S 1 U 2602/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 2602/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Nach medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt es keinen isolierten traumatischen Tinnitus (Bestätigung des Urteils des erkennenden Gerichts vom 20.04.2017 - S 1 U 3641/16 - ). Insoweit besteht deshalb auch kein Anspruch auf Verletztengeld.
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Verletztengeld wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls über den 31.03.2016 hinaus.

Der 1964 geborene, als Verkäufer bei einer Werbeagentur beschäftigt gewesene Kläger, erlitt am 20.10.2014 auf einem Betriebsweg einen Arbeitsunfall, als er mit seinem Motorroller mit einem Pkw kollidierte und auf die rechte Seite stürzte. Der erstversorgende Arzt, der Chirurg Dr. F., diagnostizierte am Unfalltag als Gesundheitsstörungen eine Prellung des rechten Knies, eine Schürfwunde am rechten Bein sowie eine oberflächliche Verletzung (Prellung) des Rumpfes und verneinte eine Gehirnerschütterung (vgl. Durchgangsarztbericht vom 20.10.2014). Im Rahmen einer Nachuntersuchung am 27.10.2014 diagnostizierte Dr. F. als zusätzliche Gesundheitsstörungen eine Verstauchung und Zerrung des linken oberen Sprunggelenks und multiple oberflächliche Verletzungen (vgl. Nachschaubericht vom 28.10.2014). Zum Ausschluss einer Fraktur bzw. Thrombose am linken Unterschenkel befand sich der Kläger vom 29. bis zum 31.10.2014 stationär in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Klinikums Mi. (vgl. Entlassungsbericht vom 05.11.2014). Erstmals im Rahmen einer weiteren Nachuntersuchung durch Dr. F. am 12.11.2014 klagte der Kläger über Schwindelerscheinungen und Ohrgeräusche, die er auf das Unfallereignis zurückführte (vgl. Zwischenbericht vom 12.11.2014). Der HNO-Arzt Dr. M. diagnostizierte am 13.11.2014 als Gesundheitsstörungen einen beidseitigen Tinnitus. Nachfolgende Infusions- und Hochdosiscortisonstoß-Therapien erbrachten keine wesentliche Beschwerdebesserung (vgl. u.a. Bericht des Dr. M. vom 13.01.2015). Der Neurologe und Psychiater Dr. Sch. diagnostizierte aufgrund des Untersuchungsbefundes vom 14.11.2014 als Gesundheitsstörungen eine Schädelprellung und eine HWS-Distorsion (vgl. Arztbrief vom 15.11.2014). Aufgrund des Ergebnisses einer von Dr. F. veranlassten kernspintomographischen Untersuchung des Schädels und der Halswirbelsäule des Klägers schloss der Facharzt für Nuklearmedizin und diagnostische Radiologie Dr. L. eine intrakranielle Blutung und Raumforderung, insbesondere eine Neoplasie, aus. Die Kleinhirnrückenwinkel und die Vestibulocochlear-Nerven beidseits kamen unauffällig zur Darstellung. Im Bereich der Halswirbelsäule fand Dr. L. Bandscheibenprolabierungen in den Segmenten C5/6 und C6/7 mit möglichen Wurzelirritationen sowie weniger ausgeprägte Bandscheibenprolabierungen in den Segmenten Th2 bis 4, außerdem eine Streckfehlhaltung der Halswirbelsäule ohne Spinal- oder Foramensstenosierung. Eine Bandverletzung der Halswirbelsäule schloss er ebenso aus wie eine Verletzung knöcherner Strukturen der Halswirbelsäule (vgl. Arztbrief vom 24.11.2014). In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom März 2015 äußerte der HNO-Arzt Dr. J. den Verdacht auf eine psychische Überlagerung als Ursache der geltend gemachten Ohrgeräusche bei beidseitigem Hörverlust von weniger als 10 %. Zur Heilverfahrenskontrolle befand sich der Kläger außerdem in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Lu. in der Zeit vom 16. bis 20.03.2015. Die Klinikärzte diagnostizierten als Gesundheitsstörungen u.a. eine HWS-Distorsion, eine Schädelprellung sowie einen beidseitigen Tinnitus (Schadensanlage) und empfahlen in Bezug auf das Ohrgeräusch eine ambulante psychotherapeutische Behandlung des Klägers (vgl. Entlassungsbericht vom 20.03.2015). Der Neurologe und Psychiater Dr. H. verneinte auf seinem Fachgebiet objektivierbare Unfallfolgen bei Zustand nach HWS-Distorsion und Schädel-Gesichts-Prellung. Auch eine zervikal-radikuläre Symptomatik sei nicht darzustellen (vgl. Bericht vom 18.03.2015). Die Psychologische Psychotherapeutin G. erachtete den Kläger nach Abschluss der psychotherapeutischen Behandlung trotz seiner Gesundheitsstörung (Tinnitus, Anpassungsstörung) als uneingeschränkt arbeitsfähig und empfahl eine stationäre Tinnitusbehandlung (vgl. Abschlussbericht vom 13.07.2015).

