S 24 KR 314/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
24
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 24 KR 314/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Zahlung von Kranken- und Verletztengeld.

Der am 00.00.1963 geborene Kläger spendete seinem Bruder am 21.09.2011 eine Niere. Er erhielt daraufhin vom 20.09.2011 bis 18.12.2011 Krankengeld in Höhe von 100% seines Nettoarbeitsentgelts von der Beklagten, bei der er bis zum 31.10.2014 krankenversichert war. Der Bruder des Klägers war im Zeitpunkt der Spende bei der Beklagten gegen Krankheit versichert, er ist dies nach wie vor.

Vom 05.03.2012 bis 06.03.2012 war der Kläger wegen einer somatoformen Störung (ICD-10: F45.9), vom 27.03.2012 bis 10.04.2012 und vom 11.04.2012 bis 27.04.2012 wegen einer Neurasthenie (ICD-10: F48.0), vom 27.04.2012 bis 22.07.2012 wegen einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10: F32.1) sowie einer generalisierten Angststörung (ICD-10: F41.1) und vom 14.08.2012 bis 02.09.2012 wegen einer mittelgradigen depressiven Episode und einer Panikstörung (ICD-10: F41.0) arbeitsunfähig erkrankt. Vom 06.05.2012 bis 22.07.2012 und vom 15.08.2012 bis 02.09.2012 erhielt der Kläger Krankengeld von der Beklagten in Höhe des Regelentgelts gemäß § 47 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Psychiaters und Psychotherapeuten Herrn B X vom 31.08.2012 beantragte der Kläger die Zahlung des Krankengeldes i.H.v. 100% des täglichen Nettoentgelts gemäß § 44a SGB V. Herr X führte aus, dass der Kläger seit dem 27.04.2012 in seiner ambulanten Behandlung sei. Nach den Angaben des Klägers bestehe ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Nierenspende und seinen Angst- und Panikattacken und den hiermit zusammenhängenden Beschwerden. Mittlerweile werde immer mehr berichtet, dass nach einer Nierenspende depressionsähnliche Beschwerden auftreten würden. Somit erscheine es nicht unwahrscheinlich, dass höchstwahrscheinlich zwischen der Spende und den jetzigen Beschwerden des Klägers ein kausaler Zusammenhang bestehe.

In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme führte Dr. N vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) aus, dass ein Zusammenhang zwischen der Nierenspende und den jetzigen Beschwerden nicht festzustellen sei. Wenn die psychische Symptomatik bereits vorher bestanden hätte, wäre es gar nicht zur Nierenspende gekommen. Denn vor einer Lebendspende gebe es ärztliche und psychologische Gutachten bezüglich der psychologischen Belastbarkeit.

In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 21.11.2012 führte Dr. T vom MDK aus, dass anhand der vorliegenden spärlichen medizinischen Unterlagen, insbesondere zur psychiatrischen Vorgeschichte, zu den konkreten Auswirkungen der psychischen Störung und zum Verlauf nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass die Beschwerden ursächlich auf die Nierenlebendspende zurückzuführen seien. Ängstlich depressive Symptome seien auf psychiatrischem Gebiet häufige Beschwerden und hätten unterschiedliche Ursachen, könnten auch ohne äußeres Belastungsereignis auftreten.

Mit einem Bescheid vom 28.11.2012 lehnte die Beklagte den Antrag ab und berief sich zur Begründung auf die Ausführungen des MDK.

Dagegen legte der Kläger am 27.12.2012 Widerspruch ein.

In einem vom Kläger eingereichten Attest vom 29.01.2013 führte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Herr V N1 aus, dass bei dem Kläger eine somatoforme Störung und eine Anpassungsstörung bestünden. Es habe sich ergeben, dass nach diesen eher unpräzisen Anfangsdiagnosen spezieller von einer Herzphobie bzw. einer Herzneurose auszugehen sei. Diese ausgeprägte Störung stehe in engem Zusammenhang mit einer Lebendspende. Der Zusammenhang scheine nicht nur zeitlich exakt zu sein, sondern ursächlich. Hervorzuheben sei besonders, dass der Kläger in seiner Vorgeschichte ganz im Gegensatz zu anderen Angst- und Zwangspatienten noch nie Ansätze einer ähnlichen Symptomatik gehabt habe. Erst jetzt würden das Gebiet der Lebendspende und ihre Folgen bekannt und erforscht, man wisse wenig Gesichertes. Gerade deshalb erscheine ein ursächlicher Zusammenhang sehr wahrscheinlich.

