S 6 KR 47/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 47/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 300/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1. Die Psychotherapie-Richtlinien konkretisieren den Behandlungsanspruch nach § 27 SGBV. Sie geben insoweit die gurndästzlichen Rahmenbedingungen, unter denen ambulante Psychotherapie stattfindet, wieder.
2. Die Psychotherapie-Richtlinien begrenzen den notwendigen Behandlungsumfang nur "in der Regel". Dies schließt Ausnahmekonstellationen in Einzelfällen nicht aus, in denen ein Behandlungsanspruch auch über die in den Richtlinien festgeschriebenen Grenzen hinausgehen kann.
3. Im vorliegenden Einzelfall ist aufgrund der Schwere der Erkrankung davon auszugehen, dass die Therapienotwendigkeit auch lebenslang fortbestehen kann.
Die Bescheide vom 16.08.2010 und 10.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2011 werden aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin von den Kosten weiterer 88 bis zum 31.12.2013 durchgeführter Psychotherapiesitzungen freizustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenfreistellung für Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung.

Die Klägerin, geboren 1967, leidet unter einer Angst- und Zwangsstörung auf der Basis einer Borderline-Persönlichkeits-Organisationsstruktur. Zwischen 1984 und 1998 wurde die Klägerin nahezu durchgängig stationär psychiatrisch behandelt. Im Zeitraum von 2002 bis 2008 führte sie eine analytische Psychotherapie mit insgesamt 540 Sitzungen bei Frau Dr. C. auf Kosten er Beklagten durch. Danach wurde die Therapie fortgesetzt; die Kosten übernahmen die Eltern der Klägerin. Die Klägerin erhält kontinuierlich außerhalb des Regelfalls Ergotherapie. Sie ist mit Clomipramin 225mg ret. seit langer Zeit medikamentös eingestellt. Sie wird kontinuierlich von der Ambulanz der Vitosklinik D-Stadt sowie sozialpsychiatrisch wöchentlich mitbetreut.

Die Beklagte bewilligte auf Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 16.04.2010 die Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung in Form von 25 Einzelsitzungen im Rahmen einer Kurzzeitbehandlung. Am 04.07.2010 beantragte die Klägerin dann die Umwandlung in eine Langzeittherapie und die Genehmigung weiterer 240 Einzelsitzungen bei einer Therapiefrequenz von 3 Sitzungen/Woche. Die Beklagte leitete den Antrag Herrn Dr. E. zur Begutachtung zu. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom 10.08.2010 zu folgendem Ergebnis: "Es wird eine schwere Strukturstörung mit chronifiziertem Symptomcharakter vorrangig entsprechend D 1.2. der Richtlinien dargestellt. Nach einer vorangegangenen, den Rahmen einer Richtlinientherapie als episodische Maßnahme bereits deutlich sprengenden analytischen Psychotherapie (560 Sitzungen zwischen 2002 und 2008) wird nun nach wiederum weiteren 25 Sitzungen Probetherapie erneut ein Antrag auf hochfrequente analytische Psychotherapie gestellt. Dabei muss - bezogen auf die therapeutische Beziehung - zunächst berücksichtigt werden, dass der therapeutische Kontakt bereits seit 1994 besteht und als Erfolg die Verhinderung einer Psychiatrisierung zu verbuchen und eine partielle Separation von der therapeutischen Bindung bewirkt hat. Allerdings lassen einerseits der bisherige Krankheitsverlauf, der erneute Klinikaufenthalt sowie die psychosoziale Entwicklung und Situation prognostische Zweifel bezogen auf die Wirkung einer erneuten analytischen Intervention aufkommen und andererseits erscheint der Rahmen der Richtlinientherapie bereits überbeansprucht. In Berücksichtigung aller Aspekte kann daher die beantragte Behandlung leider nicht befürwortet werden. Hier scheint nunmehr weniger eine erneute therapeutische Ambition im Rahmen der Richtlinientherapie erforderlich, als vielmehr eine auf Kontinuität ausgerichtete Begleitung außerhalb der Richtlinientherapie, ggfs. mit flankierenden sozialpsychiatrischen Angeboten bzw. der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe."