Zur Feststellung von Art und Ausmaß der Unfallfolgen sowie der Dauer unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit ließ die Beklagte den Kläger durch die HNO-Ärzte Dr. Gt. und Dr. M., den Neurologen und Psychiater Dr. B. und den Chirurgen Dr. F. untersuchen und begutachten. Außerdem veranlasste sie eine Heilverfahrenskontrolle durch die Neurologin und Psychiaterin Dr. Gr ... Dr. Gt. objektivierte eine Hochtoninnenohrschwerhörigkeit mit Hörverlust beidseits von 0 % sowohl im Ton- als auch im Sprachaudiogramm, außerdem einen beidseitigen Tinnitus mit erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen. Das Unfallereignis vom 20.10.2014 sei nicht mit Wahrscheinlichkeit Ursache der Tinnitusbeschwerden. Dagegen spreche insbesondere das beschwerdefreie Intervall von rund 10 Tagen nach dem Unfallgeschehen. Dr. M. bestätigte die von Dr. Gt. erhobenen Befunde auf seinem Fachgebiet. Anhaltspunkte für einen peripher-vestibulären Schwindel habe er nicht feststellen können. Ein Schädeltrauma als mögliche Ursache der Tinnitusbeschwerden habe nicht stattgefunden, ebenso wenig eine HWS-Distorsion. Vielmehr leide der Kläger an unfallunabhängigen degenerativen Vorschäden der Halswirbelsäule im Sinne multipler Bandscheibenprotrusionen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tinnitus und dem Unfallereignis bestehe nicht, zumal ein Tinnitus nach den anamnestischen Angaben des Klägers auch schon vor dem Unfallgeschehen gelegentlich und vorübergehend vorgelegen habe. Eventuell sei diese Gesundheitsstörung Folge einer unfallbedingten psychischen Belastung. Für einen Schwindel finde sich auf HNO-fachärztlichem Gebiet kein Korrelat. Dr. Sch. teilte auf Anfrage der Beklagten mit, eine psychogene Ursache des Tinnitus durch eine unfallbedingte psychische Traumatisierung sei nicht sicher (vgl. Schreiben vom 11.10.2015). Dr. B. führte zusammenfassend aus, bei dem Kläger sei allein eine leichtgradige Beeinträchtigung der Medianusnerven im Verlauf des Karpalkanals zu objektivieren. Insoweit sei ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Unfallereignis mit Handgelenksextensionstrauma, Fraktur der Hand bzw. Distorsion der Handwurzelknochen rechts wahrscheinlich. Das beidseitige Ohrgeräusch, die subjektiv geklagte Konzentrationsstörung und der Schwankschwindel seien jedoch dem Unfallereignis "nicht ohne vernünftige Zweifel" zuzuordnen. Eine unfallbedingte psychische Störung liege nicht vor Dr. F. diagnostizierte als Unfallfolgen eine folgenlos ausgeheilte Prellung beider Kniegelenke, eine Bewegungseinschränkung nach Abriss des TFCC am rechten Handgelenk, eine Meniskusrissbildung am Innenmeniskushinterhorn im Übergang zur Pars intermedia, eine folgenlos ausgeheilte HWS-Distorsion und eine ebenfalls folgenlos ausgeheilte Abrissfraktur am Os hamatum. Unfallunabhängig leidet der Kläger an einem Sulcus-ulnaris-Syndrom beidseits und an einem vorbestehenden Tinnitus. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bewertete Dr. F. auf seinem Fachgebiet mit 10 v.H. In seiner ergänzenden Stellungnahme führte Dr. F. aus, spätestens seit dem 03.11.2015 bestehe von Seiten der chirurgischen Verletzungsfolgen keine Arbeitsunfähigkeit mehr; seither stehe die Tinnitusproblematik eindeutig im Vordergrund. Dr. Gr. diagnostizierte als Gesundheitsstörung eine leichte Anpassungsstörung im Sinne einer ängstlichen Restsymptomatik beim Autofahren und einer verminderten Stresstoleranz. Außerdem klage der Kläger über ein Tinnitusleiden. Die Schwindelsymptomatik stelle sich eher als Benommenheits- und Anspannungs- bzw. Nervositätssyndrom dar, das überwiegend beim Autofahren auftrete. Insoweit bestehe ein kausaler Zusammenhang zu dem Arbeitsunfallereignis. Dagegen sei die Tinnitussymptomatik nicht eindeutig in einem kausalen Zusammenhang mit dem Unfallereignis zu bringen. Auf ihrem Fachgebiet bestehe weder eine messbare MdE noch Arbeitsunfähigkeit.