In einem von der Beklagten eingeholten sozialmedizinischen Gutachten vom 20.03.2013 führte Dr. T (MDK) aus, dass zunächst die kardiale Diagnostik abgeschlossen werden müsse, bevor die Beschwerden auf die Nierenlebendspende zurückgeführt werden könnten. Ferner sei bereits in den Vorgutachten festgestellt worden, dass es sich bei ängstlich depressiven Störungen um sehr häufige Phänomene handele. Ursächlich kämen hier verschiedene innere und äußere Ursachen in Betracht, teilweise fänden sich keine Ursachen. Ob hier tatsächlich die Lebendspende eine wesentliche Ursache darstelle, könne nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Die Argumentation von Herrn N1 sei nicht schlüssig, da einerseits festgestellt werde, dass man die Folgen der Lebendspende nicht genau kenne und noch erforsche. Andererseits werde festgestellt, dass ein ursächlicher Zusammenhang sehr wahrscheinlich erscheine. Erstmals seien im Februar 2012 psychische Symptome mit zunehmender beruflicher Überforderung und sozialem Rückzug beschrieben worden, somit mehrere Monate nach Durchführung der Lebendspende. Eine exakte zeitliche Zuordnung liege somit nicht vor. Des Weiteren sei auch anhand der Art der Beschwerden (Herzängste) ein kausaler Zusammenhang mit der Nierenspende nicht plausibel, da die Ängste sich nicht primär auf eine Schädigung der Niere bezögen.

In einer vom Kläger vorgelegten Bescheinigung vom 31.05.2013 führte Frau Prof. Dr. T1 vom Universitätsklinikum N2 aus, dass der Kläger sich dort seit der Nierenlebendspende in der nephrologischen Nachbehandlung befinde. Seit dem Zeitpunkt der Transplantation beklage der Kläger eine deutliche Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit. Nach nunmehr zwei Jahren der Nachbeobachtung, einem Ausschluss hormoneller Mangelzustände, Virusinfektionen oder anderer organischer Erkrankungen sei in diesem Fall die Diagnose eines Chronic Fatigue Syndroms (CFS) zu stellen. Aus der eigenen Beobachtung in der Ambulanz und der hierzu veröffentlichten Literatur werde ein CFS in einigen Fällen nach Lebendnierenspende beobachtet und sei - wenngleich Ursache und Prädisposition weiter unklar seien - als solches ernst zu nehmen.

In einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 31.07.2013 führte Dr. T vom MDK aus, dass nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass das CFS Folge der Nierenlebendspende sei, da auch nach Angaben der bescheinigenden Universitätsklinik N2 die Ursache und Prädisposition unklar seien. Allein der Umstand, dass in einigen Fällen nach Lebendnierenspenden eine solche Symptomatik beobachtet werde, könne nicht dazu führen, dass hier ein kausaler Zusammenhang mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden könnte.

Mit einem Widerspruchsbescheid vom 24.06.2013 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und nahm inhaltlich Bezug auf die Ausführungen des MDK.

Dagegen richtet sich die am 17.07.2013 erhobene Klage. Zur Begründung führt der Kläger aus, dass er in Übereinstimmung mit der Einschätzung seiner Ärzte der Auffassung sei, dass sowohl der enge zeitliche Zusammenhang mit der erfolgten Lebendspende als auch die Tatsache, dass er unter Beachtung seiner Vorgeschichte noch nie Ansätze einer ähnlichen Angst- und Zwangssymptomatik gezeigt habe, für einen kausalen Zusammenhang mit der Nierenspende sprächen. Er habe infolgedessen einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld in Höhe von 100% des Nettoarbeitsentgelts gegenüber der Beklagten. Sollte der Krankengeldanspruch nicht bestehen, habe er einen Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger.

