arbeitslosengeld II zurückgenommen werden kann. Es werden hierzu im Wesentlichen drei Meinungen vertreten:
(1) Eine Antragsrücknahme sei nach Zugang des Antrags nicht mehr möglich, wenn - wie hier - eine materiell-rechtliche Leistungsvoraussetzung verändert werden soll. Wenn eine Einnahme nach Antragstellung nicht mehr als Einkommen, sondern als anrechungsfreies Schonvermögen gelten soll, werde die Hilfebedürftigkeit in die Verfügungsbefugnis des Antragstellers gestellt. Dies würde dem Zweck des Antragserfordernisses und dem Zweck des SGB II, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zuwider laufen (so Aubel in Juris-Praxiskommentar SGB II, 3. Auflage 2012, § 37 Rn. 30).
Für diese Meinung spricht, dass das BSG in mehreren Fällen eine teilweise Rücknahme des Leistungsantrags nicht diskutiert hat, obwohl dies bei den dargelegten Sachverhalten denkbar erschien. Im Urteil des BSG vom 30.07.2008, B 14 AS 26/07 R, ging es beispielsweise um einen Leistungsantrag von Ende 2004, der letzte Lohn war am 18.01.2005 zugeflossen und es waren Leistungen für Januar 2005 strittig.
In den Urteilen vom 30.09.2008, B 4 AS 29/07 R, und vom 10.09.2013, B 4 AS 89/12 hat es das BSG abgelehnt, einen Verteilzeitraum für einmalige Einnahmen ohne echte Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu beenden. Dies spricht ebenfalls gegen eine nachträgliche Korrektur einer Einnahme durch Rücknahme des Leistungsantrags.
(2) Das BSG hat im Urteil vom 17.04.1986, 7 RAr 81/84 (= BSGE 60, 79, 84) für den Antrag auf Arbeitslosengeld nach AFG entschieden, dass die Rücknahmemöglichkeit mit Wirksamkeit des Bescheids nach § 39 SGB X, also der Bekanntgabe des Bescheids, endet. Diese zeitliche Grenze befürworten für Arbeitslosengeld II etwa Striebinger in Gagel, SGB II / SGB III, Loseblatt, § 37 Rn. 80 und M. Mayer in Oestreicher, SGB II / SGB XII, Loseblatt, SGB II § 37 Rn. 13.
Das BSG hatte dies mit der Besonderheit der damaligen Regelungen zum Krankenversicherungsschutz begründet. Mit dem Leistungsbezug entstehe Versicherungsschutz in der Krankenversicherung. Eine Erstattung der Beiträge zur Krankenversicherung sei bei einer späteren Antragsrücknahme aber ausgeschlossen, eine Rückabwicklung des Versicherungsverhältnisses also insoweit nicht möglich. Damals fehlte eine dem Beitragsersatz nach § 335 Abs. 1 SGB III vergleichbare Regelung.
(3) Laut Link in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 37 Rn. 20, kann ein Antrag bis zur Bestandskraft eines Bescheides zurückgenommen werden - hier also auch noch im Klageverfahren für den Entlassungstag 04.09.2009. Das BSG hat im Urteil vom 13.12.2000, B 14 EG 10/99 R, zum Erziehungsgeld ebenfalls diese Auffassung vertreten. Das vorgenannte Urteil des BSG zum Arbeitslosengeld beruhe auf den dortigen Besonderheiten.
Auch die Dienstanweisung der BA zum SGB II geht unter Ziffer 37.8 davon aus, dass eine Antragsrücknahme bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung möglich ist.
bb) Die erste Meinung, dass der Antrag nach Zugang nicht mehr widerrufen werden kann, ist im Ergebnis abzulehnen. Es bestehen zwar ab Antragstellung Obliegenheiten z.B. bzgl. der Eingliederung in Arbeit, deren nachträgliche Beseitigung problematisch erscheint. Da mit der Rücknahme des Antrags auch der Verlust der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verbunden ist, ist Missbrauch aber kaum zu befürchten.
Durch die Dispositionsfreiheit bei der Antragstellung hat der Betroffene auch das Recht, seinen Leistungsanspruch im Rahmen der Gesetze zu optimieren. Er handelt nicht rechtsmissbräuchlich. Nach § 2 Abs. 2 SGB I haben Sozialbehörden sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Der Leistungsträger ist gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verpflichtet, darauf hinwirken, dass jeder Leistungsberechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen umfassend erhält.