Nach Anhörung des Klägers (vgl. Schreiben vom 09.03.2016) stellte die Beklagte die Zahlung von Verletztengeld mit Ablauf des 31.03.2016 mit der Begründung ein, die chirurgischen Verletzungsfolgen bedingten ab dem 03.11.2015 keine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mehr. Seither stehe die Tinnitus-Problematik im Vordergrund. Diese sei jedoch nicht ursächlich auf das Unfallereignis zurückzuführen. Auch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestünden keine Unfallfolgen mit Arbeitsunfähigkeit mehr. Wegen der Tinnitusbeschwerden und der leicht ausgeprägten Anpassungsstörung seien ambulante psychotherapeutische Behandlungen ausreichend. Für die tinnitusspezifischen Behandlungsmaßnahmen sei die Krankenkasse des Klägers zuständig (Bescheid vom 01.04.2016).

Zur Begründung seines dagegen erhobenen Widerspruchs trug der Kläger im Wesentlichen vor, er leide seit dem Unfall an erheblichen Tinnitusbeschwerden, die weiterer ärztlicher Behandlung bedürften. Zu Unrecht habe die Beklagte die Zahlung von Verletztengeld über den 31.03.2016 versagt. Zur Stützung seines Klagebegehrens verwies der Kläger auf den Arztbrief des Dr. Sch. vom 15.11.2014.

Dr. F. erachtete den Kläger aufgrund der von ihm am 10.05.2016 erhobenen Befunde als weiterhin arbeitsfähig (vgl. Zwischenbericht vom 10.05.2016).

Die Beklagte wies den Widerspruch zurück: Die Ohrgeräusche seien nicht Folge des Arbeitsunfalls. Das Ereignis habe die Ohrgeräusche auch nicht verschlimmert. Die Einstellung des Verletztengeldes mit Ablauf des 31.03.2016 sei daher zu Recht erfolgt (Widerspruchsbescheid vom 01.07.2016).

Deswegen hat der Kläger am 02.08.2016 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Widerspruchsvorbringen und legt das Attest des Neurologen und Psychiaters Dr. van Q. vom 13.07.2017 vor.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. Si. und des Neurologen Dr. St.:

Prof. Dr. Si. hat als Befunde (tonschwellen- und sprachaudiometrisch) einen beidseitigen Hörverlust von 0 % erhoben. Den Tinnitus habe der Kläger beidseits bei einer Frequenz von 10 kHz in einer Lautstärke rechts von 54 dB und links von 85 dB angegeben. Im Rahmen der Vestibularisprüfung habe er keine krankhaften Veränderungen und allein beim Tretversuch nach Unterberger eine leichte Abweichung nach rechts objektiviert. Zusammenfassend hat Prof. Dr. Si. ausgeführt, der Sturz vom Motorroller sei grundsätzlich geeignet gewesen, eine HWS-Distorsion zu verursachen und damit ein Tinnitusleiden hervorzurufen. Allerdings habe die kernspintomographische Untersuchung des Schädels im November 2014 keine Verletzungen des Felsenbeins oder der Halswirbelsäule ergeben. Eine HWS-Distorsion sei nach den ärztlichen Unterlagen überdies nicht dokumentiert. Gegen die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Tinnitus spreche bereits die Latenz von 24 Tagen oder auch anamnestisch von einigen Tagen bis zum Auftreten der Ohrgeräusche. Außerdem sei ein Tinnitus als alleiniges Symptom ohne unfallbedingte Hörminderung oder unfallbedingte Schäden des Gleichgewichtsapparates nicht wahrscheinlich zu machen. Hinweise auf eine Läsion der Vestibularisorgane fänden sich jedoch weder in den aktuellen Untersuchungsbefunden noch in den Gutachten der Dres. M. und Gt ... Die sensorineurale Hörminderung links sei am ehesten degenerativ bedingt. Die Auswirkungen des Tinnitus begründeten keine längerfristige Arbeitsunfähigkeit des Klägers.