Das Gericht hat durch einen Beschluss vom 22.01.2014 die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen zum Verfahren beigeladen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2013 zu verurteilen, dem Kläger für den Zeitraum vom 27.03.2012 bis zum 02.09.2012 Krankengeld in Höhe des jeweils vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit regelmäßig erzielten Nettoarbeitsentgelts zu zahlen und dabei das in diesem Zeitraum bereits gezahlte Krankengeld anzurechnen,

hilfsweise, den Bescheid der Beklagten vom 28.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2013 aufzuheben und die Beigeladene zu verurteilen, dem Kläger für den Zeitraum vom 27.03.2012 bis 02.09.2012 Verletztengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass der angefochtene Bescheid der Sach- und Rechtslage entspreche und daher nicht zu beanstanden sei. Sie verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen des MDK, die sie für überzeugend hält.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie meint, dass das CFS gutachterlich nicht abgesichert sei. Zudem sei nicht geklärt, ob auf der Basis der aktuellen wissenschaftlichen Literatur überhaupt ein Zusammenhang zwischen einer Lebendnierenspende und dem CFS existiere. Auch in der Leitlinie "Müdigkeit" der Fachgesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin werde ein solcher Zusammenhang nicht hergestellt.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der Ärzte des Klägers sowie eines nach Aktenlage erstellten Gutachtens des Neurologen und Psychiaters Herrn H vom 13.01.2015. Auf Antrag des Klägers hat das Gericht ein Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. Q1 vom 22.07.2015 eingeholt. Ferner sind ergänzende gutachtliche Stellungnahmen von Herrn H vom 29.10.2015 und Frau Dr. Q1 vom 22.01.2016 angefordert worden. Die Beklagte hat sozialmedizinische Gutachten des MDK vom 11.07.2014 und 12.01.2016 (jeweils Dr. X1) eingereicht. Die Beigeladene hat eine beratungsärztliche Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin Frau Dr. X2 vom 15.12.2015 vorgelegt. Auf die Befundberichte, Gutachten und sonstigen Stellungnahmen wird verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten im Sach- und Streitstand nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakten und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten. Der Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 28.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2013 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn der Bescheid ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld in Höhe von 100% des Nettoarbeitsentgelts gegen die Beklagte noch einen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld gegen die Beigeladene.

Der Hauptantrag ist unbegründet. Ein Anspruch auf Zahlung von Krankengeld gegen die Beklagte besteht nicht.

Gemäß § 27 Abs. 1a Satz 1 SGB V haben Spender von Organen bei einer nach § 8 Transplantationsgesetz (TPG) erfolgenden Organspende zum Zwecke der Übertragung auf Versicherte Anspruch auf Leistungen der Krankenbehandlung. Dazu gehört u.a. auch die Erstattung des Ausfalls von Arbeitseinkünften als Krankengeld nach § 44a SGB V (§ 27 Abs. 1a Satz 2 SGB V). Zuständig für Leistungen nach § 27 Abs. 1a Satz 1 und 2 SGB V ist die Krankenkasse des Organempfängers (§ 27 Abs. 1a Satz 4 SGB V). Für die Behandlung von Folgeerkrankungen der Spender ist die Krankenkasse der Spender zuständig, sofern der Leistungsanspruch nicht nach § 11 Abs. 5 SGB V ausgeschlossen ist (§ 27 Abs. 1a Satz 7 SGB V, bis zum 22.07.2015 wortlautidentisch in § 27 Abs. 1a Satz 5 SGB V geregelt). Gemäß § 44a Satz 1 SGB V haben Spender von Organen Anspruch auf Krankengeld, wenn die Spende an Versicherte sie arbeitsunfähig macht. Gemäß § 44a Satz 2 SGB V wird das Krankengeld den Spendern von der Krankenkasse der Empfänger in Höhe des vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit regelmäßig erzielten Nettoarbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens bis zur Höhe des Betrages der kalendertäglichen Beitragsbemessungsgrenze geleistet.

Nach den gesetzlichen Vorgaben muss die Arbeitsunfähigkeit durch eine Spende hervorgerufen worden sein, die nach den Vorgaben des TPG durchgeführt worden ist. Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, die auf einer durch die Spende verursachten Gesundheitsstörung beruhen, die nicht typischerweise durch die Spende hervorgerufen wird (etwa Folgeerkrankungen), werden nicht von § 44a SGB V erfasst (vgl. Brandts, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: 88. EL, 12/2015, § 44a SGB V Rn. 12; Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: 11/2013, § 44a Rn. 33; Neumann, NJW 2013, 1401 [1403&8201;f.]). Wie sich aus der Abgrenzung der Aufgaben von gesetzlicher Kranken- und Unfallversicherung ergibt, lösen nur die durch eine Spende regelmäßig entstehenden Beeinträchtigungen Ansprüche nach dem SGB V aus. Nach § 27 Abs. 1a Satz 5 SGB V ist die Krankenkasse des Spenders für die Behandlung von Folgeerkrankungen (nur) zuständig, sofern der Leistungsanspruch nicht nach § 11 Abs. 5 SGB V ausgeschlossen ist. Dies hat zur Konsequenz, dass vorrangig Ansprüche nach dem Siebenten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) zu prüfen sind. Nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 13b, 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII gilt der Gesundheitsschaden, der über die durch die Organ- oder Gewebeentnahme regelmäßig entstehenden Beeinträchtigungen hinausgeht und in ursächlichem Zusammenhang mit der Spende steht, als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung. Wird die Arbeitsunfähigkeit nicht mehr durch die Spende, sondern durch eine andere Krankheit bedingt, und liegen anschließend die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB V vor, haben die Spender insoweit den allgemeinen Krankengeldanspruch aus ihrem eigenen Versicherungsverhältnis, jedoch keinen Anspruch aus § 44a SGB V.