Es ist kein Grund zu erkennen, wieso ein Betroffener im Bereich des SGB II an einer "verfrühten Antragstellung" ohne Korrekturmöglichkeit festgehalten werden soll. Dass ein Leistungsantrag seit 01.01.2011 gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. den gesamten Monat umfasst, bedeutet nur, dass eine Rücknahme nur mehr für einen ganzen Monat möglich ist. Dies ist als Hinwendung zum Monatsprinzip zu verstehen, nicht als Verbot einer Antragsrücknahme.
cc) Ob ein Leistungsantrag nur bis zur Wirksamkeit des Bescheids oder bis zur Bestandskraft des Bescheids zurückgenommen werden kann, braucht hier nicht entschieden werden. Der Kläger ist wegen Verletzung der Pflicht zur Spontanberatung im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob er den Antrag bis spätestens zur Wirksamkeit des Ablehnungsbescheids vom 23.09.2009 zurückgenommen hätte.
Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind nach ständiger Rechtsprechung (z. B. Urteil BSG vom 18.01.2011, B 4 AS 29/10 R, Rn. 12 ff und Urteil BSG vom 31.10.2007, B 14/11b AS 63/06 R, Rn. 13 ff):
* Der Leistungsträger hat eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt.
Wenn kein Beratungsbegehren vorliegt, hat der Leistungsträger von sich aus zu beraten (Spontanberatung), wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit zu Tage tritt, was allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen ist, die ein verständiger Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre.
* Dadurch ist dem Betroffenen ein Nachteil entstanden.
* Zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen besteht ein ursächlicher Zusammenhang.
* Der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil muss durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können.
* Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen.
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der bis auf 17,- Euro vermögenslose Kläger hat am Entlassungstag 1.091,74 Euro erhalten und einen Leistungsantrag ab dem Entlassungstag gestellt. Es war für den zuständigen Bearbeiter klar und ohne weitere Ermittlungen erkennbar, dass allein durch die Geltendmachung des Leistungsanspruchs für diesen einen Tag der Anspruch zumindest für den Rest des Septembers 2009 wegfällt. Am Entlassungstag bestand bei einer Einkommensanrechung ohnehin kein Anspruch, so dass der Kläger durch die Verschiebung des Antrags um einen Tag Leistungen für 26 Tage (bzw. bei Anrechung für vier Wochen insgesamt 27 Tage) gewinnen konnte. Das hätte er bei einer entsprechenden Beratung mit Sicherheit getan.
Der Nachteil des Klägers besteht hier in dem Wegfall des Leistungsanspruchs für 26 weitere Tage. Dieser Nachteil ist allein verursacht durch die fehlende Beratung - dafür, dass dem Kläger das Problem bereits ohne Beratung bewusst war und er es gleichwohl nicht berücksichtigte, spricht nichts.
Der Nachteil ist durch eine zulässige Amtshandlung zu beseitigen. Die Rücknahme eines Antrags für einige Zeit, mithin eine Verschiebung des Leistungsantrags, ist zumindest bis zur Wirksamkeit des Bescheids zulässig (so auch BSG, Urteil vom 05.08.1999, B 7 AL 38/98 R, Rn. 30).
Der Gesetzeszweck des SGB II verbietet nicht die Verschiebung des ersten Leistungsantrags auf einen späteren Zeitpunkt. Auch im SGB II darf der Antragsteller bestimmen, ab wann er Leistungen begehrt (Dispositionsfreiheit). Der Grundsatz des Forderns in § 2 Abs. 1 SGB II ist ein allgemeiner Programmsatz, er verlangt nicht das Festhalten an einem ungünstigen Antragsdatum. Wie bereits dargelegt, enthält § 37 Abs. 2 Satz 2SGB II n. F. kein generelles Verbot einer Antragsrücknahme. Es handelt sich hier um einen erstmaligen Leistungsantrag. Ob eine Rücknahme eines Weitergewährungsantrags zwecks Umwandlung von Einkommen in Vermögen dem Gesetzeszweck des SGB II widerspräche, ist hier nicht zu entscheiden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Kläger berechtigt war, seinen Leistungsantrag für den Entlassungstag zurückzunehmen. Entweder darf er das bis zur Bestandskraft des strittigen Bescheids ohnehin oder er kann sich auf eine fehlende notwendige Spontanberatung vor Bescheiderteilung durch den Beklagten berufen und den Antrag im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zurücknehmen.
