L 23 SO 56/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 SO 161/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 56/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 3. Februar 2017 wie folgt neu gefasst wird: Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Januar 2017 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Der Antragsteller begehrt die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Rücknahmebescheid des Antragsgegners vom 19. Januar 2017.

Der 1949 geborene Antragsteller steht im Leistungsbezug beim Antragsgegner, zuletzt wurden ihm mit Bescheid vom 29. Juli 2016 für die Zeit vom 1. Juli 2016 bis einschließlich 30. Juni 2017 Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) bewilligt. Hierbei wurde ein Grundsicherungsbedarf i.H.v. 404,00 EUR (Regelbedarf), ein Mehrbedarf für Warmwasserbereitung i.H.v. 9,29 EUR sowie Kosten für Unterkunft und Heizung für seine Wohnung in der Rstraße in B in Höhe von insgesamt 318,87 EUR und ein Einkommen aus Altersruhegeld i.H.v. 269,31 EUR berücksichtigt und dem Kläger ein Anspruch in Höhe von monatlich 462,85 EUR zuerkannt.

Nachdem der Polizeipräsident in B dem Antragsgegner am 16. Dezember 2016 mitgeteilt hatte, dass Ermittlungen gegen den Antragsteller wegen Verdachts des Sozialleistungsbetrugs geführt würden, weil dieser seit vielen Jahren bei seiner Lebensgefährtin in der FStraße in B lebe und die Wohnung in der Rstraße in R vom 1. August 2014 bis 30. April 2016 anfangs für 320 EUR, später für 350 EUR "schwarz" untervermietet gewesen sei, hörte der Antragsgegner den Antragsteller mit Schreiben vom 5. Januar 2017 zur beabsichtigten Rücknahme der Leistungsbewilligung mit Wirkung zum 1. Februar 2017 an. Mit Schreiben vom 10. Januar 2017 teilte der Antragsteller mit, er sei mit einer Aufhebung der bislang gewährten Leistungen nicht einverstanden. Er sei in der Wohnung Rstraße bis auf weiteres gemeldet und halte diese Wohnung aufrecht. Bei seiner Bekannten, Frau B, könne er sich so lange aufhalten, wie diese es für richtig halte.

Mit Bescheid vom 19. Januar 2017 nahm der Antragsgegner daraufhin die Entscheidung über die Bewilligung von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung mit Bescheid vom 29. Juli 2016 mit Wirkung zum 1. Februar 2017 ganz zurück. Zur Begründung heißt es, der Antragsteller halte es sich dauerhaft bei seiner Lebensgefährtin auf, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse seien ungeklärt. Mietkosten für eine von ihm nicht genutzte Wohnung seien nicht als sozialhilferechtlicher Bedarf zu berücksichtigen. Zudem sei offen, ob dem Antragsteller finanzielle Mittel durch Dritte zugeflossen seien, denen er die Wohnung zur Nutzung überlassen habe.

Der Antragsgegner ordnete gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die sofortige Vollziehung dieses Bescheides an.

Auf den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, umgehend Leistungen nach dem SGB XII ab 1. Februar 2017 weiter zu gewähren, ordnete das Sozialgericht Berlin im Verfahren S 212 SO 106/17 ER mit Beschluss vom 23. Januar 2017 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 23. Januar 2017 gegen den Bescheid vom 19. Januar 2017 mit der Begründung an, dass die sofortige Vollziehung des Bescheids formal rechtswidrig angeordnet worden sei. Die Begründung des Antragsgegners zur Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom 19. Januar 2017 werde den gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht. Die Begründung allein mit fiskalischen und verwaltungstechnischen Interessen, ohne die Interessen des Antragstellers einzubeziehen, genüge nicht. Die - angenommene - Rechtmäßigkeit des zu Grunde liegenden Bescheids sei Bedingung für den Erlass und könne daher regelmäßig nicht zugleich als Kriterium für die Anordnung der sofortigen Vollziehung herangezogen werden. Sofern die Anordnung der sofortigen Vollziehung einen auf Geld gerichteten Bescheid betreffe, müsse der Sozialleistungsträger grundsätzlich darlegen, warum und weshalb das Abwarten auf den Ausgang der Hauptsache unzumutbar sei. Dies sei nicht in ausreichendem Maße geschehen.

