L 11 AS 353/15 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 AS 167/15 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 353/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Verweigert das Jobcenter die Fortzahlung des Arbeitslosengeld II wegen einer vorläufigen Zahlungseinstellung und ist der maßgebliche Bewilligungsbescheid noch nicht aufgehoben worden, so ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statthaft.
2. Ergeht nach einer vorläufigen Zahlungseinstellung nicht binnen zwei Monaten ein Aufhebungsbescheid, besteht für das Jobcenter kein Recht zur Verweigerung der Zahlung von Arbeitslosengeld II aus einem erteilten Bewilligungsbescheid.
3. Ein zur Vermeidung der Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmen einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich zulässiger Abschlag von den in Betracht kommenden Leistungen ist dann nicht vorzunehmen, wenn die Erfolgsaussicht einer Klage in der Hauptsache offensichtlich ist.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 22.04.2015 wird abgeändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin ab 07.04.2015 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes längstens bis 30.09.2015 in Höhe von monatlich 399 EUR zu zahlen.

II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist die Fortzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nach einer vorläufigen Zahlungseinstellung.

Die Antragstellerin (ASt) bezog vom Antragsgegner (Ag) Alg II. Zuletzt wurden ihr mit Bescheid vom 10.09.2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 01.12.2014 Leistungen in Höhe von monatlich 391 EUR (Oktober bis Dezember 2014) bzw. 399 EUR (Januar bis September 2015) bewilligt. Mit Schreiben vom 11.12.2014 verfügte der Ag zunächst die vorläufige Einstellung der Zahlung von Alg II ab dem 01.01.2015, hob diese aber wieder auf und zahlte - ausweislich einer Zahlungsübersicht in der Verwaltungsakte - die Leistungen für Januar und Februar 2015 in Höhe von insgesamt 798 EUR am 09.02.2015 nach. Das Alg II für Dezember 2014 in Höhe von 391 EUR war danach bereits am 01.12.2014 ausgezahlt worden.

Mit Schreiben vom 02.02.2015 stellte der Ag erneut das Alg II ab 01.03.2015 vorläufig ein. Es habe sich der Verdacht erhärtet, die ASt lebe in einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft.

Am 07.04.2015 hat die ASt beim Sozialgericht Würzburg (SG) im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt, ihr sofort wieder Alg II zu zahlen. Sie lebe nicht mit Herrn K. (K) in einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft. Für die Tätigkeiten, die sie für ihn erledige, wohne sie mietfrei. Sonst verfüge sie über keine Einkünfte. Mit Beschluss vom 22.04.2015 hat das SG den Ag vorläufig zur Zahlung von Alg II in Höhe von monatlich 279,30 EUR bis längsten 31.07.2015 verpflichtet und den Antrag im Übrigen abgelehnt. Auch wenn die Zwei-Monats-Frist des § 40 Abs 2 Nr 4 SGB II iVm § 331 Abs 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) noch nicht abgelaufen sei, sei der Antrag im Wesentlichen begründet. Die offene Frage einer Bedarfsgemeinschaft mit K sei im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens zu klären. Zur Vermeidung einer Vorwegnahme der Hauptsache sei ein Abschlag von 30% des Alg II gerechtfertigt. Für die Vergangenheit sei eine Leistungsverpflichtung des Ag nicht vorzunehmen.

Dagegen hat die ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und die fehlende Unterschrift und das fehlende Amtssiegel auf der ihr übersandten Abschrift des Beschlusses des SG gerügt.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und begründet. Die ASt hat Anspruch auf vorläufige, ungekürzte Zahlung der ihr bewilligten Leistungen ab dem Zeitpunkt ihrer Antragstellung beim SG am 07.04.2015. Der Beschluss des SG vom 22.04.2015, dessen an die ASt zuzustellende Abschrift nicht persönlich zu unterschreiben (§ 202 SGG iVm § 317 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung -ZPO-) und lediglich von der Geschäftsstelle zu beglaubigen war (§ 109 Abs 2 Satz 1 ZPO), ist insofern abzuändern.

