L 7 AS 326/14 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 7 AS 140/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 326/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 21.02.2014 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarfs nach dem SGB II ab dem 28.01.2014 bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens bis zum 30.04.2014 zu gewähren. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen. Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T aus C beigeordnet. Kosten diesbezüglich sind nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren ab 24.02.2014 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T aus C gewährt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Bezug auf den Regelbedarf nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) und hier insbesondere über die Frage, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II greift. Die die Antragstellerin betreffende Verwaltungsakte des Antragsgegners lag vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte sowie den Inhalt der Gerichtsakte und insbesondere auf die Ausführungen im Beschluss des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 21.02.2014 verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

1. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufigen Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO - ).

2. Die Antragstellerin hat zunächst den Anordnungsgrund gemäß § 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft gemacht. Als Anordnungsgrund verlangt das Gesetz gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG für die Regelungsanordnung die Abwendung wesentlicher Nachteile. Das Eilverfahren dient der Vermeidung unzumutbarer Folgen oder irreparabler Schäden. Dies ist dann der Fall, wenn einem Antragsteller unter Berücksichtigung auch der im Streit befindlichen öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist. Im Hinblick auf den begehrten Regelbedarf ist der Anordnungsgrund zu bejahen.

3. Dem Gericht ist im Übrigen hinsichtlich des Anordnungsanspruchs eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, daher war im Rahmen einer Folgenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin zu entscheiden (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NVwZ-RR 2001, S. 694 (695)). Im Rahmen der Folgenabwägung waren der Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Hinblick auf den Regelbedarf zu bewilligen. Die Kriterien für eine stattgebende Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Rahmen der Folgenabwägung näher konkretisiert (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Das Gericht hat hierzu ausgeführt, dass Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit grundrechtliche Belange des Antragstellers umfassen. Insbesondere dient die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende der Wahrung der Würde des Menschen. Sofern eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung auch nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte dies zu verhindern.

a) Die Folgenabwägung ist geboten. Streitig zwischen den Beteiligten ist nach der Einlassung des Antragsgegners der Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II; danach sind von den Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Die griechische Antragstellerin reiste am 14.01.2014 mit ihrem Sohn N N nach Deutschland ein. Der Dreimonatszeitraum läuft infolgedessen erst zum 14.04.2014 ab.

Es ist höchstrichterlich jedoch abschließend noch nicht entschieden, ob, wann und unter welchen Voraussetzungen der Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II einschränkend auszulegen ist. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 30.01.2013 (BSG, Urteil vom 30.01.2013 B 4 AS 54/12 R, Rn 22) zur Reichweite des Ausschlussgrundes keine Stellung nehmen müssen, da der Dreimonatszeitraum bereits abgelaufen war. Mit einer weiteren Entscheidung - ebenfalls vom 30.01.2013 - hat das BSG zumindest partiell entschieden, dass Drittstaatsangehörige, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 37/12 R, Rn. 18 m.w.N. zur konträren Rechtsprechung; Münder-Thie, in LPK-SGB II, 5. Auflage, § 7, Rn. 24).

b) Die vorzunehmende notwendige Folgenabwägung fällt im vorliegenden Verfahren zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin sind unter Beachtung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II einerseits und der Wahrung der Würde des Menschen nach Art. 1 Grundgesetz (GG) andererseits in die Abwägung einzustellen, wobei nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn diese nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, zu verhindern ist (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05). Die Antragstellerin begehrt die Sicherstellung eines existentiellen Grundbedürfnisses, hier in Form des Regelbedarfs. Demgegenüber hat das Interesse des Antragsgegners, dass die Hauptsache nicht vorweggenommen wird und der Antragstellerin keine Leistungen gewährt werden, deren Voraussetzungen nach Abschluss des Hauptsachverfahrens sich als nicht vorliegend erweisen, zurückzutreten.

c) Im Ergebnis spricht vieles für eine umfassende einschränkende Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II im Fall des Nachzugs eines ausländischen Familienangehörigen zwecks Familienzusammenführung. Hierbei ist insbesondere der Schutz nach Art. 6 GG zu beachten, der ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates, eine Institutsgarantie wie auch eine wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des - die Ehe und Familie - betreffenden privaten und öffentlichen Rechts enthält; dies gilt auch für Ausländer (LSG NRW, Beschluss vom 07. Dezember 2009 - L 19 B 363/09 AS, Rn 6 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 = BVerfG 51, 386). Es spricht daher vieles dafür, dass der Anwendungsausschluss für den Ausschlussgrund von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II daher nicht alleine beim Zuzug zu einem deutschen Ehepartner, sondern auch bei einer Familienzusammenführung mit einem in Deutschland aufenthaltsberechtigten EU-Bürger insgesamt greift.

Der Lebenspartner der Antragstellerin, Herrn N, steht im Leistungsbezug beim Antragsgegner; eine Aufenthaltsberechtigung ist daher für Herrn N zu bejahen.