Nach diesen Maßgaben scheidet ein Anspruch des Klägers gegen die Beklagte gemäß § 44a SGB V vor vornherein aus, weil es vorliegend nicht um Gesundheitsschäden geht, die durch die Organentnahme selbst verursacht worden sein könnten, sondern um geltend gemachte Spätschäden nach erfolgter Organentnahme. Der allgemeine Krankengeldanspruch ist nicht streitig, weil er bereits erfüllt wurde.

Der Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld gegen die Beigeladene.

Eine Verurteilung der Beigeladenen gemäß § 75 Abs. 2 Alt. 2, Abs. 5 SGG wäre grundsätzlich möglich. Ein Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 13b, 7 Abs. 1, 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII i.V.m. §§ 45 ff. SGB VII kommt jedoch materiell nicht in Frage.

Gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 SGB VII gilt als Versicherungsfall im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB VII bei Versicherten nach § 2 Abs. 1 Nr. 13b SGB VII auch der Gesundheitsschaden, der über die durch die Blut-, Organ-, Organteil- oder Gewebeentnahme regelmäßig entstehenden Beeinträchtigungen hinausgeht und in ursächlichem Zusammenhang mit der Spende steht. Werden dadurch Nachbehandlungen erforderlich oder treten Spätschäden auf, die als Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos anzusehen sind, wird vermutet, dass diese hierdurch verursacht worden sind (§ 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Dies gilt nicht, wenn offenkundig ist, dass der Gesundheitsschaden nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der Spende steht; eine Obduktion zum Zwecke einer solchen Feststellung darf nicht gefordert werden (§ 12a Abs. 1 Satz 3 SGB VII).

Die Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII umfasst zum einen Gesundheitsschäden, die sich in einem zeitlich unmittelbaren Zusammenhang mit dem Spendenvorgang (einschließlich der medizinisch notwendigen Vorbereitungs- und Nachbehandlungsmaßnahmen) durch einen regelwidrigen Verlauf ergeben (z.B. Behandlungsfehler, Wundinfektion, Thrombosen, Embolien, Lungenentzündung) und die so schwerwiegend sind, dass sich eine (Nach-)Behandlungsbedürftigkeit ergibt. Zum anderen werden auch Spätschäden umfasst, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt als Aus- oder Nachwirkung der Spende selbst oder des aus ihr resultierenden erhöhten Gesundheitsrisikos des Betroffenen ergeben. Diese Spätschäden ergeben sich i.d.R. aus einer schicksalhaften Entwicklung der ursprünglich nicht regelwidrigen gesundheitlichen Beeinträchtigung. Dies gilt insbesondere für die Folgen, die sich aus dem Fehlen des gespendeten Organs ergeben.

Die gesetzliche Vermutung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII setzt voraus, dass nach dem Stand der allgemeinen medizinischen Lehrmeinung die Spende generell geeignet ist, den konkreten Spätschaden zu verursachen. Im Einzelfall muss gutachterlich geklärt werden, ob für den geltend gemachten Gesundheitsschaden (z.B. chronisches Müdigkeitssyndrom nach Nierenentnahme oder psychische Beeinträchtigungen) eine derartige Lehrmeinung vorliegt. Nur wenn eine generelle Eignung nach der medizinischen Lehrmeinung zu bejahen ist, wird die Kausalität im Einzelfall fingiert (" ... wird vermutet, dass diese hierdurch verursacht worden sind") (so auch Woltjen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl., 2014, § 12a SGB VII Rn. 42; Schwerdtfeger, in: Lauterbach, UV (SGB VII), Stand: 4. Aufl., 57. EL, 06/2015, § 12a Rn. 13; Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: 88. EL, 12/2015, § 12a SGB VII Rn. 8). Für diese Auslegung spricht auch die Gesetzesbegründung. Dort heißt es: "Werden besondere Nachbehandlungen im Zusammenhang mit der Spende erforderlich oder treten Spätschäden auf, die sich als spezielle Aus- oder Nachwirkungen der Spende oder des aus der Spende resultierenden erhöhten Krankheitsrisikos ergeben können, so gilt eine gesetzliche Vermutung, dass diese infolge eines Gesundheitsschadens nach Satz 1 verursacht worden sind" (BT-Drucks. 17/9773, S. 42).