Dr. St. hat dargelegt, für den vom Kläger seit dem Unfallereignis angegebenen subjektiven Schwankschwindel bei Dunkelheit und geschlossenen Augen finde sich in der klinisch-neurologischen Untersuchung kein Korrelat. Auf seinem Fachgebiet sei eine Gefühlsstörung im Bereich der Narben am linken Schienbein und am rechten Handgelenk zu objektivieren. Diese Gesundheitsstörungen seien zweifelsfrei als unmittelbare Unfallfolge anzusehen. Die Frage nach einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit wegen der von ihm diagnostizierten Unfallfolgen hat Dr. St. mit "entfällt" beantwortet.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 01. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. Juli 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfallereignisses vom 20. Oktober 2014 über den 31. März 2016 hinaus Verletztengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Zu Recht hat die Beklagte die Gewährung von Verletztengeld wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 20.10.2014 mit Ablauf des 31.03.2016 eingestellt.

1. Dass der Kläger am 20.10.2014 in Ausübung seiner versicherten Tätigkeit als Verkäufer bei einer Werbeagentur auf einem Betriebsweg (§ 8 Abs. 1 SGB VII; vgl. hierzu u.a. BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 39, Rdnr. 20) einen Arbeitsunfall erlitten hat, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Dies hat die Beklagte in der Begründung des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 01.07.2016 auch - inzidenter - anerkannt.

2. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte nach Eintritt eines Versicherungsfalls, u.a. eines Arbeitsunfalls, u.a. Anspruch auf Geldleistungen in Form von Verletztengeld (§ 45 ff. SGB VII).

Verletztengeld wird nach § 45 Abs. 1 SGB VII erbracht, wenn Versicherte in Folge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können (Nr. 1) und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Heilbehandlung u.a. Anspruch auf Arbeitsentgelt hatten (Nr. 2). Verletztengeld wird von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird (§ 46 Abs. 1 SGB VII) und endet u.a. mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder der Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit durch eine Heilbehandlungsmaßnahme (§ 46 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VII).

Arbeitsunfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls liegt anknüpfend an die Rechtsprechung zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn ein Versicherter aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalles nicht in der Lage ist, seiner zuletzt ausgeübten oder einer gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (vgl. zur st. Rspr. in der gesetzlichen Krankenversicherung: BSGE 26, 288; BSGE 61, 66 und BSGE 85, 271, 273; zur Literatur: Schifferdecker in Kasseler Kommentar, Stand März 2017, § 44 SGB V, Rdnr. 41, 45 ff; zur Übernahme dieses Begriffs in die gesetzliche Unfallversicherung: vgl. BSG, USK 72181; BSG SozR 3-2200 § 560 Nr. 1; BSG SozR 3-2700 § 46 Nr. 1 und SozR 4-2700 § 46 Nr. 3; zur unfallversicherungsrechtlichen Literatur: Fischer in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, Stand: 24.05.2016, § 45, Rdnr. 15; Nehls in Hauck/Noftz, SGBVII, Stand 08/2012, § 45, Rdnr. 4 und Schmitt, SGB VII, 4. Aufl. 2009, § 45, Rdnr. 6). Arbeitsunfähigkeit ist danach gegeben, wenn der Versicherte seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles konkret ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit nicht (weiter) verrichten kann. Dass er möglicherweise eine andere Tätigkeit trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch ausüben kann, ist unerheblich. Ohne Bedeutung ist es, ob die Heilbehandlung des Versicherten abgeschlossen ist oder nicht (vgl. Fischer, a.a.O. und § 46, Rdnr. 38; Köllner in LPK-SGB VII, 4. Aufl. 2014, § 45, Rdnr. 8 sowie Nehls, a.a.O., Rdnr. 6).

