L 5 AS 432/15 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 14 AS 1410/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 432/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 3. Juni 2015 aufgehoben, soweit die aufschiebende Wirkung der Klage vom 22. Mai 2015 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 angeordnet und dieser verpflichtet worden ist, den bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See für den Antragsteller am 7. April 2015 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen.

Der Antragsgegner hat 1/4 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Antrags- und Beschwerdegegner wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. In der Sache geht es - noch - um die Aufforderung des Antragsstellers und Beschwerdegegners zur Beantragung einer vorzeitigen Rente wegen Alters nach § 12a Satz 2 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und die Rentenantragstellung für den Antragsteller gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II.

Der am ... 1951 geborene Antragsteller bezieht laufende Leistungen nach dem SGB II. Der Antragsgegner bewilligte ihm mit Bescheid vom 22. Januar 2015 vorläufige Leistungen für den Zeitraum vom 1. Februar bis 31. Juli 2015 i.H.v. 398,57 EUR/Monat. Mit Bescheid vom 27. Juli 2015 hat er Leistungen für August 2015 i.H.v. 398,38 EUR bewilligt. Aufgrund der abzuwartenden Rentenantragstellung und des laufenden Rentenverfahrens erfolge eine verkürzte Bewilligung nur für August 2015.

Nach den Rentenauskünften der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See vom 15. Mai 2012 und 15. November 2013 würde die ab 1. Juni 2017 zustehende Regelaltersrente 812,17 EUR/Monat bzw. bei einem jährlichen Anpassungssatz von 1 % etwa 830 EUR/Monat betragen. Bei vorzeitiger Inanspruchnahme ab dem frühestmöglichen Rentenbeginn am 1. Januar 2015 werde die Rente um 8,7 % gemindert.

Der Antragsteller ist bei den G. O. GmbH seit dem 3. November 2014 unregelmäßig geringfügig beschäftigt. Im März 2015 erzielte er kein Einkommen, im April 2015 einen Nettolohn von 113,90 EUR bei 15 Arbeitsstunden.

Der Antragsgegner hatte den Antragsteller bereits mit Schreiben vom 20. August 2014 gemäß § 12a SGB II aufgefordert, einen Antrag auf vorzeitige Altersrente zu stellen. Dieser hatte daraufhin am 13. Januar 2015 einen Rentenantrag gestellt, aber mit Schreiben vom 28. Januar 2015 wieder zurückgenommen. Insoweit sind nach Angaben des Antragstellers beim Sozialgericht Magdeburg zwei Klagen anhängig (S 14 AS 3513/14 und S 14 AS 3541 5014).

Unter dem 17. März 2015 wurde der Antragsteller erneut gefordert, eine vorzeitige Altersrente ab dem 1. Januar 2015 zu beantragen und dies bis zum 31. März 2015 nachzuweisen. Der Antragsteller habe am ... 2014 das 63. Lebensjahr vollendet. Insoweit sei er verpflichtet, einen vorzeitigen Rentenantrag zu stellen. Gründe für die Unbilligkeit der Antragstellung seien nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Nach Abwägung seines Interesses am fortlaufenden Bezug von ALG II bis zum Erreichen des Regelrentenalters und dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung bzw. Verringerung der Hilfebedürftigkeit sei der Antragsgegner zu dem Ergebnis gekommen, dass die Aufforderung zur Rentenantragstellung verhältnismäßig sei. Gleichzeitig wurde der Antragsteller aufgefordert, u.a. eine aktuelle Rentenauskunft vorzulegen. Dagegen legte der Antragsteller Widerspruch ein; eine Rentenauskunft legte er nicht vor. Einen Rentenantrag stellte er nicht.

Der Antragsgegner stellte daraufhin unter dem 7. April 2015 bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See einen Antrag auf Altersrente für den Antragsteller nach § 5 Abs. 3 SGB II. Mit Schreiben vom gleichen Tag wurde der Antragsteller aufgefordert, beigefügte Antragsformulare des Rentenversicherungsträgers bis spätestens 21. April 2015 vollständig auszufüllen und einzureichen. Auf die beabsichtigte Leistungsentziehung bei erfolglosem Fristablauf wurde er hingewiesen. Dagegen legte der Antragsteller wiederum Widerspruch ein: Es sei ihm nicht mitgeteilt worden, wer für den Differenzbetrag zwischen der lebenslang geminderten Altersrente und einer ungeminderten Rente aufkommen werde. Darüber hinaus widersprach er gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See dem gestellten Antrag nach § 5 Abs. 3 SGB II. Der Antragsgegner wiederum teilte der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See mit, dass er die ersatzweise Antragstellung ausdrücklich aufrecht erhalte.