Gegen diesen Beschluss wurde kein Rechtsmittel eingelegt.

Mit Verfügung vom 26. Januar 2017 ordnete der Antragsgegner erneut die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 19. Januar 2017 an. Zur Begründung heißt es u.a. im Wesentlichen "Ich halte es hier nicht für gerechtfertigt, die aufgrund ihrer falschen Angaben herbeigeführte Leistungsbewilligung bis zum Abschluss des Widerspruchs-bzw. Klageverfahrens aufrechtzuerhalten. Ihr Verhalten würde anderenfalls durch das Einlegen des Widerspruchs bzw. die Erhebung einer Klage noch belohnt und Leistungen aus der offenkundig rechtswidrigen Leistungsbewilligung müssten bis zum 30. Juni 2017 weitergeführt werden. Hierbei habe ich auch berücksichtigt, dass sie sich in ihrer Stellungnahme zum Sachverhalt bislang überhaupt nicht konkret zu ihrem dauerhaften Aufenthalt geäußert haben. Ihre Ausführungen vom 10. Januar 2017 enthielten nur pauschale Aussagen ...Ihr Aussetzungsinteresse ist daher weniger schutzwürdig. Bei einem solchen Fehlverhalten überwiegt in der Gesamtabwägung daher das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rücknahmeentscheidung gegenüber Ihrem Interesse am Bestand der bisherigen Leistungsgewährung. Bei der Weitergewährung der Leistungen in der bislang unveränderten Höhe würde zudem eine Überzahlung entstehen, die Sie dann dem Leistungsträger nach den Vorschriften des SGB X erstatten müssten. Mit ihrem derzeitigen Einkommen wären sie aber nicht leistungsfähig, diese Beträge dem Land Berlin zu erstatten."

Auf den Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Entscheidung vom 26. Januar 2017 festzustellen und die sofortige Vollziehung bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren auszusetzen, hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 3. Februar 2017 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die "mit Bescheid vom 7. Juni 2016 in der Fassung des Bescheids vom 29. Juli 2016" bis zum 30. Juni 2017 bewilligten Leistungen der Grundsicherung im Alter vorläufig ab dem 1. Februar 2017 weiter monatlich auszuzahlen.

Der Antragsgegner hat gegen den ihm am 6. Februar 2017 zugestellten Beschluss am 14. Februar 2017 Beschwerde eingelegt mit dem er die Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 3. Februar 2017 bzw. hilfsweise die Feststellung begehrt, dass die erneute Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheids vom 19. Januar 2017 mit Schreiben vom 26. Januar 2017 bewirkt habe, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 23. Januar 2017 gegen den Bescheid vom 19. Januar 2017 keine aufschiebende Wirkung hat.

Durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs durch das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 23. Januar 2017, die darauf beruht habe, dass die Begründung der sofortigen Vollziehung formell nicht den Anforderungen entsprochen habe, werde die Befugnis der Behörde nicht ausgeschlossen, mittels einer einwandfreien Begründung den Sofortvollzug ihres Bescheides erneut anzuordnen. Dies sei vorliegend geschehen. Offenkundig wohne der Antragsteller nicht mehr in seiner eigenen Häuslichkeit, sondern bei seiner Freundin, mithin dürfte er keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen, insbesondere keinen Anspruch auf Kosten für Unterkunft und Heizung für die von ihm früher bewohnte Wohnung in der Rstraße mehr haben. Es bestünden auch erhebliche Zweifel an seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen, insbesondere hinsichtlich der Mieteinnahmen aus der Wohnung in der Rstraße. Unter diesen Umständen das Ergebnis der Hauptsache abzuwarten würde bedeuten, dass der Sozialhilfeträger auf offensichtlich betrügerische Handlungen nicht zeitnah reagieren könnte.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß, die Beschwerde zurückzuweisen. Der Verdacht auf Sozialbetrug entspreche nicht den Tatsachen. Er sei von November bis Dezember in einer Reha-Klinik gewesen und habe für diese Zeit einen wohnungsuchenden Bekannten mit seiner Frau in seiner Wohnung schlafen lassen. Er habe seine Wohnung nicht untervermietet und auch kein Geld dafür bekommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Gerichtsakte zum Aktenzeichen S 212 SO 106/17 ER und das Verwaltungsvorgang des Antragsgegners Bezug genommen, der vorlag und Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen ist.