4. Die Höhe des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II ergibt sich aus dem Bedarf des Klägers im September 2009. Nach der hier vertretenen Auffassung verfügte er nicht über anrechenbares Einkommen.
Der monatliche Bedarf ergibt sich aus der Regelleistung von 359,- Euro plus den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung von 532,81 Euro, abzüglich der Warmwasserpauschale von 6,47 Euro (vgl. § 20 Abs. 1 SGB II a.F.). Das ergibt insgesamt 885,34 Euro für den vollen Monat von 30 Tagen (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II) bzw. 29,51 Euro für einen Tag.
Da der Kläger nur für 26 Tage Leistungen begehrt, besteht ein Bedarf von 767,26 Euro (26 Dreißigstel, § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Der Leistungsanspruch ist gemäß § 41 Abs. 2 SGB II in der bis 31.03.2011 gültigen Fassung auf 767,- Euro zu runden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat in beiden Instanzen obsiegt. Dass der Kläger erst im Verlauf des Klageverfahrens den Anspruch für den Entlassungstag nicht mehr geltend gemacht hat, rechtfertigt keine Kostenteilung.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob und wie lange ein Leistungsantrag im SGB II zurückgenommen werden kann, zugelassen.
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit von 05.09.2009 bis 30.09.2009 Arbeitslosengeld II in Höhe von 767,- Euro zu bezahlen.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt für einen Teil des Septembers 2009 Arbeitslosengeld II, obwohl er am 04.09.2009 zur Haftentlassung Überbrückungsgeld erhalten hatte.
Der 1959 geborene alleinstehende Kläger war von September 2008 bis 04.09.2009 in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert. Bereits Anfang August 2009 stellte er von der Haft aus beim Beklagten einen Antrag auf Arbeitslosengeld II ausdrücklich für die Zeit "ab dem Tag der Entlassung". Als Vermögen gab er lediglich ein Sparguthaben von 17,- Euro an. Der Kläger erhielt am Entlassungstag, dem 04.09.2009, von der JVA einen Betrag von 1.091,74 Euro ausgezahlt. Darin waren 1.017,98 Euro Überbrückungsgeld enthalten.
Für die angemietete Wohnung hatte der Kläger im September 2009 eine Grundmiete von 411,81 Euro, Nebenkosten von 61,- Euro und Heizkosten von monatlich 60,- Euro, zusammen 532,81 Euro zu zahlen. Warmwasser war in den Heizkosten enthalten.
Mit Bescheid vom 23.09.2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger sei wegen des Überbrückungsgeldes nicht hilfebedürftig. Später wurde dem Kläger Arbeitslosengeld II ab 01.10.2009 von monatlich 871,41 Euro bewilligt.
Der Bevollmächtigte des Klägers erhob gegen den Ablehnungsbescheid am 08.10.2009 Widerspruch. Der Kläger habe das am Entlassungstag auszuzahlende Überbrückungsgeld zur Bestreitung von Kosten aus dem Strafverfahren einsetzen müssen. Vorgelegt wurde hierzu eine Rechung der Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2008 mit Gerichtskosten für drei Instanzen und Rechtsanwaltsvergütung über insgesamt 3.027,52 Euro sowie eine Stundungsverfügung bis zur Haftentlassung.
Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28.05.2010 als unbegründet zurückgewiesen. Das Überbrückungsgeld sei als einmalige Einnahme gemäß § 11 Abs. 1 SGB II anzurechnen. Die Zahlung sei im September nach Antragstellung zum 04.09.2009 zugeflossen und in diesem Monat als Einkommen zu berücksichtigen. Es handle sich nicht um Vermögen, weil die Zahlung im Bedarfszeitraum (Tag der Antragstellung) erfolgte. Die Schuldverpflichtungen könnten nicht berücksichtigt werden - das Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) trage nicht zur Schuldentilgung bei.
Der Kläger erhob am 30.06.2010 Klage zum Sozialgericht München und begehrte Leistungen für den Zeitraum vom 05.09.2009 bis 30.09.2009. Der Kläger habe Leistungen für die Zeit nach der Haftentlassung beantragt. Das Überbrückungsgeld sei aber am Entlassungstag, also nach Art. 18 Abs. 1 BayStVollzG am letzten Hafttag, ausgezahlt worden. Es handle sich daher nicht um Einkommen. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger zu Protokoll, dass er nach seiner Erinnerung am 07.09.2009 knapp 1.000,- Euro bei der Gerichtskasse in A-Stadt bar eingezahlt habe. Auf den Restbetrag zahle er monatlich 5,- Euro ab.