Mit Bescheid vom 28. April 2015 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller die bewilligten Leistungen ab 1. Mai 2015 vollständig. Nach den ihm vorliegenden Unterlagen sei die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente wegen Alters ab Januar 2015 nicht unbillig hart. Eine Prüfung, ob zukünftig der Lebensunterhalt dauernd ohne den Bezug von Sozialleistungen bestritten werden könne, sei nicht möglich gewesen. Denn die angeforderten Unterlagen zur Rentenhöhe seien nicht vorgelegt worden. Die formlose Antragstellung gemäß § 5 Abs. 3 SGB II sei bereits erfolgt; zur Prüfung des Rentenanspruchs werde jedoch der vollständig ausgefüllte Rentenantrag benötigt. Die angeforderten Unterlagen seien nicht vorgelegt worden. Damit liege eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nach § 60 f. des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (Allgemeiner Teil - SGB I) vor. Das Ermessen sei hinsichtlich der Frage einer ganzen oder teilweisen Entziehung bis zur Nachholung der Mitwirkung ausgeübt worden. Da ein wichtiger Grund für das unterlassene Einreichen der Unterlagen nicht ersichtlich sei, seien die Leistungen ganz entzogen worden. Auch dagegen legte der Antragsteller Widerspruch ein und verwies auf dessen aufschiebende Wirkung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2015 wies der Antragsgegner den Widerspruch gegen das Aufforderungsschreiben vom 17. März 2015 als unzulässig zurück, da es sich dabei nicht um einen Verwaltungsakt handele. Mit weiterem Widerspruchsbescheid 17. März 2015 wies er den Widerspruch gegen die Leistungsentziehung ab 1. Mai 2015 als unbegründet zurück. Er hielt an seiner Rechtsauffassung fest. Der Widerspruch gegen einen Entziehungsbescheid habe keine aufschiebende Wirkung.

Am 20. Mai 2015 hat der Antragsteller "Eilklage" gegen den Bescheid vom 28. April 2015 hinsichtlich der Leistungsentziehung ab 1. Mai 2015 beim Sozialgericht Magdeburg erhoben. Der Widerspruch habe aufschiebende Wirkung. Am 22. Mai 2015 hat der Antragsteller sein Vorbringen ergänzt und die beiden Widerspruchsbescheide vom 19. Mai 2015 vorgelegt.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 3. Juni 2015 die aufschiebende Wirkung der Klagen vom 22. Mai 2015 gegen den Bescheid vom 17. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 sowie gegen den Bescheid vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 angeordnet. Ferner hat es den Antragsgegner verpflichtet, im Rahmen der Vollzugsfolgenbeseitigung vorläufig den bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See am 7. April 2015 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen, sowie dem Antragsteller ab Mai 2015 die mit Bescheid vom 22. Januar 2015 bewilligten Leistungen auszuzahlen. Das Schreiben des Antragstellers vom 22. Mai 2015 sei als Klage gegen die beiden Widerspruchsbescheide vom 19. Mai 2015 anzusehen. Die Aufforderung vom 7. März 2015 zur Rentenantragstellung sei ein Verwaltungsakt, gegen den sich der Antragsteller mit der Anfechtungsklage wende. Das Aufforderungsschreiben sei rechtswidrig, denn der Antragsteller habe nicht alle relevanten Tatsachen in seine Ermessensentscheidung einfließen lassen. Es liege nicht nur ein heilbarer Begründungsmangel vor. Unabhängig vom Vorliegen von Unbilligkeitsgründen müsse im Rahmen der Prüfung berücksichtigt werden, wie sich die vorzeitige Rentenantragstellung wirtschaftlich auswirken werde (Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 10. Dezember 2014, L 2 AS 520/14 B ER). Insoweit sei der Antragsgegner verpflichtet, vor einer Entscheidung die Höhe der vorzeitigen und der regulären Altersrente zu ermitteln. Er habe bislang aber keine Rentenauskunft beigezogen. Allein die Prüfung der §§ 2 bis 5 der Unbilligkeitsverordnung (UnbilligkeitsV) sei nicht ausreichend. Er verhalte sich auch widersprüchlich, wenn er den Antragsteller unter dem 17. März 2015 zur Einreichung einer Rentenauskunft und gleichzeitig zur Rentenantragstellung auffordere. Die erforderliche Wirtschaftlichkeitsprüfung sei nicht noch nicht abgeschlossen; es liege demnach ein offenkundiger Ermessensfehler vor. Der Entziehungsbescheid sei rechtswidrig, da bereits die Aufforderung zur Rentenantragstellung ermessensfehlerhaft gewesen sei.

