L 28 AS 1830/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 114 AS 13370/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 AS 1830/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2014 abgeändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 wird angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet, zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2014, mit der er beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 anzuordnen, ist begründet.

Der Antragsgegner bewilligte dem am 1950 geborenen Antragsteller letztmals mit Bescheid vom 20. Mai 2014 für die Zeit vom 01. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 654,24 Euro monatlich. Mit Bescheid vom 26. Mai 2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller nach Einholung einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg vom 16. Mai 2014 auf, Rente wegen Alters bei der zuständigen Rentenversicherung zu beantragen und bis zum 12. Juni 2014 den Nachweis über die Beantragung vorzulegen. Der Antragsteller widersprach der Aufforderung zur Rentenantragstellung, da sie ermessensfehlerhaft sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2014 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Er, der Antragsgegner, habe den Antragsteller nach Abwägung der im Widerspruchsbescheid ausführlich dargelegten Ermessenserwägungen zum vorzeitigen Anspruch auf Rente, zum Nichtvorliegen von Härtefall bzw. Unbilligkeit der vorzeitigen Rentenbeantragung, zum Vorrang von versicherungsfinanzierten Leistungen vor steuerfinanzierten Leistungen und zur Möglichkeit der ergänzenden Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), die denen des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in diesem Fall vorzuziehen seien, auffordern dürfen, die Rente wegen Alters vorzeitig zu beantragen. Mit Schreiben vom 12. Juni 2014 stellte er außerdem für den Antragsteller den Rentenantrag und meldete seinen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) an.

Bereits am 04. Juni 2014 ist bei dem Sozialgericht der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs eingegangen, den der Antragsteller mit der fehlerhaften Ermessensausübung des Antragsgegners begründet hat. Am 01. Juli 2014 hat er außerdem Klage gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 123 AS 16690/14 registriert ist.

Der Rechtsschutz richtet sich nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn Widerspruch und Anfechtungsklage haben gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung handelt es sich außerdem um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 16. Dezember 2011 – B 14 AS 138/11 B – m. w. N., zitiert nach juris).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs herzustellen, nach Erlass des Widerspruchsbescheids nicht unstatthaft geworden. Der begehrten Anordnung steht nicht entgegen, dass der vom Antragsteller eingelegte Widerspruch zwischenzeitlich beschieden worden ist und er mittlerweile auch Klage erhoben hat. Der Bescheid vom 26. Mai 2014 ist somit nicht bestandskräftig geworden. Unabhängig von der Frage, ob zwischenzeitlich Klage erhoben ist, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, die auf den Erlass des angefochtenen Bescheides zurückwirkt und bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Klärung bestehen bleibt (vgl. Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 11. Dezember 2008 – L 10 LW 5225/08 ER B – und 20. März 2006 - L 8 AS 369/06 ER-B -, jeweils zitiert nach juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012 § 86b RdNr. 19; Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl. 2014 § 80 RdNr. 171).

Die Erfolgsaussicht des von dem Antragsteller gestellten Antrags beurteilt sich nach dem Ergebnis der Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung und dem Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung. Hierbei sind neben der Abwägung der Folgen bei Gewährung bzw. Nichtgewährung des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache von Bedeutung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. A. 2012 § 86 b RdNr. 12c ff.). Zu berücksichtigen ist aber auch, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids grundsätzlich Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Juni 2012 – L 7 AS 916/12 B ER -, zitiert nach juris).

Vorliegend geht die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids.

Nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II können die Leistungsträger, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, nach diesem Buch den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.

Es bestehen ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts, weil dieser ermessensfehlerhaft sein dürfte. Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist. Ob der Antragsgegner als Leistungsträger einen Antrag stellt, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Allerdings liegt nicht nur die Stellung des Antrags an Stelle des Antragstellers in seinem Ermessen, sondern schon die Aufforderung selbst bedarf einer Ermessensentscheidung (vgl. Luthe in Hauck/Noftz, SGB II, Stand II/2013, § 5, RdNr. 158, m. w. N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Juni 2012 – L 7 AS 916/12 B ER -, m. w. N.; zitiert nach juris). Der Antragsgegner muss daher seine Gründe für die Verpflichtung des Antragstellers zur Rentenantragstellung bereits in seinem Aufforderungsschreiben darlegen. Bei seiner Ermessensausübung sind etwa die voraussichtliche Dauer oder Höhe des Leistungsbezugs, absehbarer Einkommenszufluss oder dauerhafte Krankheit zu berücksichtigen. Insbesondere in Bezug auf die Stellung eines vorzeitigen Altersrentenantrags ist zu berücksichtigen, dass der Leistungsberechtigte als Altersrentner von Leistungen nach dem SGB II – und damit auch von solchen nach §§ 16 ff. – ausgeschlossen ist. Zudem ist die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente regelmäßig mit Abschlägen verbunden (vgl. Beschluss des Senats vom 27. September 2013 – L 28 AS 2330/13 B ER -, zitiert nach juris; S. Knickrehm/Hahn in Eicher, SGB II, 3. A. 2013, § 5 RdNr. 29). Von dem ihm eingeräumten Ermessen hat der Antragsgegner in dem Bescheid vom 26. Mai 2014 keinen Gebrauch gemacht bzw. im Bescheid nicht zum Ausdruck gebracht. Er enthält keine Ausführungen, die erkennen lassen, dass der Antragsgegner die Verpflichtung zur Ausübung des Ermessens erfüllt. Damit liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte für einen Fall der Ermessensreduzierung auf Null.

Unterstellt, die fehlende Ermessensausübung könnte im Widerspruchsbescheid nachgeholt werden, führt dies nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn nach der Begründung des Widerspruchsbescheids hat der Antragsgegner zwar erkannt, dass der Antragsteller Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens hat. Dieser Verpflichtung hat der Antragsgegner jedoch auch im Widerspruchsbescheid nicht Rechnung getragen. In seinen Ausführungen bezieht er sich allein auf die gesetzlichen Vorschriften, die zugrundeliegenden Gesetzesmotive sowie auf das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 12a SGB II i. V. m. der Unbilligkeitsverordnung und schlussfolgert daraus, dass die Aufforderung zur Beantragung der Altersrente zu Recht erfolgt sei. Es werden zwar als Ermessenskriterien der vorzeitige Anspruch auf Rente, das Nichtvorliegen von Härtefall bzw. Unbilligkeit der vorzeitigen Rentenbeantragung, der Vorrang von versicherungsfinanzierten Leistungen vor steuerfinanzierten Leistungen und die Möglichkeit der ergänzenden Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB XII, die denen des SGB II in diesem Fall vorzuziehen seien, aufgeführt. Eine Abwägung dieser Kriterien – wobei dahinstehen kann, ob diese ausreichend sind - in Bezug auf den zu entscheidenden konkreten Einzelfall findet neben der einfachen Subsumtion aber nicht statt. Die Begründung des Widerspruchsbescheids unter II. könnte ohne Änderung auf jeden anderen Leistungsempfänger, der in dem entsprechenden Alter ist, angewendet werden.

Da die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen war, geht der Senat davon aus, dass der Antragsgegner den bereits gestellten Rentenantrag nicht weiter verfolgen wird.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerde-verfahren unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers wird abgelehnt, da der Antragsteller aufgrund der unanfechtbaren Entscheidung über die Kostenerstattung in der Lage ist, die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen. Aus diesem Grund ist auch die Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog, § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 Zivilprozessordnung.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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