L 9 AS 635/14

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 14 AS 401/11
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 635/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids im Hinblick auf eine anderweitige Bedarfsdeckung zu den Kosten der Unterkunft und Heizung bei minimalen Verbrauchswerten
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 21. November 2013 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten.

Die Klägerin, die seit 2005 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bezog, gab beim Fortzahlungsantrag vom April 2008 und den weiteren Folgeanträgen als Wohnung – wie von Anfang an – eine 44 qm große Wohnung in der , H., an. Die Miete sollte direkt an den Vermieter, die Wohnungsgenossenschaft H., überwiesen werden. Auf dieser Grundlage wurden der Klägerin mit Bewilligungsbescheiden Kosten der Unterkunft im Zeitraum Januar 2009 bis September 2010 in unterschiedlicher Höhe gewährt.

Nachdem beim Beklagten nach Vorlage der Betriebskostenabrechnung für 2009 aufgefallen war, dass die Klägerin nur Heizkosten in Höhe von 50,- EUR und einen geringen Heizkostenverbrauch hatte, versuchte eine Mitarbeiterin des Beklagten, die Klägerin in ihrer Wohnung zu besuchen. Vier Versuche an drei Tagen scheiterten. Nach dem Aktenvermerk vom 30. August 2010 habe eine Nachbarin angegeben, die Klägerin halte sich kaum dort auf; sie fahre meistens nach U., zu wem genau, könne sie nicht sagen. Anlässlich einer Vorsprache zum Folgeantrag wurde die Klägerin nach dem Aktenvermerk vom 16. September 2010 darauf hingewiesen, dass ihr Aufenthaltsort geklärt werden soll, weil der Verdacht bestehe, dass sie sich nicht in der Wohnung aufhalte. Unmittelbar im Anschluss und ohne vorherige Ankündigung wurde ein Hausbesuch durchgeführt. Nach dem Aktenvermerk vom 17. September 2010 ließen die Ermittlungen vor Ort darauf schließen, dass die Klägerin unter der angegebenen Adresse nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Sie hätte außer einer bereits im März 2010 abgelaufenen Packung Schokomüsli keine weiteren Lebensmittel in der Wohnung gehabt. Auf die Frage, warum der Kühlschrank aus sei, habe die Klägerin gesagt, dass er so viel Strom fresse. Die Frage, warum keine Lebensmittel da seien, habe sie so beantwortet, dass sie sich lediglich mal eine Pizza in den Ofen schiebe, die sie auch an dem Tag erst kaufe. Der Wasserverbrauch ihrer im Keller aufgestellten Waschmaschine habe 0,2 m³ betragen, der der anderen Mieter zwischen 1,5 m³ und 3 m³, wobei alle Wasserzähler erst in diesem Jahr ausgetauscht worden seien. Der Zählerstand des Stromzählers habe bei 3850 kwh gelegen, nach einem Stand von 3836 kwh am 3. September 2009 laut Auskunft der Stadtwerke. Für eine Einzelperson sei ein jährlicher Stromverbrauch von wenigstens 500 kwh normal. Bei einer Vorsprache am 24. September 2010 erklärte die Klägerin, dass sie ab Oktober 2010 keinen Leistungsantrag stelle.

Mit Schreiben vom 27. September 2010 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, die Leistungsgewährung ab 1. Januar 2009 aufzuheben. Über den Sachverhalt sei sie bereits bei der persönlichen Vorsprache am 24. September 2010 unterrichtet worden. Sie erhalte Gelegenheit zur Äußerung. Daraufhin widerrief die nunmehr anwaltlich vertretene Klägerin ihre Erklärung, ab Oktober 2010 keinen Leistungsantrag zu stellen. Mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2010 teilte sie mit, doch keinen Antrag zu stellen. Von der Anhörungsmöglichkeit werde sie keinen Gebrauch machen. Die Stadtwerke H. teilten den Stromverbrauch der Klägerin wie folgt mit: Oktober 2004 bis September 2005 332 kwh, Oktober 2005 bis September 2006 417 kwh, Oktober 2006 bis September 2007 152 kwh, Oktober 2007 bis September 2008 22 kwh, Oktober 2008 bis September 2009 36 kwh, Oktober 2009 bis Dezember 2009 3 kwh, 1. Januar bis 5. Oktober 2010 11 kwh.

Mit drei Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden vom 13. Oktober 2010 (betreffend die Leistungszeiträume Januar bis März 2009, April 2009 bis März 2010 und April bis September 2010) wurden die Leistungen in Höhe von 668,31 EUR, 2.317,57 EUR und 1.135,28 EUR aufgehoben. Aufgrund der Verbrauchswerte sei davon auszugehen, dass die Klägerin die Wohnung nicht genutzt habe, sondern lediglich dort gemeldet sei. Es liege eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen vor. Ein Bedarf für zu gewährende Kosten für Unterkunft und Heizung habe nicht bestanden. Die Wohnung sei ausweislich der Verbrauchswerte nicht genutzt worden. Die Klägerin sei nach § 60 SGB I verpflichtet, alle für die Leistung erheblichen Änderungen mitzuteilen. Sie habe nicht mitgeteilt, dass die Wohnung, für die Kosten der Unterkunft gewährt worden seien, nicht genutzt werde. Der Verpflichtung zur Mitteilung sei sie zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen (Hinweis auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X).