Gegen den ihm am 8. Juni 2015 zugegangenen Beschluss hat der Antragsgegner am 2. Juli 2015 Beschwerde eingelegt. Die Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 17. März 2015 sei ohne Ermessensfehler erfolgt. Die Gründe für eine Unbilligkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente seien abschließend in der UnbilligkeitsV geregelt (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. Mai 2015, L 5 AS 42/15 B ER). Es sei daher bei der Ermessensausübung unerheblich, ob der Leistungsberechtigte durch eine vorgezogene Altersrente seinen Grundsicherungsbedarf decken könne. Er sei berechtigt gewesen, nach § 5 Abs. 3 SGB II den Rentenantrag selbst zu stellen. Zur Bearbeitung des Antrags benötige der Rentenversicherungsträger jedoch weitere Angaben sowie Unterschriften des Antragstellers. Wegen der fehlenden Mitwirkung seien ihm die Leistungen ab 1. Mai 2015 zu Recht entzogen worden.

Der Antragsgegner hat den Antragsteller mit Schreiben vom 3. Juli 2015 abermals aufgefordert, Altersrente zu beantragen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 3. Juni 2015 aufzuheben und den Antrag zurückzuweisen.

Der Antragsteller hat keine Ausführungen gemacht.

Der Senat hatte mit Teilbeschluss vom 29. Juli 2015 die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts insoweit zurückgewiesen, soweit dieses die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 (vollständige Leistungsentziehung der bewilligten Leistungen ab 1. Mai 2015) angeordnet und dem Antragsgegner aufgegeben hat, dem Antragsteller ab Mai 2015 die mit Bescheid vom 22. Januar 2015 bewilligten Leistungen auszuzahlen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und Beiakten Bezug genommen. Die Verwaltungsakte des Antragsgegners hat ab Blatt 741a vorgelegen.

II.

1.

Gegenstand des Endbeschlusses ist die Beschwerde des Antragsgegners betreffend die dem Antragsteller aufgegebene Beantragung der vorzeitigen Altersrente und die ersatzweise Antragstellung durch den Antragsgegner. Die Frage der Leistungsentziehung ab dem 1. Mai bis 31. Juli 2015 ist bereits im Teilbeschluss vom 29. Juli 2015 geklärt worden.

2.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist begründet, soweit das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung der Klage vom 22. Mai 2015 gegen den Bescheid vom 17. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 angeordnet (Ziffer 1) und den Antragsgegner verpflichtet hat, den bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See für den Antragsteller am 7. April 2015 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen (Ziffer 3).

Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ist der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht gemäß § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Rechtsfolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs ist es, den Vollzug eines Verwaltungsaktes zu verhindern.

Die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 hat gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung. In dem Bescheid ist der Antragsteller zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert worden.

Einen ausdrücklichen gesetzlichen Maßstab für die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage sieht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG nicht vor. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b, Rn. 12). Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs u.a. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Das vom Gesetzgeber in § 39 SGB II angeordnete vordringliche Vollzugsinteresse hat für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bedeutung, dass der Antragsgegner von der ihm nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehbarkeit gesondert zu begründen. Das Gesetz unterstellt aber den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern als nur im Regelfall geboten und verlagert somit die konkrete Interessenbewertung auf Antrag des Antragstellers hin in das gerichtliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 17. September 2001, 4 VR 19/01, NZV 2002, 51, 52 unter Bezug auf BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1994, 4 VR 1/94, BVerwGE 96, 239 ff, jeweils zu § 80 Abs. 2 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in der bis 31. Dezember 1996 gültigen Fassung, der wortgleich zu § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG ist).

b.

Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers gegen die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ab Januar 2015 sowie die Rentenantragstellung durch den Antragsgegner ist unbegründet. Im vorliegenden Fall überwiegt das Interesse des Antragsgegners an der sofortigen Vollziehung gegenüber dem Interesse des Antragstellers am Nichtvollzug. Denn der Bescheid vom 17. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2015 und der Rentenantrag vom 7. April 2015 sind nach summarischer Prüfung rechtmäßig.

Es kann offen bleiben, ob hier eine Anhörung nach § 24 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - SGB X) erforderlich gewesen wäre. Falls ja, wäre dieser Verfahrensfehler gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X bis zur letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens nachholbar.