II.

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 3. Februar 2017 ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Der Tenor des Beschlusses des Sozialgerichts war jedoch neu zu fassen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts handelte es sich vorliegend nicht um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sondern um einen Antrag gem. § 86b Abs. 1 SGG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 23. Januar 2017 gegen den Rücknahmebescheid vom 19. Januar 2017.

Der Antragsteller wendet sich ausdrücklich gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Antragsgegners vom 19. Januar 2017. Somit lag ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vor und war das SG nicht befugt, gemäß § 86 Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand zu treffen.

Der Antragsgegner war durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 23. Januar 2017 gegen den Bescheid vom 19. Januar 2017 mit Beschluss des SG Berlin vom 23. Januar 2017 im Verfahren S 212/106/17 ER nicht gehindert, unter dem 26. Januar 2017 erneut die sofortige Vollziehung des Rücknahmebescheides vom 19. Januar 2017 anzuordnen.

Die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht hindert den Erlass einer neuen Anordnung der sofortigen Vollziehung (VzA) nur insoweit, als die materielle Rechtskraft der sozialgerichtlichen Entscheidung wirkt. Hatte das Gericht - wie im vorliegenden Fall das SG Berlin im Verfahren S 212 SO 106/17 ER - die VzA bereits aus formellen Mängeln aufgehoben oder nur deswegen (ohne inhaltliche Prüfung des Verwaltungsaktes) die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt, hindert die Bindungswirkung der gerichtlichen Entscheidung die Behörde nicht, erneut eine formell ordnungsgemäße VzA zu treffen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 86a Rn 21 m.w.N.; Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth u.a., Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl. 2014, § 80 [Aufschiebende Wirkung], Rn. 117; Rn. 132; Kopp/Schenke, VwGO § 80 Rn 172 m.w.N.; so schon Hess. VGH, Beschluss vom 22. Oktober 1982 - 4 TH 36/82 - NJW 1983, 2404, juris; Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19. Juni 1991 - 4 M 43/91 -, juris; vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 01. September 2008 - L 23 B 170/08 SO ER -, Rn. 15, juris).

Die VzA vom 26. Januar 2017 genügt jedoch ebenfalls nicht den nach § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG zu stellenden Anforderungen.

Wie der Senat bereits mit der Entscheidung vom 13. Juli 2009 (L 23 SO 89/09 B ER, veröffentlicht in juris) ausgeführt hat, bedarf eine Vollziehungsanordnung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG einer besonderen Begründung, die den Zweck verfolgt, den Betroffenen in die Lage zu versetzen, die Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung (eben nicht nur die Gründe für die Grundverfügung) zur Kenntnis nehmen zu können, um daran ausgerichtet eine Erfolgsaussicht eines Rechtsmittels abschätzen zu können. Erforderlich ist deshalb eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Darstellung des angenommenen öffentlichen Interesses daran, dass als Ausnahme von der Regel des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG im konkreten Fall die sofortige Vollziehung notwendig ist und dass das Interesse des Betroffenen deshalb hinter dem erheblichen öffentlichen Interesse zurückstehen muss. Diesen Anforderungen wird die VzA vom 26. Januar 2017 nicht gerecht.

Gerade weil Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich nach § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung haben und dies auch hier für Rechtsbehelfe gegen Leistungsaufhebungen gilt, bietet das Gesetz in § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die Möglichkeit der Anordnung des Sofortvollzuges - nur - bei entsprechender Begründung des besonderen öffentlichen Interesses.

Es müssen besondere Gründe dafür sprechen, dass der Verwaltungsakt schon jetzt und nicht erst nach Eintritt der Bestandskraft vollzogen wird (BVerfG in NVwZ 1996, 58, 59, m. w. N.). Die aufschiebende Wirkung des § 86 a SGG soll gemäß der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verhindern, dass durch die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes Tatsachen geschaffen werden, die, wenn sich der Verwaltungsakt bei gerichtlicher Überprüfung im Hauptsache-verfahren als rechtwidrig erweist, nur schwer rückgängig gemacht werden können. Sie ist andererseits kein Selbstzweck und soll einen im öffentlichen Interesse liegenden Vollzug nicht hindern. Das Gericht hat zu prüfen, ob nach Beurteilung aller Umstände die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes in der Hauptsache oder aus anderen Gründen wiederherzustellen ist (Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsverfahren, 5. Aufl., Rn. 963).