Der Zweck der Familienzusammenführung ergibt sich dabei allerdings zunächst nicht allein aus dem Umstand, dass die Antragstellerin als Lebensgefährtin des Herrn N nach Deutschland eingereist ist. Der Familiennachzug ist in §§ 27 ff Aufenthaltsgesetz (AufenthG) abschließend geregelt. Eine eheähnliche Lebensgemeinschaft, wie sie zwischen der Antragstellerin und Herrn N besteht, wird von den Regelungen nicht erfasst. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist auf Ehepartner, Kinder und Eltern eines deutschen Staatsangehörigen beschränkt. Daher lässt sich aus dem Nachzug der Antragstellerin zu ihrem Partner kein Aufenthaltsrecht zur Zusammenführung aus § 27 AufenthG oder § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG ableiten (vgl. hierzu BSG Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn 33 m.w.N.).

Die Sperrwirkung resultiert hier aber aus der Elternschaft der Antragstellerin und des Herrn N zum gemeinsamen Sohn N N. Der gemeinsame Sohn ist zusammen mit der Antragstellerin zeitgleich am 14.01.2014 nach Deutschland eingereist ist. Insofern handelt es sich auch bei der Antragstellerin um ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen, das aus dem Zusammenleben der Partner mit einem gemeinsamen Kind folgt. Diese Personengruppe bildet eine Familie i.S. des Art. 6 GG und der §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1, 29 und 32 AufenthG und kann sich auch auf den Schutz aus Art. 8 der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) berufen (so im Ergebnis BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, das im Zusammenhang mit § 7 Abs. 1 S 2 Nr. 2 SGB II bereits einen vorgeburtlichen Schutz bejaht hat; vgl. auch Dienelt in Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl 2011, § 7 AufenthG RdNr. 20).

d) Im Übrigen sind die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts nach § 19 ff SGB II an die Antragstellerin nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte dem Grunde nach gegeben.

aa) Die Antragstellerin ist am 12.05.1980 geboren und hat damit das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Als griechische Staatsangehörige ist die Antragstellerin erwerbsfähig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn. 13 ff). Die Antragstellerin ist nach bisherigen Erkenntnissen i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3, 9 SGB II auch hilfebedürftig; auf die entsprechende eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 24.01.2014 wird hingewiesen. Hierin hat die Antragstellerin erklärt, sie verfüge über kein eigenes Einkommen oder Vermögen. Zweifel an der Hilfebedürftigkeit wurde auch vom Antragsgegner nicht geäußert. Die Antragstellerin hat im Übrigen auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II glaubhaft gemacht (vgl. zur Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn 18 ff).

bb) Auch § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer und Ausländerinnen und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, vom Leistungsanspruch ausgenommen sind, steht einem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Der Antragsgegner hat diese, noch im Ablehnungsbescheid vom 24.01.2014 vertretene Auffassung unter Hinweis auf den Grund des Zuzugs - hier Familienzusammenführung - ausdrücklich aufgegeben. Das Aufenthaltsrecht im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ergäbe sich daher nicht ausschließlich aus dem Zweck der Arbeitssuche. Dies deckt sich auch mit der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn. 23 ff). Bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die von der Rechtsprechung des BSG geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S. von § 7 Abs. 1 S 2 Nr. 2 SGB II. Das BSG hat in dieser Entscheidung in der Familienzusammenführung einen solchen anderweitigen Zweck anerkannt.

e) Bei der ausgeurteilten Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist zunächst auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht abzustellen; hier 28.01.2014 beim SG. Bei der Bewilligung vorläufig zu gewährender Leistungen war der nach § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II vorgegebene Bewilligungszeitraum von sechs Monaten nicht auszuschöpfen. Es war zu berücksichtigen, dass der Drei-Monatszeitraum nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II aufgrund der Einreise der Antragstellerin am 14.01.2014 am 14.4.2014 abläuft und dieser Ausschlussgrund daher spätestens ab dem 15.4.2014 einer Anspruchsberechtigung nicht mehr im Wege stehen kann. Da bisher keine Anhaltspunkte bestehen, dass der Antragsgegner nach Ablauf der Dreimonatsfrist jedenfalls aus diesem Grund Leistungen weiter verweigert, war der Bewilligungszeitraum auf den 30.4.2014 zu befristen. Hierbei war aus Gründen der Verwaltungsökonomie für den gesamten Monat April 2014 vorläufig Leistungen zu bewilligen. Die zeitliche Befristung dient dazu, die notwendigen Amtsermittlungen von Seiten des Antragsgegners durchführen zu können. Im Übrigen war die Bewilligung alternativ bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch vom 28.01.2014 zu befristen. Über den Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 24.01.2014 ist nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen noch nicht entschieden worden.

III. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war in beiden Rechtszügen nicht offensichtlich mutwillig und für den Antrag bestand auch hinreichende Erfolgsaussicht i.S.d. §§ 73 a SGG, 114 ZPO, wie oben dargelegt. Aufgrund der Sachlage erscheint die Anwaltsbeiordnung i.S.d. §§ 73 a SGG, 121 Abs. 2 ZPO erforderlich. Das einzusetzende Monatseinkommen übersteigt auch nicht die in den §§ 73 a SGG, 115 ZPO festgelegte Grenze. Die Antragstellerin ist hilfebedürftig (s.o.). Die Antragstellerin braucht daher zu den Kosten der Prozessführung keinen Beitrag zu leisten.

IV. Die Kostenentscheidung für das einstweilige Verfahren beruht auf § 193 SGG analog. Die Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig.

Der Beschluss ist unanfechtbar gemäß § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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