L 4 AS 15/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 13 AS 2159/11
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 15/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten (noch), ob dem im Jahr 1962 geborenen Kläger für die Zeit vom 1. Juni 2010 bis zum 30. November 2010 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zustehen. Der Beklagte hatte den entsprechenden Leistungsantrag mit Bescheid vom 6. Dezember 2010 abgelehnt, da der Kläger aufgrund anzurechnenden Einkommens nicht hilfebedürftig sei. Zu dem vom Beklagten berücksichtigten Einkommen gehörten insbesondere auch Zahlungen der Eltern des Klägers an diesen und seine Ehefrau. Der Kläger erhob Widerspruch und machte geltend, die Eltern hätten ihn lediglich unterstützt, weil der Beklagte seinen rechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. April 2011 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück: Auch die monatlichen Unterstützungszahlungen der Eltern seien als Einkommen zu berücksichtigen. Mit Schriftsatz vom 11. Mai 2011 (eingegangen beim Amtsgericht Hamburg-Bergedorf am 13. Mai 2011) hat der Kläger den Widerspruchsbescheid im Wege der Klageerweiterung in die bereits anhängige Klage S 13 AS 3542/10 einbezogen; das Verfahren betreffend diesen Widerspruchsbescheid hat das Sozialgericht sodann abgetrennt (Beschl. v. 24. Juni 2011). Der Kläger hat geltend gemacht, die Zahlungen der Eltern beruhten auf einem Darlehensvertrag und seien daher nicht als Einkommen anzurechnen.

Das Sozialgericht hat am 7. September 2012 den Vater des Klägers als Zeugen gehört. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen (Bl. 32 der Prozessakten).

Mit Urteil vom 16. September 2014 hat das Sozialgericht den Beklagten, der zuvor eine Proberechnung erstellt hatte, unter Aufhebung der Bescheide vom 6. Dezember 2010 und 14. April 2011 verpflichtet, dem Kläger, dessen Ansprüche hier allein Klagegegenstand seien, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 2.248,05 EUR für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2010 zu gewähren: Die Zahlungen der Eltern seien hier nicht als Einkommen i.S.v. § 11 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen. Sie beruhten auf einer ernsthaften Darlehensabrede und hätten die vom Beklagten nicht erbrachten Leistungen substituieren sollen.

Das Urteil des Sozialgerichts wurde dem Beklagten am 9. Dezember 2014 zugestellt. Am 9. Januar 2015 hat er Berufung eingelegt.

Der Beklagte greift insbesondere die Beweiswürdigung des Sozialgerichts an. Es werde bezweifelt, dass es sich bei den vom Kläger von seinen Eltern erhaltenen Beträgen um Darlehen gehandelt habe. Von einer ernsten Darlehensverabredung könne nicht ausgegangen werden. Dem Vater sei es weniger darum gegangen, das Geld alsbald wieder zurückzuerhalten, sondern vorrangig um die Unterstützung des Sohnes. Auch habe der Kläger das Darlehen nicht absprachegemäß getilgt, nachdem er wieder eigenes Einkommen erzielt habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. September 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger tritt der Berufung entgegen und trägt vor, er habe seine Eltern aus seiner Notlage heraus lediglich um einen Überbrückungskredit gebeten. Das ergebe sich schon daraus, dass er nach jahrelang aus familiären Gründen unterbrochenem Kontakt zu seinen Eltern nicht als raffgierig habe verstanden werden wollen. Rückzahlungen seien bislang wegen aufgrund des Verhaltens des Beklagten notwendiger Kontoüberziehungen und aufgrund anderer Schulden noch nicht möglich gewesen. Sollte er den vorliegenden Prozess gewinnen, werde er das Geld sofort an seine Eltern auskehren.

Der Senat hat den Vater des Klägers im Termin am 23. Februar 2017 als Zeugen gehört. Dieser hat ausgesagt, er habe zusammen mit seiner Frau, der Mutter des Klägers, seinerzeit über das ganze Jahr hinweg geholfen, weil sein Sohn arbeitslos gewesen sei und keine Leistungen erhalten habe. Für den Fall eines Prozesserfolgs seines Sohnes erwarte er die Rückzahlung der finanziellen Hilfe.

Die den Kläger und seine Ehefrau betreffenden Sachakten des Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie auf den Inhalt der Prozessakten, insbesondere auch den sachlich richtigen Tatbestand des angefochtenen Urteils, ferner den Inhalt der Verfahrenakte S 13 AS 3542/10, wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. September 2014 ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide vom 6. Dezember 2010 und 14. April 2011 verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 2.248,05 EUR zu gewähren. Dem Kläger steht für sich ein solcher Anspruch nach § 7 SGB II zu, da er die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllte, insbesondere in diesem Umfang, wie er von dem Beklagten im Rahmen einer korrekten Proberechnung (Bl. 41 ff. der Prozessakten) ermittelt worden ist, hilfebedürftig i.S.v. § 9 SGB II war.

Entgegen der Auffassung des Beklagten waren die Zahlungen der Eltern nicht als Einkommen gem. §§ 11, 9 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen, welches den grundsicherungsrechtlichen Bedarf hätte entfallen lassen.

Aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II folgt zwar keine Definition dessen, was Einkommen ist. Mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urt. v. 6.10.2011, B 14 AS 66/11) kann jedoch im Anwendungsbereich des § 11 Abs. 1 SGB II nach Sinn und Zweck der Norm eine von einem Dritten lediglich vorübergehend zur Verfügung gestellte Leistung nicht als Einkommen qualifiziert werden. Nur der wertmäßige Zuwachs stellt Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II dar; als Einkommen sind nur solche Einnahmen in Geld oder Geldeswert anzusehen, die eine Veränderung des Vermögensstandes dessen bewirken, der solche Einkünfte hat. Dieser Zuwachs muss dem Leistungsberechtigten zur endgültigen Verwendung verbleiben, denn nur dann lässt er seine Hilfebedürftigkeit in Höhe der Zuwendungen dauerhaft entfallen. Insoweit ist zunächst zu unterscheiden zwischen Geldzahlungen oder Sachleistungen, die einem nach dem SGB II Leistungsberechtigten zum endgültigen Verbleib zugewendet werden, und einem Darlehen, das mit einer Rückzahlungsverpflichtung im Sinne des BGB gegenüber dem Darlehensgeber belastet ist (a.a.O.).

Dieser Systematik entsprechend stellen auch Zuwendungen Dritter, die eine rechtswidrig vom Grundsicherungsträger nicht erbrachte Leistung bis zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes substituieren und nur für den Fall des Obsiegens zurückgezahlt werden sollen, kein Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II dar. Solche Zuwendungen, mit denen der Dritte vorläufig – gleichsam anstelle des Grundsicherungsträgers und unter Vorbehalt des Erstattungsverlangens – einspringt, weil der Träger die Leistung nicht rechtzeitig bewilligt hat, entbinden den Grundsicherungsträger nicht von seiner Leistungsverpflichtung (BSG, Urt. v. 20.12.2011, B 4 AS 46/11; vgl. zuletzt LSG NRW, Beschl. v. 19.7.2016, L 7 AS 1055/16 B; näheres bei Wahrendorf, jurisPR-SozR 12/2012, Anm. 1). Wie im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch und des Bundessozialhilfegesetzes kann dem Hilfesuchenden eine zwischenzeitliche Selbstbeschaffung der begehrten Leistung unter dem Gesichtspunkt einer Zweckverfehlung der ursprünglich beantragten Leistung nicht entgegengehalten werden (BSG, Urt. v. 6.10.2011, a.a.O.). Gerade wegen der Unaufschiebbarkeit des Bedarfs darf der Hilfebedürftige bis zur endgültigen Klärung der Leistungspflicht des Trägers der Grundsicherung übergangsweise eine andere Regelung suchen. Soweit es nicht möglich ist, die Verpflichtungen aus eingegangenen Verbindlichkeiten stunden zu lassen, bliebe es dem Hilfebedürftigen etwa unbenommen, zu marktüblichen Konditionen ein verzinsliches Darlehen aufzunehmen. Soweit dadurch unabwendbar Mehrkosten entstünden, wären auch sie gegebenenfalls vom Träger der Grundsicherung zu erstatten (a.a.O). Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, wenn Hilfebedürftige vorrangig auf freiwillige und kostengünstigere Angebote Dritter zurückzugreifen, die auf freundschaftlicher oder familiärer Verbundenheit beruhen. Einen ursprünglich bestehenden Anspruch lassen solche Bemühungen nicht entfallen, wenn feststeht, dass dem Dritten im Falle des Obsiegens die zugewandten Leistungen zurückerstattet werden. So aber liegt es hier.

Der Beklagte hatte über den Leistungsanspruch des Klägers und seiner Ehefrau seinerzeit nicht entschieden. Das Vorbringen des Klägers, er habe deshalb zur Sicherung der Wohnung und des sonstigen Lebensunterhalts auf finanzielle Hilfe seiner Eltern zurückgreifen müssen, hat der vom Senat als Zeuge vernommene Vater des Klägers bestätigt. Er hat insbesondere auch glaubhaft bestätigt, dass es sich lediglich um eine Nothilfe wegen der Nichtleistung des Beklagten gehandelt habe und dass die Eltern im Falle eines Obsiegens des Klägers im Prozess eine Erstattung des Betrages erwarteten. Das schließt eine rechtliche Qualifikation der Zahlungen als Einkommen i.S.v. § 11 SGB II aus.

Dieser Bewertung steht nicht entgegen, dass der Kläger inzwischen erhaltene Leistungen des Beklagten nicht an seine Eltern weitergeleitet hat. Diese betrafen einen anderen Zeitraum, und die vom Vater als Zeugen bestätigte Angabe des Klägers, es hätten zunächst überzogene Konten ausgeglichen werden müssen, erscheint plausibel.

Auch steht der vorstehenden Bewertung nicht entgegen, dass die Zahlungen der Eltern (11.000,- EUR) insgesamt deutlich höher lagen als der hier im Streit stehende Betrag. Denn die Zahlungen zogen sich über einen wesentlich längeren Zeitraum hin und sollten auch der Ehefrau des Klägers zugutekommen, deren Ansprüche im vorliegenden Verfahren nicht Gegenstand gewesen sind.

Nach alledem hat das Sozialgericht der Klage zu Recht weitgehend stattgegeben, und die Berufung des Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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