Mit Urteil vom 27.06.2012 wies das Sozialgericht München die Klage ab. Das Überbrückungsgeld sei Einkommen, weil der Antrag auf Leistungen bereits für den 04.09.2009 ("ab dem Tag der Entlassung") gestellt wurde und dem Kläger die Zahlung an diesem Tage zugeflossen sei. Die Zahlung des Überbrückungsgeldes um die Mittagszeit gelte für den ganzen Tag. Die einmalige Einnahme sei im Zuflussmonat zu berücksichtigen, § 4 i.V.m. § 2 Abs. 4 Arbeitslosengeld II-Verordnung (Alg II-V). Der Bedarf sei durch das Überbrückungsgeld abgedeckt, so dass für den Monat September 2009 kein Anspruch bestehe. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass der Kläger, laut seinem Vortrag, das Geld am 07.09.2009 für die Zahlung von Gerichtskosten verwendet habe. Bestehende Verbindlichkeiten und deren Begleichung seien nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger hat am 24.08.2012 Berufung gegen das Urteil eingelegt. Selbst wenn das Überbrückungsgeld Einkommen wäre, dürfe dieses nicht angerechnet werden, weil es im Bedarfszeitraum aufgrund der Schuldentilgung nicht mehr als "bereite Mittel" zur Verfügung gestanden habe.
Der Kläger hat nach Aufforderung durch das Gericht mitgeteilt, dass er keine Nachweise zur Verwendung des Überbrückungsgelds vorlegen könne. Die Staatsanwaltschaft hat auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass die erste Zahlung des Klägers auf die Verfahrenskosten im Oktober 2009 eingegangen sei und lediglich 5,- Euro betragen habe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 27.06.2012 sowie den Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 05.09.2009 bis 30.09.2009 Arbeitslosengeld II zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Beklagten, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Berufungsgerichts verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, und begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II für die strittige Zeit. Der Kläger hat seinen Leistungsantrag - ggf. mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs - für den 04.09.2009 zurückgenommen. Damit ist die gesamte Entlassungszahlung von 1.091,74 Euro als Vermögen einzustufen. Weil das vorhandene Gesamtvermögen unter den Freibeträgen nach § 12 Abs. 2 SGB II lag, bestand auch Hilfebedürftigkeit nach § 9 SGB II.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 23.09.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.05.2010 und der dadurch abgelehnte Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II im September 2009. Aufgrund des Klage- und Berufungsantrags ist strittig die Zeit vom 05.09.2009 bis 30.09.2009. Für den Entlassungstag, den 04.09.2009, begehrt der Kläger ausdrücklich keine Leistung.
Statthaft ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 4, § 56 SGG.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 SGG). Die Berufungssumme von 750,- Euro wird mit 767,- Euro knapp überschritten (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
2. Der alleinstehende Kläger erfüllt in der strittigen Zeit die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Er war mit einem Alter von 49 Jahren im einschlägigen Lebensalter (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 7a SGB II), erwerbsfähig (§ 8 SGB II) und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Er war auch hilfebedürftig nach § 9 Abs. 1 SGB II. Auf die Frage, ob und wann der Kläger aus seiner Entlassungszahlung eine Zahlung für die Verfahrenskosten des Strafverfahrens geleistet hat, kommt es nicht an.
3. Die Entlassungszahlung von 1.091,74 Euro ist als Vermögen zu werten. Zusammen mit dem Sparguthaben von 17,- Euro blieb das Gesamtvermögen des Klägers deutlich unter den Vermögensfreibeträgen nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 4 SGB II (49 vollendete Lebensjahre mal 150,- Euro plus 750,- Euro = 8.100,- Euro).
a) Ob ein Mittelzufluss Einkommen oder Vermögen ist, richtete sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG nach der modifizierten Zuflusstheorie. Einkommen ist alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, Vermögen das, was er vor der Antragstellung schon hat (zuletzt etwa BSG, Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 27).