Der dagegen eingelegte, nicht begründete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2010, der allerdings auf § 45 Abs. 1 und 2 Satz 3 Nr. 1 und 2 SGB X gestützt ist).

Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, sie habe nahezu täglich einen 85jährigen Herrn in U. besucht, für den sie so etwas wie eine "Gesellschafterin" gewesen sei. Sie habe ihm vorgelesen, habe gemeinsame Spaziergänge mit ihm unternommen, Mahlzeiten zubereitet etc. Es sei ausgeschlossen, dass sie die dortige Wohnung mitbenutze, da ein solches Vertrauensverhältnis mit ihm nicht bestehe. Ihre Hygiene habe sie beim Schwimmen erledigt, zu dem sie zweimal wöchentlich gehe. Außerdem habe sie ihre Geschwister vor Ort, die sie mindestens ein- bis zweimal pro Woche besuche. Trotzdem sei ihre Wohnung ihr Lebensmittelpunkt. Sie esse ausgesprochen selten zu Hause, sondern meistens an der Tankstelle, bei der sie arbeitet, bzw. in Gesellschaft. Sie halte auch keine nennenswerten Vorräte. Hin und wieder kaufe sie eine Fertigpizza zum direkten Verzehr. Sie sei ein sparsamer Mensch, was sich auch auf den Heizungsverbrauch auswirke. Da sie mittig wohne, umgeben von beheizten Wohnungen, stelle sie die Heizung oft völlig aus. Unmittelbar vor dem Hausbesuch habe sie sich im Urlaub befunden. In formeller Hinsicht begegneten die Bescheide deshalb Bedenken, weil dem Beklagten die niedrigen Verbrauchswerte schon Mitte 2009 bekannt gewesen seien, so dass die Jahresfrist bei Erlass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide schon abgelaufen gewesen sei.

Das Sozialgericht Nordhausen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 2013), weil die Klägerin ihren Unterkunftsbedarf anderweitig gedeckt habe, wie sich aus den niedrigen Verbrauchswerten ergebe.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, dass das Sozialgericht hätte Beweis erheben müssen, wenn es ihren Angaben keinen Glauben schenken wollte.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 21. November 2013 und die Bescheide des Beklagten vom 13. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise: das Verfahren auszusetzen bis zur Nachholung einer Anhörung.

Er hält die angegriffene Entscheidung für rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Die Verwaltungsakten des Beklagten lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 13. Oktober 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2010 betreffend die Zeiträume Januar 2009 bis September 2010 rechtmäßig sind.

Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung ist § 40 Abs. 1 SGB II i. V. m. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X. Nach dieser Vorschrift kann sich der Begünstigte bei der Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten nicht auf Vertrauensschutz berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

Der Rücknahme steht nicht entgegen, dass der Beklagte diese erstmals im Widerspruchsbescheid auf § 45 SGB X gestützt hat, während er sich in den Ausgangsbescheiden noch auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X berufen hatte (vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung einer Mitteilungspflicht hinsichtlich wesentlicher nachteiliger Änderungen der Verhältnisse). Insbesondere ergeben sich keine Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Anhörung, denn die Klägerin hatte die Möglichkeit, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Ausweislich des Schreibens vom 27. September 2010 wurde die Klägerin über den der beabsichtigen Aufhebung zu Grunde liegenden Sachverhalt in Kenntnis gesetzt. Einwendungen gegen diese Darstellung erhob die Klägerin nicht; sie teilte lediglich mit, sich in der Sache nicht zu äußern. Auf dieser Grundlage besteht kein Anhaltspunkt für einen Anhörungsmangel.

Die Rücknahme ist zutreffend auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X gestützt. Die Tatsache, dass anfänglich § 48 Abs. 1 SGB X angegeben war, ist allein nicht klagebegründend (vgl. BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R Rdnr. 23 -). Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsakts, gerichtet sind, ist das Auswechseln dieser Rechtsgrundlagen grundsätzlich zulässig (vgl. BSGE 108, 258 Rdnr. 34).