Gemäß § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Abweichend von Satz 1 sind Leistungsberechtigte gemäß § 12a Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II können die Leistungsträger, wenn die Leistungsberechtigten trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen, den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Hieraus schließen die Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend, dass sowohl die Stellung des Antrags anstelle des Leistungsempfängers als auch die Aufforderung, einen derartigen Antrag zu stellen, im Ermessen des Leistungsträgers stehen (so auch ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Beschluss vom 29. April 2015, L 5 AS 131/15 B ER, LSG Sachsen, Beschluss vom 28. August 2014, L 7 AS 836/14 B ER; zur Aufforderung zur Antragstellung auch: Bundessozialgericht, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, nur als Terminsbericht Nr. 38/15 vorliegend).

§ 12a Satz 1 SGB II enthält eine Konkretisierung des § 3 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Danach dürfen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur erbracht werden, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann. Nach § 2 Abs. 1, 2 SGB II müssen erwerbsfähige Leistungsberechtigte alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II ausschöpfen. Sie haben in eigener Verantwortung alle Möglichkeiten zu nutzen, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten.

Dazu gehört die Inanspruchnahme von im Laufe des Erwerbslebens erarbeiteten Rentenversicherungsleistungen der Deutschen Rentenversicherung, wenn die Leistungsberechtigten nicht mehr in den Genuss der sog. "58er-Regelung" kommen können. Das ist gemäß § 65 Abs. 4 SGB II der Fall, wenn die Leistungsberechtigten - wie beim Antragsteller - nach dem 1. Januar 2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben. Die Pflicht zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters besteht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres nicht. Danach muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit" gemäß § 13 Abs. 2 SGB II in Zusammenhang mit der ab dem 1. Januar 2008 geltenden UnbilligkeitsV darstellt. Das in der Verordnungsermächtigung zum Ausdruck gebrachte Regel-Ausnahme-Verhältnis verdeutlicht, dass die Verordnung lediglich eng umgrenzte Fälle bestimmen soll, in denen die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, unbillig wäre (vgl. zu letzterem BT-Drs. 16/7460 S. 12 zu § 13).

§ 12a SGB II findet Anwendung auf den Antragsteller. Dieser hat am ... 2014 das 63. Lebensjahr vollendet.

Das Sozialgericht hat offen gelassen, ob eine Unbilligkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters im Sinne der §§ 2 bis 5 der UnbilligkeitsV vorliegt. Der Senat sieht nach dem Inhalt der Akten und dem Vorbringen des Antragstellers keine Anhaltspunkte für eine Unbilligkeit.

Die Inanspruchnahme der Rente würde bei dem Antragsteller nicht zum Verlust von Arbeitslosengeld gemäß § 2 UnbilligkeitsV führen.

Er könnte mutmaßlich auch nicht i.S.v. § 3 UnbilligkeitsV in nächster Zukunft abschlagsfrei die Altersrente in Anspruch nehmen. Ausweislich der Verordnungsbegründung ist mit "in nächster Zukunft" ein Zeitraum von längstens drei Monaten gemeint (vgl. Referentenentwurf zur UnbilligkeitsV, S. 8). Eine abschlagfreie Altersrente könnte in den nächsten drei Monaten nicht bewilligt werden. Dies wäre erst ab dem 1. Juni 2017 möglich.

Der Antragsteller übt nach Lage der Akten auch keine Erwerbstätigkeit gemäß § 4 UnbilligkeitsV aus. Nach den vorliegenden Lohnunterlagen ist er nur geringfügig und nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Der Nettolohn für April 2015 i.H.v. 113,90 EUR entspricht auch nicht dem eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Mit 15 Stunden/Monat wird auch die Arbeitskraft durch die Beschäftigung nicht überwiegend in Anspruch genommen.

Dass eine nicht nur vorübergehende Erwerbstätigkeit bevorstünde, hat der Antragsteller nicht behauptet (§ 5 UnbilligkeitsV).

Ob der Antragsteller in der Lage wäre, den Grundsicherungsbedarf mit einer vorzeitigen Altersrente voll zu decken, ist - entgegen der Auffassung des Sozialgerichts - nicht von Bedeutung für das Vorliegen von Unbilligkeit. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers ist auch dann deren vorzeitige Inanspruchnahme zuzumuten, wenn die Hilfebedürftigkeit lediglich verringert werden kann. Die Gründe, die zur Unbilligkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente führen können, sind vielmehr abschließend geregelt (BSG, a.a.O.). Soweit das Sozialgericht sich auf Rechtsprechung des 2. Senat des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt bezieht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser seine Auffassung modifiziert hat (vgl. Beschluss vom 16. Juni 2015, L 2 191/15 B ER). Danach könne auch die Notwendigkeit ergänzender Sozialleistungen bei Bezug der vorzeitigen Altersrente nicht zur Unbilligkeit führen. Nur für die erforderliche Ermessensentscheidung (s.u.) sei es notwendig, die voraussichtlichen Sozialleistungsansprüche in den Abwägungsprozess einzubeziehen.