Die Beklagte lehnte eine weitere Kostenübernahme unter Bezugnahme auf diese Stellungnahme mit Bescheid vom 16.08.2010 ab.

Am 04.10.2011 beantragte die Klägerin nochmals 125 Einzelsitzungen. Mit Bescheid vom 10.11.2010 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme sodann erneut ab. Sie nahm Bezug auf ein Obergutachten von Herrn Dr. F. vom 15.09.2010. Der Gutachter fasste zusammen: "Die Möglichkeiten von Richtlinien-Psychotherapie sind im vorliegenden Fall weit überschritten. Auch der erneute Antrag übermittelt keine neuen und überzeugenden Erkenntnisse, dass durch weitere analytische Psychotherapie in überschaubarer Zeit wesentliche Verbesserung erreichbar wäre. Andererseits muss eingeschätzt werden, dass bei der Art und Schwere der Erkrankung eine therapeutische Begleitung der Patientin notwendig und hilfreich ist. Hierbei wird es aber um Halt, Stützung, Stabilisierung, entlastende Kontakte gehen müssen und nicht um einen analytischen Entwicklungsprozess. Dazu sollten intensive Überlegungen und Bemühungen unternommen werden, wie die Patientin durch sozialpsychiatrische Angebote, Beratung und nicht bewilligungspflichtige Gespräche therapeutisch begleitet werden kann. Auch die Frage einer psychopharmakologischen Behandlung gegen quälende Symptome sollte hier ernsthaft und einfühlsam besprochen werden, auch wenn die Patientin einer solchen Empfehlung ablehnend gegenüber stehen sollte."

Zum Abschluss der Behandlung bewilligte die Beklagte auf entsprechende Empfehlung von Dr. F. nochmals 10 Einzelsitzungen. Die Klägerin legte gegen die ablehnenden Bescheide jeweils Widerspruch ein. Im Rahmen eines gerichtlichen Eilverfahrens zum Aktenzeichen S 6 KR 13/11 ER wurde die Beklagte im Wege einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 23.02.2011 verpflichtet, einstweilen die beantragten Kosten für die Fortsetzung der ambulanten Psychotherapie bei Frau Dr. C. zunächst für ein halbes Jahr zu übernehmen. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 09.03.2011 weitere 78 Einzelsitzungen. Nach Durchführung eines Untätigkeitsklageverfahrens zum Aktenzeichen S 6 KR 45/11 lehnte die Beklagte eine weitere Kostenübernahme mit Widerspruchsbescheid vom 09.03.2011 ab. Die Klägerin befinde sich seit 1984 in kontinuierlicher psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Die Möglichkeiten der Richtlinien-Psychotherapien seien nach der Therapie mit 540 Sitzungen von 2002-2008 bereits weit überschritten. Nach den vorliegenden Gutachten sei nicht erkennbar, dass durch eine weitere analytische Psychotherapie in überschaubarer Zeit eine wesentliche Besserung zu erreichen sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage vom 15.03.2011.

Die Klägerin trägt vor, dass es ihr durch die psychotherapeutische Behandlung bei Frau Dr. C. gelungen sei, das stationäre Setting zu verlassen und ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Werde die ambulante Behandlung beendet, sei zu befürchten, dass akute Suizidalität auftrete und eine erneute stationäre Unterbringung erforderlich würde. Die Höchstgrenzen der Psychotherapie-Richtlinien seien auf ihren Einzelfall nicht anwendbar, da die Richtlinien gerade nicht den Fall erfassten, dass durch ambulante Therapien eine stationäre Unterbringung verhindert werden könnte. Es sei insoweit unrichtig, dass die Richtlinien eine wirksame Begrenzung des Anspruchs auf Krankenbehandlung darstellten. Wenn überhaupt, müsse diese Frage im Lichte der Menschenwürde betrachtet werden. Ihr müsse es ermöglicht werden, in Freiheit ein Leben zu führen, das ihr eine menschenwürdige Qualität biete. Die notwendigen und wirtschaftlichen Aspekte dieser Therapie könnten gegenüber der wesentlich kostenintensiveren stationären Behandlung sicherlich nicht in Frage stehen. Der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG genieße den Vorrang gegenüber den Interessen der Beklagten auf Durchsetzung eines abgeschlossenen Konzeptes der Therapierichtlinien. Schließlich sei die weitere Prognose als günstig einzuschätzen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, sie von Forderungen der Ärztin Dr. C. in Höhe von insgesamt EUR16.160,00 freizustellen,
hilfsweise
an sie EUR16.160,00 zu zahlen für psychotherapeutische Behandlung (202 Stunden im zeitraum vom 17.05.2010 bis 19.11.2012).