Die nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage ist eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und damit ein "fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses" (s. für die Parallelregelung der Verwaltungsgerichtsordnung stellvertretend BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, 93f. m.w.N.). Von Verfassungs wegen ist die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe zwar nicht schlechthin gewährleistet. Der Rechtsschutzanspruch ist aber umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die dem Einzelnen auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug und dem privaten Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Suspensiveffekts eines Rechtsbehelfs können dessen Erfolgsaussichten Berücksichtigung finden (BVerfG, Beschluss vom 12. September 1995 - 2 BvR 1179/95 -, NVwZ 1996, 58ff.). Geltung und Inhalt dieser Leitlinien sind nicht davon abhängig, ob der Sofortvollzug eines Verwaltungsaktes einer gesetzlichen oder einer behördlichen Anordnung entspringt (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber für den Bereich der Sozialhilfe keine gesetzlichen Ausnahmen zur Regelwirkung des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG geschaffen hat. Anders als für den Bereich des SGB II (dort § 39 Nr. 1), die Arbeitsförderung nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (dort § 336a Satz 2 i.V. mit § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG) und den Bereich der Sozialversicherung (§ 86a Satz 2 Nr. 3 SGG) ist ein Sofortvollzug kraft Gesetzes für Verwaltungsakte, welche die Beseitigung einer Leistungsbewilligung verfügen, hier nicht vorgesehen.

Im vorliegenden Fall kann ein besonderes öffentliches Interesse am Sofortvollzug des Bescheides vom 19. Januar 2017 unabhängig davon nicht erkannt werden, ob sich dieser Bescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweist. Das Risiko der Uneinbringlichkeit einer aus der Aufhebung der Leistungsbewilligung folgenden Erstattungsforderung besteht bei Personen, die wie der Antragsteller laufend existenzsichernde Leistungen beziehen, im Regelfall. Ein Grund, der über dieses Risiko hinaus den Sofortvollzug zur Sicherung eines etwaigen Erstattungsanspruchs rechtfertigen könnte, ist nicht dargelegt.

Der Antragsgegner wiederholt auch mit der streitgegenständlichen VzA lediglich Gründe, die nach seiner Rechtsauffassung die Aufhebung des Bewilligungsbescheids rechtfertigen sollen und stützt hierauf vor dem Hintergrund eines rein fiskalischen Interesses auch die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Diese Begründung hält den Anforderungen an eine Begründung des Sofortvollzuges nicht stand, da eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Darstellung des öffentlichen Interesses nicht erfolgt. Das öffentliche Interesse wird danach allein mit einer drohenden Belastung des Haushalts des Landes Berlin begründet. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung damit, dass die Weitergewährung der Leistungen während der Dauer eines etwaigen Rechtsbehelfsverfahrens zu einer Überzahlung führen (wird), deren Rückzahlung bei der Situation des Antragstellers ungewiss sei, kann die Anordnung des Sofortvollzuges schon aus formalen Gründen nicht tragen. Der Gesetzgeber hat - wie ausgeführt - die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB XII - anders als nach § 39 SGB II für die Aufhebung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende gerade nicht ausgeschlossen (vgl. Beschluss des Senats vom 13. Juli 2009 - L 23 SO 89/09 B ER). Im gesetzlichen Regelfall der Aufhebung von Leistungen von Sozialhilfe hat daher der Sozialhilfeträger - trotz angenommener Rechtswidrigkeit des weiteren Leistungsbezuges - nach dem Gesetz Leistungen während eines Rechtsbehelfsverfahrens zu erbringen und ist mit der Ungewissheit der Einbringlichkeit zu Unrecht gezahlter Leistungen belastet. Die Anführung der Umstände des Normalfalls können daher formell nicht die Anforderungen der Begründung des Sofortvollzuges erfüllen.