Der Kläger hatte bereits im August 2009 ausdrücklich Leistungen für die Zeit ab dem Tag der Haftentlassung, also ab dem 04.09.2009, beantragt. Hierzu war er im Rahmen seiner Dispositionsbefugnis berechtigt. Dieser 04.09.2009 gilt dann als Tag der Antragstellung im Sinne der Zuflusstheorie. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II schließt nur Leistungen für die Zeit vor Antragstellung aus. Erst ab 01.01.2011 schränkt § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. diese Dispositionsbefugnis durch Rückwirkung des Antrags zum jeweiligen Monatsanfang ein.
Wie das BSG im Urteil vom 14.02.2013, B 14 AS 51/12 R, Rn. 15, klargestellt hat, geht es um den Tag der Antragstellung. Es ist also nicht entscheidungserheblich, wann der Kläger am 04.09.2009 das Überbrückungsgeld erhalten hat. Dies liegt daran, dass die kleinste mögliche Bedarfszeit der Kalendertag ist.
Nach der Zuflusstheorie wäre zumindest das Überbrückungsgeld von 1.017,98 Euro als einmalige Einnahme zu werten und gemäß § 11 SGB II i.V.m. § 2 Abs. 3 Alg II-V in der bis 31.03.2011 geltenden Fassung (danach gilt § 11 Abs. 3 SGB II n. F.) auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen. Da das Überbrückungsgeld gemäß Art 51 Abs. 1 BayStVollzG für die vier Wochen nach der Haftentlassung gezahlt wird, wäre dies der angemessene Verteilzeitraum (BSG, Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 36). Durch dieses Einkommen, bereinigt um die Versicherungspauschale von 30,- Euro, wäre der Bedarf von monatlich 885,34 Euro (Regelleistung von 359,- Euro plus Aufwendungen für Unterkunft und Heizung abzüglich 6,47 Euro für Warmwasser) vollständig gedeckt.
Ob neben dem Überbrückungsgeld von 1.017,98 Euro auch das Eigengeld und Hausgeld nach Art. 50 und 52 BayStVollzG - hier 73,76 Euro - Einkommen sein kann, kann offen bleiben, weil bereits das Überbrückungsgeld als Einkommen den Bedarf vollständig abdecken würde. Weil diese Gelder dem Inhaftierten grundsätzlich schon vor der Entlassung verfügbar sind, dürfte es sich regelmäßig um Vermögen handeln (vgl. dazu BSG Urteil vom 22.08.2013, B 14 AS 78/12 R, Rn. 38 ff; unklar aber die dortige Aufteilung der Entlassungszahlung in Teilbeträge).
b) Das Überbrückungsgeld ist aber als Vermögen einzustufen, weil der Kläger seinen Leistungsantrag für den 04.09.2009 wirksam zurückgenommen hat. Ab dem Klageverfahren wurden nur noch Leistungen ab 05.09.2009 begehrt.
aa) Es ist strittig, wie lange ein Antrag auf Arbeitslosengeld II zurückgenommen werden kann. Es werden hierzu im Wesentlichen drei Meinungen vertreten:
(1) Eine Antragsrücknahme sei nach Zugang des Antrags nicht mehr möglich, wenn - wie hier - eine materiell-rechtliche Leistungsvoraussetzung verändert werden soll. Wenn eine Einnahme nach Antragstellung nicht mehr als Einkommen, sondern als anrechungsfreies Schonvermögen gelten soll, werde die Hilfebedürftigkeit in die Verfügungsbefugnis des Antragstellers gestellt. Dies würde dem Zweck des Antragserfordernisses und dem Zweck des SGB II, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zuwider laufen (so Aubel in Juris-Praxiskommentar SGB II, 3. Auflage 2012, § 37 Rn. 30).
Für diese Meinung spricht, dass das BSG in mehreren Fällen eine teilweise Rücknahme des Leistungsantrags nicht diskutiert hat, obwohl dies bei den dargelegten Sachverhalten denkbar erschien. Im Urteil des BSG vom 30.07.2008, B 14 AS 26/07 R, ging es beispielsweise um einen Leistungsantrag von Ende 2004, der letzte Lohn war am 18.01.2005 zugeflossen und es waren Leistungen für Januar 2005 strittig.