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie nimmt auf die Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren Bezug und betont, dass die Möglichkeiten der Psychotherapie-Richtlinien ausgeschöpft seien. Eine womöglich lebenslange psychosoziale Dauerversorgung falle nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Erforderlich sei eine Stabilisierung durch eine kontinuierliche sozialpsychiatrische Lebensbegleitung und psychopharmakologische Therapie.

Im Rahmen des Klageverfahrens hat die Beklagte nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.06.2013 mit Schreiben vom 02.08.2013 nochmals Therapiestunden bewilligt und zwar 3h/Woche bis zum 31.08.2013, insgesamt 120h sowie 2h/ Woche bis zum 31.12.2013, insgesamt 34h.

Das Gericht hat im Klageverfahren zunächst einen Befundbericht bei der behandelnden Therapeutin Dr. C. eingeholt. Frau Dr. C. hat ausgeführt, dass sie die Klägerin im Mai 1994 während ihrer Facharztausbildung im PKH D-Stadt kennengelernt habe. Sie habe spontan einen guten emotionalen Zugang zur Klägerin gefunden, der sich im Laufe der Zeit zu einer so vertrauensvollen Basis entwickelt habe, dass die Klägerin zum Zeitpunkt ihrer vertragspsychotherapeutischen Niederlassung nach fast 17 Jahren Klinikaufenthalt in ihre ambulante Therapie habe entlassen werden können. Zu Beginn habe dies fast tägliche Gesprächskontakte erfordert, die dann sukzessive auf eine Frequenz von 3mal-wöchentlich hätten reduziert werden können. Bis vor drei Jahren habe die Klägerin in einem "bergenden" Zimmer innerhalb des Hauses ihrer Praxis gelebt. Während im PKH D-Stadt noch der Einsatz von bis zu sechs starken Pflegern erforderlich gewesen sei, um die Klägerin in ihrer Zerstörungswut aufzuhalten, gelinge dies nun durch ihr Containment und ihre verbalen Interventionen. Die Behandlungsalternative bestehe in einem "Leben hinter Mauern". Die Notwendigkeit der Fortsetzung der Therapie sei "vergleichbar mit der Dringlichkeit der allmählichen und kontinuierlichen Entschärfung einer Bombe." Es handele sich um eine minutiöse und hoch differenzierte psychodynamische, die einzelnen emotionalen und interaktiven, oft auf massiven Projektionen beruhenden Reaktionen analysierende Therapie mit dem Ziel der Affektregulierung.

Die Beklagte hat ihren Obergutachter, Dr. F. mit diesem Befundbericht von Frau Dr. C. befasst. In seiner Stellungnahme vom 17.02.2012 hat Dr. F. festgestellt, dass die bisherigen Therapien keine wesentliche Strukturverbesserung bei der Klägerin und damit kein stabiles Ergebnis erbracht hätten. Es sei kein Nachweis für eine wesentliche intrapsychische Entwicklung der Klägerin erbracht. Der offensichtliche Misserfolg werde von der Therapeutin nicht kritisch analysiert. Die angegebenen Verhaltens-Erfolge seien als Ergebnis einer ungewöhnlich intensiven therapeutischen Beziehung einzuschätzen. Es dürfe ein Übertragungseffekt bei intensiver Zuwendung angenommen werden, dessen "Erfolg" von der therapeutischen Beziehung abhängig bleibe und nicht als innerseelische Strukturentwicklung und damit als Reifung oder gar Heilung eingeschätzt werden könne. Es seien sogar Züge einer malignen Regression mit enormer (pathologischer) Abhängigkeit von der Therapeutin anzunehmen. Es liege ein Dauerzustand vor, der durch Therapie nicht wesentlich zu verändern sei, aber durch eine kontinuierliche sozialpsychiatrische Lebensbegleitung und psychopharmakologische Therapie stabilisiert werden könne und müsse.