Soweit der Antragsgegner die Anordnung der sofortigen Vollziehung mit Verfügung vom 26. Januar 2017 auch damit begründet, dass die Leistungsbewilligung nur dadurch erfolgt sei, dass der Antragsteller maßgebliche Angaben zum Sachverhalt unrichtig oder unvollständig gemacht habe, wiederholt der Antragsgegner lediglich die Voraussetzungen für die auf § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) gestützte Grundverfügung im Rücknahmebescheid vom 19. Januar 2017, insbesondere den Grund für mangelnden Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X. Dies gilt auch für das weitere in der Begründung angegebene Argument, das Verhalten des Antragstellers würde anderenfalls durch das Einlegen des Widerspruchs bzw. die Erhebung einer Klage noch belohnt und Leistungen müssten bis zum 30. Juni 2017 weitergeführt werden. Auch dies stellt lediglich den Regelfall einer auf § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X gestützten Rücknahme einer Leistungsbewilligung dar.

Die weitere Begründung, dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers deswegen weniger schutzwürdig sei, weil "bei einem solchen Fehlverhalten" [des Antragstellers] "in der Gesamtabwägung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rücknahmeentscheidung gegenüber dem Interesse am Bestand der bisherigen Leistungsgewährung [überwiegt]", trägt ebenfalls nicht. Etwaiges Fehl- oder strafwürdiges Verhalten des Leistungsempfängers stellt offensichtlich keinen Grund dar, der einen Sofortvollzug rechtfertigen könnte. Das besondere öffentliche Interesse muss vielmehr gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen und nicht etwa an der Ahndung vorwerfbaren Verhaltens.

Auch soweit sich der Antragsgegner darauf beruft, dass ein öffentliches Interesse an der zeitnahen Realisierung von öffentlich-rechtlichen Forderungen bestehe, ist damit noch kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung aufgezeigt. Zwar können auch fiskalische Interessen ein öffentliches Interesse darstellen (allgemeine Meinung vgl. Bundesfinanzhof (BFH) Urteil vom 28. Juni 1967 - VII B 12/66 - in BFHE 89, 82 sowie Juris; Bay VGH NVwZ 1988, 745). Indes ist bei Geldforderungen ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung nur gegeben, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (soweit ersichtlich allgemeine Meinung; vgl. Bay VGH Bay Vbl 1990 22; Hess VGH NVwZ - RR 1989, 329 und 1990, 42; VGH Baden-Württemberg NVwZ - RR 1993, 392; VG München VwRR Bayern 2001, 111, Leitsatz in Juris). Auf eine solche Gefährdung hat sich der Antragsgegner in der Anordnung indes nicht berufen und auch hierfür keine tatsächlichen Anhaltspunkte aufgezeigt. Er führt insofern vielmehr einen kostenintensiven Verwaltungsaufwand an, der durch die Weitergewährung des bisherigen Zahlbetrags und die spätere Durchsetzung der Rückforderung des überzahlten Betrages entstehen würde. Auch dies stellt jedoch den Regelfall der Durchsetzung einer auf eine Rücknahmeentscheidung gestützten Erstattungs-forderung - gerade im Recht der Sozialhilfe - dar.

Damit fehlt es an der ausreichenden Begründung eines besonderen die sofortige Vollziehbarkeit des Rücknahmebescheides rechtfertigenden öffentlichen Interesses mit der Folge, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 19. Januar 2017 wiederherzustellen ist.

Angesichts dessen kommt es nicht mehr darauf an, ob sich der Bescheid vom 19. Januar 2017 voraussichtlich als rechtmäßig erweisen würde. Insoweit erscheint der Ausgang des Hauptsacheverfahrens bezüglich dieses Bescheides derzeit allerdings jedenfalls teilweise offen. Denn zwar spricht viel dafür, dass der Antragsteller mangels Nutzung der Wohnung in der Rstraße insoweit keinen Bedarf an Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung (§ 35 SGB XII i.V.m. §§ 41, 42 SGB XII) hat, Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit des Antragstellers - und gegebenenfalls seiner Lebensgefährtin - sind jedoch im Hinblick auf die zugleich erfolgte Einstellung der Regelleistung bisher nicht erfolgt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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