Die Voraussetzungen des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII liegen hier nicht vor. Die Lebendnierenspende ist nach dem Stand der allgemeinen medizinischen Lehrmeinung nicht generell geeignet, ein CFS zu verursachen. Die Sachverständige Frau Dr. Q1, die anderer Ansicht ist, hat weder in ihrem Gutachten vom 22.07.2015 noch in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 22.01.2016 Literaturquellen nennen können, aus denen eine allgemeine medizinische Lehrmeinung zum Zusammenhang zwischen einer Nierenspende und einem CFS hervorginge. Vielmehr ist dies nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen. Dies ergibt sich aus den übrigen medizinischen Unterlagen: Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Herr V N1 hat in einem Attest vom 29.01.2013 angegeben, dass erst jetzt das Gebiet der Lebendspende und ihre Folgen bekannt und erforscht würden, man wisse wenig Gesichertes. Frau Prof. Dr. T1 vom Universitätsklinikum N2 hat zwar in einer Stellungnahme vom 31.05.2013 die Diagnose eines CFS gestellt, weil in der Literatur bei einigen Lebensnierenspenden ein solches Phänomen beschrieben worden sei. Sie hat aber gleichzeitig betont, dass Ursache und Prädisposition des CFS weiter unklar seien. Im Übrigen hat Dr. T vom MDK in einer daraufhin abgegebenen sozialmedizinischen Stellungnahme vom 31.07.2013 durchaus zu Recht eingewendet, dass allein der Umstand, dass in einigen Fällen nach Lebendnierenspenden ein Müdigkeitssyndrom beobachtet wird, nicht dazu führt, dass hier ein kausaler Zusammenhang angenommen werden kann. Frau Prof. Dr. T1 hat in einem vom Gericht eingeholten Befundbericht vom 18.05.2014 klarstellend angegeben, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebendnierenspende und dem CFS im engeren Sinne bislang nicht bekannt bzw. bewiesen sei. Ein direkter Zusammenhang zwischen einem CFS und einer Nierenspende sei wissenschaftlich nicht gesichert. Dr. X1 vom MDK hat sich in einem sozialmedizinischen Gutachten vom 12.01.2016 der Einschätzung von Prof. Dr. T1 angeschlossen und angegeben, dass ein Zusammenhang zwischen einem CFS und einer Lebendnierenspende wissenschaftlich nicht bewiesen sei. Es lägen keine neuen wissenschaftlichen Studien vor, die eine andere Schlussfolgerung zuließen. Derartige Arbeiten würden weder von Frau Dr. Q1 benannt noch würden sie in den vier Fachbeiträgen der Zeitschrift Medizinischer Sachverständiger vom März 2014 erwähnt, welche Frau Dr. Q1 ihrem Gutachten beigefügt hat. Vielmehr stamme die letzte dort berücksichtigte wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2011. Sie sei laut dem Autor zu folgendem Ergebnis gekommen: "Clemens et al. berichteten jedoch in einer retrospektiven Vergleichsstudie zwischen 203 Nierenlebendspendern und einer Vergleichsgruppe von 104 Personen ( ) bei denen die Spende letztlich nicht zustande kam, dass in keiner der Dimensionen z.B. des SF 36 ein signifikanter Unterschied bestand" (Freudenstein, MedSach 3/2014, 266 [269]). Er, Dr. X1, habe in seinem Gutachten vom 11.07.2014 eine neuere Arbeit berücksichtigt (Glotzer u.a., Transplantation Proceedings 2013, 3225 ff.), die von Frau Dr. Q1 nicht erwähnt worden sei. Auch hier würden sich keine Auffälligkeiten zwischen Spendern und Nicht-Spendern ergeben. Zwischenzeitlich sei eine weitere Studie erschienen (Timmermann, American Journal of Transplantation 2015, 508 ff.). Die Untersucher seien zu dem Ergebnis gelangt, dass Änderungen des psychischen Zustandes von Nierenlebendspendern sich nicht von normalen Fluktuationen in der Allgemeinbevölkerung unterschieden. Ferner hat auch die Neurologin und Psychiaterin Frau Dr. X2 in einer Stellungnahme vom 15.12.2015 bestätigt, dass zum aktuellen Zeitpunkt keine sicheren wissenschaftlichen Beweise für einen Zusammenhang zwischen Nierenspende und Müdigkeitssyndrom vorliegen. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich entgegen der Ansicht von Frau Dr. Q1 auch nicht aus dem "Schweizer Lebendspenderegister". Danach sollen 8% der untersuchten Spender an einem CFS erkrankt sein (Schnitzbauer/Bechstein, MedSach 3/2014, 282 [283], siehe auch http://www.nierenlebendspende.com/fileadmin/user upload/ SOL-DHR/SOL Thiel 2009 2011.pdf). Allerdings genügt diese Studie den Anforderungen nicht, die man an eine allgemeine medizinische Lehrmeinung stellen muss. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Erhebungen ausschließlich auf den subjektiven Angaben der Untersuchten basierten und das Vorliegen eines CFS diagnostisch jeweils nicht gesichert ist. Dies wäre aber erforderlich, weil es sich bei der CFS um eine Ausschlussdiagnose handelt und konkret geprüft werden muss, ob nicht andere vorrangige Diagnosen in Betracht kommen. Ferner ist eine Inzidenz des CFS nach Lebendnierenspende mit 8% sehr gering. Und schließlich führen Schnitzbauer/Bechstein (a.a.O.) selbst aus, dass im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen einer Lebendnierenspende und einem CFS in Deutschland noch Nachholbedarf geleistet werden müsse. Sie bestätigen damit das, was zuvor Herr N1 und Frau Prof. Dr. T1 ausführten, dass es nämlich noch keine gesicherten Erkenntnisse in der Forschung gibt. Nach alledem kann von einer allgemeinen medizinischen Lehrmeinung zum Zusammenhang zwischen Lebendnierenspende und CFS nicht ausgegangen werden.