Das Gericht hat sodann Beweis erhoben durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens bei Dr. G. Der Sachverständige ist in seinem Gutachten vom 28.01.2013 zu den folgenden Ergebnissen gelangt: Die durchgeführte ambulante Psychotherapie sei geeignet, eine Verschlimmerung der Erkrankung zu verhüten und die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Hierzu bedürfe es psychodynamischer Arbeit. Eine lediglich begleitende psychiatrisch-psychotherapeutische bzw. sozialpsychiatrische Behandlung mit selteneren und kürzeren Behandlungsterminen sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend, um diese Ziele zu erreichen. Sofern diese Therapie beendet werden müsse, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Exazerbation der psychischen Symptome zu erwarten, mit einer erhöhten Häufigkeit und einer Verschlimmerung der Angst- und Erregungszustände, von selbstschädigendem Verhalten bis hin zur Gefahr eines Suizids oder von fremdschädigenden Handlungen. Eine solche Exazerbation würde mit hoher Wahrscheinlichkeit eine (zwangsweise) stationäre Unterbringung bedeuten, wodurch die destruktive Psychodynamik wieder in Gang käme. Es wäre in diesem Fall eine vermutlich nachhaltige Verschlechterung des psychischen Zustandes zu erwarten. Die derzeitige Therapiefrequenz könne nach einer Übergangszeit von zwei bis drei Monaten auf 2 Stunden wöchentlich reduziert werden. Der Verlauf der Therapie spreche dagegen, dass Verbesserungen der psychischen Fähigkeiten nicht eingetreten sein könnten. Die therapeutische Entwicklung sei als positiv anzusehen. Eine weitere Entwicklung der psychischen Struktur sei möglich. Die von Dr. F. vorgeschlagenen alternativen Behandlungsformen reichten nicht aus, um die genannten Ziele zu erreichen. Nachdem die Beklagte das Gutachten ihrem Sachverständigen, Herrn Dr. F., zur Stellungnahme zugeleitet hatte, bat das Gericht Herrn Dr. G. um eine ergänzende Stellungnahme, die dieser mit Datum vom 22.07.2013 erstellt hat. Das Gericht hat im Rahmen einer mündlichen Verhandlung am 05.09.2013 Herrn Dr. G., Herrn Dr. F. sowie Frau Dr. C. als sachverständige Zeugen vernommen.

Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf die vorliegenden Gutachten, medizinischen Stellungnahmen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten, auch zu den Aktenzeichen S 6 KR 13/11 ER und S 6 KR 45/11, die bei der Entscheidungsfindung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden. Die Sache hat nach Durchführung einer umfangreichen mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art mehr. Der Sachverhalt ist nunmehr geklärt. Die Beteiligten wurden hierzu auch angehört.

Die zulässige Klage ist auch hinsichtlich des Streitgegenstandes des Verfahrens, d.h. hinsichtlich 355 Gesamttherapiestunden, begründet. Soweit der Antrag der Klägerin über diesen Streitgegenstand hinausgeht, war die Klage abzuweisen.

Die Bescheide der Beklagten vom 16.08.2010 und 10.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.03.2011 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Sie hat einen Anspruch auf Freistellung von den Kosten der bisher nicht genehmigten Therapiesitzungen bis zu einer Gesamtzahl von 355 Stunden. Die Beklagte hat bisher genehmigt: - 10 Sitzungen mit Bescheid vom 24.09.2010 - 25 Sitzungen mit Bescheid vom 16.04.2010 - 78 Sitzungen mit Bescheid vom 09.03.2011 - 154 Sitzungen mit Bescheid vom 02.08.2013. Insgesamt wurden damit 267 Einzelsitzungen bewilligt, so dass streitgegenständlich nur noch die restlichen 88 Sitzungen waren.