Der Antragsgegner hat auch das erforderliche Ermessen in genügender Weise ausgeübt. Die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen beschränkt sich gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG auf die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens und die Ermessensausübung in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise. Der Bescheid vom 17. März 2015 lässt erkennen, dass der Antragsgegner das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und pflichtgemäß ausgeübt hat. Er hat das Interesse des Antragstellers am fortlaufenden Bezug von ALG II bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze dem öffentlichen Interesse an einer Vermeidung bzw. Verringerung der Hilfebedürftigkeit gegenüber gestellt und die Aufforderung zur Rentenantragstellung für verhältnismäßig gehalten.

Argumente, die im Rahmen einer Ermessensausübung im Einzelfall hätten berücksichtigt werden müssen, hat der Antragsteller im Widerspruchsverfahren nicht vorgetragen. Im Rahmen des Ermessens können nur Umstände berücksichtigt werden, die im Einzelfall vorgetragen werden oder die sich nach der Aktenlage ergeben. Wenn der Leistungsberechtigte aber die Aufklärung der wirtschaftlichen Auswirkungen einer vorzeitigen Altersrente nicht ermöglicht, kann zu seinen Gunsten insoweit nichts berücksichtigt werden. Es obliegt ihm, wesentliche für ihn günstige Tatsachen vorzubringen. Unterbleibt dies, ist eine Ermessensausübung ohne die Berücksichtigung möglicher weiterer, aber nicht bekannter Aspekte rechtmäßig.

Solche sind für den Antragsgegner auch nicht nach Lage der Akten ersichtlich gewesen. Es ist kein Umstand ersichtlich, weshalb ausnahmsweise - abweichend von der Intention des Gesetzgebers - im Fall des Antragstellers ein Absehen von der Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente geboten wäre. Für den Antragsgegner haben sich daher - außer des öffentlichen Interesses an der sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln mit dem privaten Interesse des Antragstellers, nicht zur vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente verpflichtet zu werden - keine weiteren in die Ermessensausübung einzustellenden Aspekte ergeben.

Es kann dahinstehen, ob ein bei der Ermessensausübung zu berücksichtigender Gesichtspunkt vorliegt, falls die vorzeitige Altersrente den ALG II - Bedarf erheblich unterschreitet und der Leistungsberechtigte somit trotz Rentenbezugs hilfebedürftig i.S.d. SGB XII wäre (so möglicherweise BSG, a.a.O.). Denn die Rentenanwartschaft des Antragstellers übersteigt - trotz der Abschläge bei Inanspruchnahme ab 1. Januar 2015 - erheblich seinen grundsicherungsrelevanten Hilfebedarf. Ausgehend von einer ungekürzten Regelaltersrente von 812,17 EUR und einer Minderung um 8,7 % bei Inanspruchnahme ab 1. Januar 2015 ergibt sich ein Zahlbetrag von mindestens 741,51 EUR. Dieser übersteigt die zuletzt bewilligten Leistungen i.H.v. 398,57 EUR erheblich.

Sollten nach dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens weitere Gründe genannt werden, würde dies ohnehin nicht zur Rechtswidrigkeit des streitigen Bescheids führen. Denn eine Ermessensausübung ist nur bis zum Ende des Vorverfahrens zulässig (BSG, Urteil vom 1. März 2011, B 7 AL 2/10 R (14)).

c.

Der Antragsgegner war im Rahmen der vorläufige Vollzugsfolgenbeseitigung nicht verpflichtet, den Rentenantrag vom 7. April 2015 zurückzunehmen.

Die Aufforderung zur Rentenantragstellung war voraussichtlich rechtmäßig, und der Antragsteller hat einen bereits gestellten Rentenantrag wieder zurück genommen. Eine Antragstellung ist aber erforderlich, weil Renten aus eigener Versicherung nur auf Antrag geleistet werden (§ 99 Abs. 1 SGB VI).

Der Antragsgegner war daher gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II berechtigt, den Rentenantrag für den Antragsteller zu stellen.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Die anteilige Kostentragungspflicht des Antragsgegners folgt aus dem teilweisen Erfolg des Verfahrens (Teilbeschluss vom 29. Juli 2015).

Der Endbeschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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