3. Gemessen daran sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden.

Der Kläger hat über den 31.03.2016 hinaus keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztengeld aus Mitteln der gesetzlichen Unfallversicherung. Denn aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens ist auch nicht zur Überzeugung der Kammer (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) erwiesen, dass der Kläger über diesen Zeitpunkt hinaus wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 20.10.2014 arbeitsunfähig krank war. Hierfür stützt sich das erkennende Gericht auf die wohlbegründeten, kompetenten und widerspruchsfreien Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr. Si. und Dr. St., die im Wege des Urkundenbeweises verwerteten Gutachten der Dres. Gt., M., B. und F., den Heilverfahrens-Bericht von Dr. Gr., das Schreiben des Dr. Sch. vom 11.10.2015 sowie das nach Erlass des Widerspruchsbescheides von der Beklagten eingeholte weitere Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. Sp./PD Dr. He. vom Juni 2016.

a) Wie Dr. F. und Prof. Dr. Sp./PD Dr. He. - im Ergebnis - übereinstimmend dargelegt haben, sind unfallbedingte Gesundheitsstörungen auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet, mit Ausnahme einer leichten Bewegungseinschränkung am rechten Handgelenk nach Abriss des TFCC für die Streckung/Beugung um jeweils 10° und die Unterarmdrehung, folgenlos ausgeheilt. Sie bedingen mit Dr. F. seit dem 03.11.2015 keine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mehr. Gegenteiliges macht auch der Kläger nicht geltend.

b) Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sind ebenfalls keine überdauernden Unfallfolgen zu objektivieren, die über den 31.03.2016 hinaus eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit rechtfertigen würden. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus den Gutachten von Dr. B. , dem Heilverfahrensbericht von Dr. Gr. wie auch dem Bericht des Neurologen und Psychiaters Dr. H. bereits vom 18.03.2015. Bei Zustand nach HWS-Distorsion und Schädel-Gesichts-Prellung - wobei nach den zutreffenden Darlegungen des Prof. Dr. Sp./PD Dr. He., des Dr. M. und des Sachverständigen Prof. Dr. Si. eine HWS-Distorsion angesichts der insoweit blanden Befunde in den zeitnah zum Unfallereignis erstellten Berichten des Dr. F., insbesondere im Durchgangsarztbericht vom 20.10.2014, wie auch im Arztbrief des Dr. L. vom 24.11.2014 nicht erwiesen ist; auch Prof. Dr. Sp./PD Dr. He. halten eine unfallbedingte leichtgradige HWS-Distorsion im Ergebnis nur für möglich - hat Dr. H. objektive Unfallfolgen auf neurologischem Fachgebiet ausdrücklich verneint, ebenso eine zervikal-radikuläre Symptomatik. Auch Dr. B. hat aufgrund der von ihm erhobenen Befunde und Krankheitsäußerungen weitere Heilbehandlungsmaßnahmen als nicht erforderlich erachtet und zutreffend eine behandlungsbedürftige bzw. behandelbare psychische Störung verneint. Schließlich rechtfertigt auch die von Dr. Gr. diagnostizierte leichte Anpassungsstörung des Klägers im Sinne einer Restsymptomatik nicht die Annahme unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit über den 31.03.2016 hinaus, wie die Ärztin überzeugend dargelegt hat. Dies gilt auch in Bezug auf den vom Kläger angegebenen Schwankschwindel, ungeachtet dessen, dass die Dres. M., Gt. und B. wie auch die Sachverständigen Prof. Dr. Si. und Dr. St. keinen Anhalt für eine unfallbedingte Schädigung der Vestibularisorgane oder ein klinisch-neurologisches Korrelat objektiveren konnten, weshalb ein ursächlicher Zusammenhang dieser Gesundheitsstörung mit dem Arbeitsunfall vom 20.01.2014 auch zur Überzeugung der Kammer nicht wahrscheinlich ist. Ursache der Schwindelerscheinungen dürften vielmehr die bildtechnisch von Dr. L. bereits am 24.11.2014 nachgewiesenen erheblichen degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule sein.