Streitgegenstand ist vorliegend die vorläufige Fortzahlung des Alg II ab dem 07.04.2015. Die ASt hatte am 07.04.2015 beim SG die sofortige Weiterzahlung ihrer Leistungen beantragt, so dass es ihr alleine um die Zahlung ab 07.04.2015 ging. Das Alg II für Dezember 2014, das nach einer Zahlungsübersicht in der Verwaltungsakte im Übrigen am 01.12.2014 zur Auszahlung gekommen ist, war damit nicht Gegenstand des Antrages der ASt. In ihrer Antragsbegründung merkte sie insofern auch die aus ihrer Sicht fehlende Zahlung für Dezember 2014 lediglich an. Ein entsprechender Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz auch in Bezug auf Dezember 2014 kann darin aber nicht gesehen werden. Das Leistungsbegehren reicht bis 30.09.2015, dem Ablauf des vom Bescheid vom 10.09.2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 01.12.2014 umfassten Bewilligungszeitraums, bezüglich dem der Ag vorläufig die Leistungszahlung mit Schreiben vom 02.02.2015 eingestellt hat.

Nach § 40 Abs 2 Nr 4 SGB II iVm § 331 Abs 1 Satz 1 SGB III kann der Ag die Zahlung des Alg II ohne Erteilung eines Bescheides einstellen, wenn er Kenntnis von Tatsachen erhält, die kraft Gesetzes zum Ruhen oder zum Wegfall des Anspruchs führen und wenn der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist. Dies hat der Ag mit Schreiben vom 02.02.2015 für das Alg II ab 01.03.2015 verfügt. Allerdings hat der Ag eine vorläufig eingestellte laufende Leistung unverzüglich nachzuzahlen, soweit der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, zwei Monate nach der vorläufigen Einstellung der Zahlung nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben ist (§ 331 Abs 2 SGB III). Bei der Zahlungseinstellung handelt es sich um die Statuierung eines Zurückbehaltungsrechts, das die Fälligkeit des sich aus dem Bewilligungsbescheid ergebenden Anspruchs aufhebt und nicht durch Verwaltungsakt geltend gemacht zu werden braucht (vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.09.2012 - L 19 AS 1603/12 B ER - juris; Eicher/Greiser in Eicher, SGB II, 3. Auflage, § 40 Rn 121; Düe in Brand, SGB III, 6 Auflage, § 331 Rn 7). Damit soll eine Aufhebungsentscheidung als endgültige Leistungseinstellung vorbereitet werden und im Fall des Wegfalls der gesetzlichen Leistungsvoraussetzungen das Auflaufen einer Erstattungsforderung vermeiden (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07.04.2014 - L 19 AS 389/14 B ER, L 19 AS 390/14 B - juris).

Dagegen kann sich die ASt in der Hauptsache mittels einer isolierten Leistungsklage wenden (vgl LSG Nordrhein-Westfalen aaO; Düe aaO § 331 Rn 8). Rechtsgrundlage für die Gewährung des diesbezüglichen vorläufigen Rechtsschutzes stellt damit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar. Insoweit ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 - BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 - BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 - NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl, Rn 652). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 ZPO; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 86b Rn 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 - Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Ast zu entscheiden (vgl BVerfG vom 12.05.2005 - Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06; weniger eindeutig BVerfG, Beschluss vom 04.08.2014 - 1 BvR 1453/12).

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben. Der Ag hat nicht innerhalb von einer Frist von zwei Monaten nach der vorläufigen Leistungseinstellung, die spätestens mit Ablauf des April 2015 geendet hat, den Bescheid vom 10.09.2014 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 01.12.2014, mit dem Alg II bis einschließlich September 2015 bewilligt worden war, aufgehoben. Ein entsprechender Aufhebungsbescheid findet sich weder in den vom Ag vorgelegten Verwaltungsakten noch hat der Ag den Erlass eines solchen Bescheides vorgetragen. Damit steht ihm aber unter Berücksichtigung der Regelung des § 331 Abs 2 SGB III kein Leistungsverweigerungsrecht mehr zu. Die ASt kann die Zahlung der ihr bewilligten Leistungen - im streitgegenständigen Zeitraum vom 07.04.2015 bis 30.09.2015 in Höhe von monatlich 399 EUR - verlangen.

Da an dem Leistungsanspruch der ASt keine Zweifel bestehen, ist - unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um existenzsichernde Leistungen handelt - ein Anordnungsgrund ebenfalls gegeben. Wegen der offensichtlichen Erfolgsaussicht bedarf es insofern auch keines Abschlages von den bereits bewilligten Leistungen.

Die Beschwerde war damit erfolgreich und der Beschluss des SG insofern abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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