In den Urteilen vom 30.09.2008, B 4 AS 29/07 R, und vom 10.09.2013, B 4 AS 89/12 hat es das BSG abgelehnt, einen Verteilzeitraum für einmalige Einnahmen ohne echte Überwindung der Hilfebedürftigkeit zu beenden. Dies spricht ebenfalls gegen eine nachträgliche Korrektur einer Einnahme durch Rücknahme des Leistungsantrags.
(2) Das BSG hat im Urteil vom 17.04.1986, 7 RAr 81/84 (= BSGE 60, 79, 84) für den Antrag auf Arbeitslosengeld nach AFG entschieden, dass die Rücknahmemöglichkeit mit Wirksamkeit des Bescheids nach § 39 SGB X, also der Bekanntgabe des Bescheids, endet. Diese zeitliche Grenze befürworten für Arbeitslosengeld II etwa Striebinger in Gagel, SGB II / SGB III, Loseblatt, § 37 Rn. 80 und M. Mayer in Oestreicher, SGB II / SGB XII, Loseblatt, SGB II § 37 Rn. 13.
Das BSG hatte dies mit der Besonderheit der damaligen Regelungen zum Krankenversicherungsschutz begründet. Mit dem Leistungsbezug entstehe Versicherungsschutz in der Krankenversicherung. Eine Erstattung der Beiträge zur Krankenversicherung sei bei einer späteren Antragsrücknahme aber ausgeschlossen, eine Rückabwicklung des Versicherungsverhältnisses also insoweit nicht möglich. Damals fehlte eine dem Beitragsersatz nach § 335 Abs. 1 SGB III vergleichbare Regelung.
(3) Laut Link in Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 37 Rn. 20, kann ein Antrag bis zur Bestandskraft eines Bescheides zurückgenommen werden - hier also auch noch im Klageverfahren für den Entlassungstag 04.09.2009. Das BSG hat im Urteil vom 13.12.2000, B 14 EG 10/99 R, zum Erziehungsgeld ebenfalls diese Auffassung vertreten. Das vorgenannte Urteil des BSG zum Arbeitslosengeld beruhe auf den dortigen Besonderheiten.
Auch die Dienstanweisung der BA zum SGB II geht unter Ziffer 37.8 davon aus, dass eine Antragsrücknahme bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung möglich ist.
bb) Die erste Meinung, dass der Antrag nach Zugang nicht mehr widerrufen werden kann, ist im Ergebnis abzulehnen. Es bestehen zwar ab Antragstellung Obliegenheiten z.B. bzgl. der Eingliederung in Arbeit, deren nachträgliche Beseitigung problematisch erscheint. Da mit der Rücknahme des Antrags auch der Verlust der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verbunden ist, ist Missbrauch aber kaum zu befürchten.
Durch die Dispositionsfreiheit bei der Antragstellung hat der Betroffene auch das Recht, seinen Leistungsanspruch im Rahmen der Gesetze zu optimieren. Er handelt nicht rechtsmissbräuchlich. Nach § 2 Abs. 2 SGB I haben Sozialbehörden sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Der Leistungsträger ist gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verpflichtet, darauf hinwirken, dass jeder Leistungsberechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen umfassend erhält.
Es ist kein Grund zu erkennen, wieso ein Betroffener im Bereich des SGB II an einer "verfrühten Antragstellung" ohne Korrekturmöglichkeit festgehalten werden soll. Dass ein Leistungsantrag seit 01.01.2011 gemäß § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. den gesamten Monat umfasst, bedeutet nur, dass eine Rücknahme nur mehr für einen ganzen Monat möglich ist. Dies ist als Hinwendung zum Monatsprinzip zu verstehen, nicht als Verbot einer Antragsrücknahme.
cc) Ob ein Leistungsantrag nur bis zur Wirksamkeit des Bescheids oder bis zur Bestandskraft des Bescheids zurückgenommen werden kann, braucht hier nicht entschieden werden. Der Kläger ist wegen Verletzung der Pflicht zur Spontanberatung im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob er den Antrag bis spätestens zur Wirksamkeit des Ablehnungsbescheids vom 23.09.2009 zurückgenommen hätte.
Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind nach ständiger Rechtsprechung (z. B. Urteil BSG vom 18.01.2011, B 4 AS 29/10 R, Rn. 12 ff und Urteil BSG vom 31.10.2007, B 14/11b AS 63/06 R, Rn. 13 ff):
* Der Leistungsträger hat eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt.