Gegen einen Zusammenhang zwischen der Nierenspende und dem CFS spricht ferner, dass andere Ursachen im Falle des Klägers ebenso gut in Betracht kommen: Dr. T vom MDK hat in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 21.11.2012 und einem sozialmedizinischen Gutachten vom 20.03.2013 ausgeführt, dass ängstlich depressive Symptome auf psychiatrischem Gebiet unterschiedliche Ursachen haben und auch ohne äußere Belastungsereignis auftreten können. Dr. X1 vom MDK hat in einem sozialmedizinischen Gutachten vom 11.07.2014 angegeben, dass traumatisch bedingte psychische Erkrankungen tendenziell umso schwerer ausgeprägt sind, je gravierender sich die äußere Belastung gestaltet. Im Falle des Klägers ist allerdings keine gravierende psychische Belastung feststellbar. Vielmehr werden Organspenden von den Spendern als zufriedenstellende Handlung erlebt. Der operative Eingriff verlief im Falle des Klägers komplikationslos. Besondere psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz oder im privaten Bereich wurden nicht berichtet. Psychische Störungen, die nach äußeren Belastungen auftreten, weisen einen charakteristischen Verlauf auf. Es kommt zeitnah nach der Belastung zu einer maximalen Ausprägung der Schädigungsfolgen, die dann über einen mehr oder minder langen Zeitraum abklingend verlaufen. Demgegenüber ist es bei dem Kläger erst ein halbes Jahr nach der Nierenspende zur Arbeitsunfähigkeit gekommen. Möglicherweise sind hier die von der I1 Reha-Klinik E im Jahr 2013 benannten Risikofaktoren (zu viel Ehrgeiz, Konflikte, Prozesse, Streit) von Bedeutung. Ferner kann es nach dem sog. Nocebo-Konzept zu krankheitswertigen psychischen bzw. psychosomatischen Störungen kommen. Die Betroffenen gehen davon aus, durch eine bestimmte Einwirkung geschädigt worden zu sein, ohne dass sich im Einzelfall ein entsprechender pathologischer Einfluss belegen lässt. Frau Dr. X2 hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2015 darauf hingewiesen, dass der Kläger bereits bei dem Entschluss zur Nierenspende zu einer depressiven Verstimmung neigte mit Grübelneigung und Schlafstörungen (Entlassungsbericht des Universitätsklinikums N2 vom 01.06.2011), möglicherweise eine gewisse genetische Disposition zu depressiven Störungen vorliegt bei bekannter depressiver Erkrankung der Mutter mit schubweisem Verlauf laut anamnestischer Erwähnung im Gutachten von Frau Dr. Q1 und dass zudem eine zeitweilige Lebererkrankung mit Leberwerterhöhung vorlag, zudem ein Asthma mit entsprechender Medikation, ein Zustand nach Schweinegrippe, ein Infekt nach einer Motorradtour unter Medikation mit Finasterid mit entsprechendem Nebenwirkungsprofil. Es haben somit multiple körperliche und psychische Erkrankungen bzw. Beeinträchtigungen vorgelegen, welche ein beklagtes Müdigkeitssyndrom durchaus verursachen können. Es ist daher nicht abwegig, wenn Frau Dr. X2 ausführt, dass der geschilderte Beschwerdekomplex des Klägers multifaktoriell bedingt sein kann. Er kann mit einer depressiven Erkrankung, aber vor allem mit körperlichen Erkrankungen als postremissives Erschöpfungssyndrom (nach Leberwerterhöhung und Infekt) oder Nebenwirkungen von Therapie (Asthmamittel, Finasterid) zusammenhängen. Die von Frau Dr. Q1 genannten Brückensymptome, auf die sich auch der Sachverständige H in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.10.2015 stützt, sind dagegen nicht eindeutig. So schreibt der Facharzt für Innere Medizin und Lungen- und Bronchialheilkunde Herr Dr. H1 in einem Befundbericht vom 30.11.2011, dass die Symptome zum Teil auf das Asthma zurückzuführen seien; zum Teil würden die Beschwerden aggraviert durch Panikattacken. Dr. H1 schreibt ferner in einem Befundbericht vom 02.02.2012, dass als Ursache eine Allergie oder eine kardiologische Erkrankung in Betracht komme.