Wie sich aus der von der Klägerin unwidersprochen gebliebenen Mitteilung der Stadtwerke H. vom 5. Oktober 2010 über die Verbrauchswerte ergibt, ergab sich bereits im Jahr 2008 ein so niedriger Stromwert, dass der Beklagte zutreffend davon ausgehen durfte, dass sich die Klägerin jedenfalls ab Januar 2009 nicht mehr in dem Sinne eines nach dem SGB II anzuerkennenden Bedarfs in ihrer Wohnung aufhielt. Damit waren die hier streitgegenständlichen Bewilligungsbescheide von Anfang an rechtswidrig. Denn ein nach § 22 SGB II anzuerkennender Bedarf besteht nur dann, wenn die Unterkunft benötigt wird, weil keine anderweitige kostenfreie Unterkunft zur Verfügung steht. Hier ist aber auf der Grundlage des vorliegenden Sachverhalts davon auszugehen, dass die Klägerin ihren Unterkunftsbedarf anderweitig gedeckt hat. In diesem Fall können keine Kosten nach § 22 SGB II anerkannt werden.

Die von der Klägerin für ihren geringen Verbrauch angegebenen Gründe sind nicht plausibel. Soweit sie als Grund angibt, sie sei ein sparsamer Mensch und "heruntergeregelt", hält der Senat das nicht für überzeugend, weil ein derart geringer Verbrauchswert wie z. B. für 2007/2008 mit 22 kwh selbst bei einem extrem sparsamen Menschen nicht plausibel ist. Im Übrigen finden sich in den von den Stadtwerken mitgeteilten Verbrauchswerten gravierende Unterschiede (z. B. 2005/2006 417 kwh, hingegen nur 22 kwh 2007/2008). Unter diesen Umständen hätte sich der Klägerin aufdrängen müssen, diese Differenzen - auch ohne explizite Nachfrage durch das Gericht - nachvollziehbar zu begründen. Auch das Verhalten der Klägerin zu den SGB II - Leistungen ab Oktober 2010 spricht dafür, dass sie tatsächlich eine anderweitige Unterkunft hatte: Während sie zunächst erklärte, keinen neuen Leistungsantrag zu stellen, und diese Erklärung nach Einschaltung ihrer Rechtsanwältin widerrief, teilte sie schließlich mit, doch keine SGB II - Leistungen zu beantragen. Dieses Verhalten rechtfertigt die Annahme, dass ihr Unterkunftsbedarf anderweitig gedeckt war, und lässt unter den gegebenen Umständen die Schlussfolgerung zu, dass dies auch in den hier betroffenen Zeiträumen der Fall war.

Es musste der Klägerin auch bekannt sein, dass Kosten der Unterkunft nach dem SGB II bei anderweitiger Bedarfsdeckung nicht anerkannt werden können. Denn es stellt eine Selbstverständlichkeit dar, dass Bedarfe nach dem SGB II nur dann übernommen werden können, wenn sie nicht anderweitig gedeckt sind. Ohne Bedeutung dafür ist, dass die Klägerin tatsächlich den mit dem Mietvertrag eingegangenen Zahlungsverpflichtungen ausgesetzt war. Denn wenn sie die erforderliche Hilfe bereits anderweitig erhielt, bedurfte es der SGB II – Leistungen nicht (vgl. § 9 Abs. 1 SGB II). Auf dieser Grundlage ist es jedenfalls grob fahrlässig, wenn die Klägerin bei der Antragstellung auf SGB II – Leistungen ihre bisherige Adresse angibt und eine Mietbescheinigung einreicht, obwohl ein entsprechender Wohnbedarf gar nicht bestand. Gegen die vom Beklagten daraus gezogene Schlussfolgerung, dass die Klägerin Angaben grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, ist rechtlich nichts zu erinnern, zumal in den Antragsformularen ausdrücklich auf die Verpflichtung zur Mitteilung wahrer Angaben sowie von Änderungen hingewiesen wurde.

Soweit die Klägerin meint, bei der Aufhebungsentscheidung habe der Beklagte die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht beachtet, trifft dies nicht zu. Die Jahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der Behörde alle Tatsachen bekannt sind, die zur Aufhebung berechtigen. Da § 45 Abs. 2 SGB X neben objektiven auch subjektive Tatbestandsmerkmale (Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit) enthält, muss die Behörde z.B. auch von der Bösgläubigkeit des Betroffenen Kenntnis haben. Wann dies der Fall ist, ist weder ausschließlich nach der subjektiven Einschätzung der Behörde noch anhand objektiver Kriterien zu beantworten. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht. Hierbei ist hinsichtlich der erforderlichen Gewissheit über Art und Umfang der entscheidungserheblichen Tatsachen in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abzustellen, es sei denn, deren sichere Kenntnis liegt bei objektiver Betrachtung bereits zu einem früheren Zeitpunkt vor. Ein Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit reicht nicht aus.

Hier lief die Frist frühestens ab der Anhörung zur Aufhebungsentscheidung, so dass die Jahresfrist gewahrt ist. Dass die Klägerin von der Stellungnahmemöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat und die Beklagte ihre Entscheidung auf der Tatsachengrundlage getroffen hat, die ihr auch schon früher zur Verfügung stand, fällt nicht zu Gunsten der Klägerin ins Gewicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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