Wenn kein Beratungsbegehren vorliegt, hat der Leistungsträger von sich aus zu beraten (Spontanberatung), wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit zu Tage tritt, was allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen ist, die ein verständiger Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre.
* Dadurch ist dem Betroffenen ein Nachteil entstanden.
* Zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen besteht ein ursächlicher Zusammenhang.
* Der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil muss durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können.
* Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen.
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der bis auf 17,- Euro vermögenslose Kläger hat am Entlassungstag 1.091,74 Euro erhalten und einen Leistungsantrag ab dem Entlassungstag gestellt. Es war für den zuständigen Bearbeiter klar und ohne weitere Ermittlungen erkennbar, dass allein durch die Geltendmachung des Leistungsanspruchs für diesen einen Tag der Anspruch zumindest für den Rest des Septembers 2009 wegfällt. Am Entlassungstag bestand bei einer Einkommensanrechung ohnehin kein Anspruch, so dass der Kläger durch die Verschiebung des Antrags um einen Tag Leistungen für 26 Tage (bzw. bei Anrechung für vier Wochen insgesamt 27 Tage) gewinnen konnte. Das hätte er bei einer entsprechenden Beratung mit Sicherheit getan.
Der Nachteil des Klägers besteht hier in dem Wegfall des Leistungsanspruchs für 26 weitere Tage. Dieser Nachteil ist allein verursacht durch die fehlende Beratung - dafür, dass dem Kläger das Problem bereits ohne Beratung bewusst war und er es gleichwohl nicht berücksichtigte, spricht nichts.
Der Nachteil ist durch eine zulässige Amtshandlung zu beseitigen. Die Rücknahme eines Antrags für einige Zeit, mithin eine Verschiebung des Leistungsantrags, ist zumindest bis zur Wirksamkeit des Bescheids zulässig (so auch BSG, Urteil vom 05.08.1999, B 7 AL 38/98 R, Rn. 30).
Der Gesetzeszweck des SGB II verbietet nicht die Verschiebung des ersten Leistungsantrags auf einen späteren Zeitpunkt. Auch im SGB II darf der Antragsteller bestimmen, ab wann er Leistungen begehrt (Dispositionsfreiheit). Der Grundsatz des Forderns in § 2 Abs. 1 SGB II ist ein allgemeiner Programmsatz, er verlangt nicht das Festhalten an einem ungünstigen Antragsdatum. Wie bereits dargelegt, enthält § 37 Abs. 2 Satz 2SGB II n. F. kein generelles Verbot einer Antragsrücknahme. Es handelt sich hier um einen erstmaligen Leistungsantrag. Ob eine Rücknahme eines Weitergewährungsantrags zwecks Umwandlung von Einkommen in Vermögen dem Gesetzeszweck des SGB II widerspräche, ist hier nicht zu entscheiden.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Kläger berechtigt war, seinen Leistungsantrag für den Entlassungstag zurückzunehmen. Entweder darf er das bis zur Bestandskraft des strittigen Bescheids ohnehin oder er kann sich auf eine fehlende notwendige Spontanberatung vor Bescheiderteilung durch den Beklagten berufen und den Antrag im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zurücknehmen.
4. Die Höhe des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II ergibt sich aus dem Bedarf des Klägers im September 2009. Nach der hier vertretenen Auffassung verfügte er nicht über anrechenbares Einkommen.
Der monatliche Bedarf ergibt sich aus der Regelleistung von 359,- Euro plus den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung von 532,81 Euro, abzüglich der Warmwasserpauschale von 6,47 Euro (vgl. § 20 Abs. 1 SGB II a.F.). Das ergibt insgesamt 885,34 Euro für den vollen Monat von 30 Tagen (§ 41 Abs. 1 Satz 2 SGB II) bzw. 29,51 Euro für einen Tag.
Da der Kläger nur für 26 Tage Leistungen begehrt, besteht ein Bedarf von 767,26 Euro (26 Dreißigstel, § 41 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Der Leistungsanspruch ist gemäß § 41 Abs. 2 SGB II in der bis 31.03.2011 gültigen Fassung auf 767,- Euro zu runden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Kläger hat in beiden Instanzen obsiegt. Dass der Kläger erst im Verlauf des Klageverfahrens den Anspruch für den Entlassungstag nicht mehr geltend gemacht hat, rechtfertigt keine Kostenteilung.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob und wie lange ein Leistungsantrag im SGB II zurückgenommen werden kann, zugelassen.
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