Schließlich ist auch fraglich, ob das CFS diagnostisch beim Kläger überhaupt gesichert ist. Der Sachverständige Herr H hat in seinem Gutachten vom 13.01.2015 ausgeführt, dass die Diagnose eines CFS im vorliegenden Fall nicht gestellt werden könne, da die vom Kläger beklagten Beschwerden ganz eindeutig durch eine mehrfach dokumentierte und behandlungsbedürftige psychische Erkrankung verursacht sein könnten. Somit seien die Diagnosekriterien eines CFS eindeutig nicht erfüllt. Denn dieses könne nur dann diagnostiziert werden, wenn die Beschwerden nicht durch eine andere Erkrankung erklärt werden könnten. Herr H verweist ferner darauf, dass Herr X, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, die Diagnose einer depressiven Störung eindeutig gestellt habe. Es seien auch typische depressive Beschwerden, die über ein CFS hinausgehen, nämlich Durchschlafstörungen, Grübelneigung und Morgentief dokumentiert worden. Dem entspricht, dass im Rahmen der stationären Rehabilitationsbehandlung in der I1 Reha-Klinik E vom 04. bis 29.06.2013 nicht nur im ärztlichen Befundbericht zum Reha-Antrag die Erstdiagnose einer depressiven Episode sowie eine Angststörung gestellt wurde, es sind auch in den durchgeführten Fragebögen Hinweise auf eine depressive Störung festgestellt worden. Auch im psychischen Befund ist der Kläger als im Antrieb reduziert, in der Stimmungslage gedrückt beschrieben worden. Die dokumentierte Symptomatik sowie der zeitliche Verlauf sprechen daher nicht für eine traumaassoziierte Störung im Zusammenhang mit der Nierenentfernung. Die Meinungsänderung des Sachverständigen Herrn H in der ergänzenden Stellungnahme vom 29.10.2015 ist vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass die von Frau Dr. Q1 genannten Brückensymptome nicht eindeutig sind, für die Kammer nicht nachvollziehbar.

Nach alledem gilt die Vermutungsregelung des § 12a Abs. 1 Satz 2 SGB VII als widerlegt. Ein Anspruch auf Verletztengeld kommt deshalb nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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