Die Klägerin ist von den Kosten für diese in der Vergangenheit ausweislich der Rechnungen von Frau Dr. C. auch durchgeführten Therapiesitzungen, freizustellen.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Fortsetzung der vorliegend praktizierten analytische Psychotherapie im Sinne der Psychotherapie-Richtlinien notwendig war und ist, um eine Verschlimmerung der Krankheit der Klägerin zu verhindern. Das Gericht folgt insoweit den Einschätzungen des Sachverständigen Dr. G. und der behandelnden Therapeutin Dr. C., die im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 05.09.2013 nachvollziehbar, schlüssig und übereinstimmend dargelegt haben, dass die Klägerin unter einem extremen und hoch komplexen Krankheitsbild leidet, das mit dem Mittel der ambulanten Psychotherapie in der Vergangenheit deutlich gebessert werden konnte und auch noch weiter gebessert werden kann. Herr Dr. G., der selber Jahrzehnte im stationären Bereich mit psychisch schwer kranken Menschen gearbeitet hat, hat dargestellt, dass er nur sehr wenige Patienten erlebt hat, die so schwer krank waren, wie die Klägerin. Dies belegt ein außergewöhnlich schweres Krankheitsbild und den Einzelfallcharakter des Falles. Auch Herr Dr. F. definiert das Krankheitsbild in der mündlichen Verhandlung als "hoch pathologisch".

Die Beklagte und Dr. F. gehen abweichend von den gesetzlichen Vorgaben davon aus, dass die Therapie notwendig sein muss, um eine Verbesserung des Zustandes zu erzielen. Nach der gesetzlichen Systematik genügt jedoch auch eine Notwendigkeit der Therapie, um eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes zu verhindern, § 1 Abs. 2 Psychotherapie-Richtlinien. Eine derartige Therapieeignung liegt im Falle der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts unzweifelhaft vor. Herr Dr. F. hält Frau Dr. C. fortwährend fehlende psychostrukturelle Verbesserung und fehlenden Behandlungserfolg vor. Selbst wenn man dies annehmen wollte – was das Gericht nach der Einschätzung des objektiven und uneingeschränkt glaubwürdigen Sachverständigen Dr. G. für fern liegend hält – so hat die ambulante Therapie doch zumindest eine dauernde Stabilisierung der Klägerin erreicht und damit im Sinne der gesetzlichen Systematik eine Verschlimmerung verhindert. Die Klägerin musste seit Beginn der Therapie nicht mehr stationär behandelt werden, was im Hinblick auf die Krankheitsgeschichte mit jahrelanger stationärer Unterbringung als erhebliche Stabilisierung angesehene werden muss. Auch prognostisch ist mit Dr. G. und Frau Dr. C. davon auszugehen, dass durch die Fortsetzung der Therapie zumindest eine dauerhafte Stabilisierung der Klägerin und damit ein selbstbestimmtes Leben erreicht werden kann. Das von Herrn Dr. F. als abnorm beschriebene enge Verhältnis von Patientin und Therapeutin stellt sich nach den überzeugenden Angaben von Dr. G. im Rahmen der mündlichen Verhandlung als essentieller Bestandteil des Therapieerfolges dar. Herr Dr. G. hat nachvollziehbar dargelegt, dass eine derartige Beziehung immer eine Gradwanderung zwischen beruflicher und persönlicher Beziehung ist. Das Gericht folgt ihm in der Einschätzung, dass Frau Dr. C. mit der Unterbringung der Klägerin im unmittelbaren Umfeld der Praxis und der zu Beginn täglichen Intervention sicherlich einen ungewöhnlichen Weg gewählt hat. Gemessen am erreichten Erfolg scheint diese Vorgehensweise jedoch hoch anerkennenswert und als äußerst angemessen. Soweit Herr Dr. G. einen Therapeutenwechsel als genauso gravierend wie das Ende der Therapie einschätzt, hält dies das Gericht auf der Grundlage der für die Therapie der Klägerin essentiellen Vertrauensbasis zu Frau Dr. C. für ebenso nachvollziehbar.

Das Gericht folgt der Beklagten insbesondere nicht im Hinblick auf ihre zentrale Argumentation, die auch der Sachverständige Dr. F. in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich verfolgt hat, dass der Einzelfall der Klägerin nicht mehr mit ambulanter Psychotherapie behandelt werden dürfe, weil die Höchstgrenzen der Psychotherapie-Richtlinien bereits überschritten seien. Die Psychotherapie-Richtlinien konkretisieren den Behandlungsanspruch aus § 27 SGB V. Sie geben insoweit die grundsätzlichen Rahmenbedingungen, unter denen ambulante Psychotherapie stattfindet, wieder. Der Behandlungsumfang und die Behandlungsdauer werden in §§ 23 ff. der Richtlinien näher ausgeführt. Dabei legen die Richtlinien in § 23 Abs. 2 selber fest, dass die Begrenzungen die therapeutischen Erfahrungen in den unterschiedlichen Gebieten der Therapie berücksichtigen und einen Behandlungsumfang darstellen, in dem "in der Regel" ein Behandlungserfolg erwartet werden kann. Schon vom Wortlaut her schließen die folgenden in den §§ 23ff. enumerierten Höchstgrenzen damit Ausnahmekonstellationen nicht aus. Dies bedeutet konkret, dass es Einzelfälle geben kann, in denen ein Behandlungserfolg im Rahmen dieser Grenzen nicht erwartet werden kann. Diese sind insoweit auch nicht durch die Höchstgrenzen der §§ 23aff. beschränkt. Soweit Herr Dr. G. erwartet, dass die Therapienotwendigkeit bei der Klägerin lebenslang fortbestehen wird, ist dies von den Richtlinien damit nicht ausgeschlossen, sondern in besonders begründeten Einzelfällen möglich. Ein solcher Einzelfall liegt im Falle der Klägerin zur Überzeugung des Gerichts vor. Die Klägerin leidet unter einer schwersten psychischen Krankheit. Sie kann weder unter den vom Prozessbevollmächtigten in der Klagebegründung zutreffend ins Feld geführten Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG noch unter Wirtschaftlichkeitsaspekten von der Beklagten darauf verwiesen werden, eine stationäre Einrichtung aufsuchen zu müssen. Dass diese Konsequenz bei einem Therapieende oder bei Therapeutenwechsel mit hoher Wahrscheinlichkeit droht, hat Dr. G. in seinem Sachverständigengutachten nachvollziehbar und eindrücklich geschildert. Darüber hinaus hat die Beklagte entsprechend der Präambel der Psychotherapie-Richtlinien bei ihrer Entscheidung auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Behandlung zu berücksichtigen. Soweit der Dr. G. ausführt, dass sehr wahrscheinlich ist, dass die Klägerin ohne ambulante Therapie wieder stationär psychiatrisch versorgt werden muss, ist dies ein gewichtiger wirtschaftlicher Aspekt, den die Beklagte bisher unter formaler Bezugnahme auf die Therapiehöchstgrenzen außer Acht gelassen hat. Die von Herrn Dr. F. alternativ vorgeschlagenen Optionen – sozialpsychiatrische Betreuung und psychopharmakologische Behandlung – werden durch die regelmäßige sozialpsychiatrische Mitbetreuung, Ergotherapie und Medikamententherapie bereits ausgeschöpft. Für das Gericht ist nicht erkennbar und nachvollziehbar, dass und inwieweit dadurch die an den Wurzeln der Erkrankung ansetzende Psychotherapie ersetzt werden könnte. Insbesondere erscheinen ausschließlich sozialpsychiatrische Maßnahmen in Kombination mit medikamentöser Therapie nicht ausreichend, um eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes der Klägerin nachhaltig zu verhindern.

Nach alledem musste die Klage weit überwiegend Erfolg haben.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin hinsichtlich des Streitgegenstandes, 355 Therapiestunden, vollumfänglich obsiegt hat. Soweit der Antrag der Klägerin über diesen Streitgegenstand hinausgeht, war dies im Rahmen der Kostenentscheidung zu vernachlässigen.
Rechtskraft
Aus
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