c) Mit Dr. F. und in Übereinstimmung mit der Beklagten geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass im Vordergrund der weiteren Behandlungsbedürftigkeit seit dem 03.11.2015 die Tinnitusproblematik des Klägers stand. Ob der Kläger deswegen über den 31.03.2016 hinaus arbeitsunfähig war, kann vorliegend indes offenbleiben. Denn der Tinnitus einschließlich evtl. psychischer Folgeerscheinungen ist nicht - wie erforderlich - mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf den Arbeitsunfall vom 20.10.2014 zurückzuführen. Insoweit schließt sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung den - im Ergebnis - übereinstimmenden Darlegungen der Dres. Gt. und M. und des Sachverständigen Prof. Dr. Si. an. Ungeachtet der Frage, ob ein Tinnitus Folge einer HWS-Distorsion sein kann und vorliegend eine unfallbedingte HWS-Distorsion tatsächlich vorgelegen hat - dagegen sprechen die Berichte des Dr. F. vom 20.10. 28.10. und vom 12.11.2014 wie auch der Entlassungsbericht des Klinikums Mi. vom 05.11.2014 und insbesondere der Arztbrief des Dr. L. vom 24.11.2014 -, spricht gegen die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall vom Oktober 2014 und der Ohrgeräuschproblematik mit Prof. Dr. Si. und Dr. Gt. das beschwerdefreie Intervall von mehreren Tagen - hier: konkret von 24 Tagen - zwischen dem Unfall und dem Beschwerdevorbringen in Form von Ohrgeräuschen und Schwindelerscheinungen gegenüber Dr. F. erstmals bei der Nachuntersuchung am 12.11.2014. Entgegen dem Vorbringen des Klägers gehen Prof. Dr. Si. und Dr. Gt. insoweit auch nicht von unrichtigen Anknüpfungstatsachen aus. Denn gegenüber Dr. Gt. hat der Kläger bei der Untersuchung und Begutachtung am 03.06.2015 ausdrücklich angegeben, er sei unmittelbar nach dem Unfall hinsichtlich des HNO-Bereichs beschwerdefrei gewesen und habe nach dem Unfall für mehr als eine Woche weder Ohrgeräusche noch eine andere Hörstörung/Hörminderung noch Schwindelbeschwerden gehabt; den Tinnitus beidseits habe er vielmehr erst 10 Tage nach dem Unfall erstmals bemerkt. Diese Angaben hat er sowohl gegenüber Dr. B. ("Entwicklung eines Ohrgeräusches, zeitliches Fenster nicht genau angegeben, im Verlauf"; " etwa 3-4 Tage nach dem Unfall aufgetreten.") und gegenüber Prof. Dr. Si. (" ... andauerndes hochfrequentes Geräusch auf beiden Ohren" ..." sei einige Tage nach dem Unfall neu aufgetreten.") bestätigt. Auch gegenüber Dr. St. hat der Kläger anamnestisch angegeben, "kurz nach dem Unfall, möglicherweise während der drei Tage als er stationär im Krankenhaus lag, habe er ein Ohrgeräusch auf beiden Ohren festgestellt, genau könne er das gar nicht terminieren". Sein nunmehr hiervon abweichendes Vorbringen, die Ohrgeräusche hätten bereits unmittelbar nach dem Unfall am 20.10.2014 bestanden, erachtet die Kammer deshalb als nicht glaubhaft, sondern als ziel- und zweckgerichtetes Vorbringen.

Überdies setzt ein traumatischer Tinnitus nach medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Prof. Dr. Si. voraus, dass gleichzeitig andere unfallbedingte Störungen des Innenohrs (Hörminderung, Schwindel) objektivierbar sind (vgl. hierzu Urteil des erkennenden Gerichts vom 20.04.2017 - S 1 U 3641/16 -, Rdnr. 35 m.w.N. (Juris)). Den isolierten unfallbedingten Tinnitus gibt es nicht. Bei den Untersuchungen durch die HNO-Ärzte Dres. Gt., M. und Prof. Dr. Si. konnten die genannten Ärzte eine Hörminderung, die das altersphysiologische Ausmaß überschreitet, jedoch nicht objektivieren. Vielmehr ergaben die von allen HNO-Ärzten durchgeführten ton- und sprachaudiometrischen Untersuchungen des Hörvermögens keine messbaren Hörverlust (= beidseits jeweils 0%). Auch Hinwiese auf eine Läsion der Vestibularisorgane konnten Dr. M., Dr. Gt. und Prof. Dr. Si. nicht objektivieren. Der Sachverständige Dr. St. hat für die vom Kläger angegebenen Schwindelbeschwerden ein klinisch-neurologisches Korrelat ausdrücklich verneint; denn der Kläger zeigte bei der Untersuchung und Begutachtung ein normales und flüssiges Gangbild. Den Romberg-Stehversuch wie auch die Gangvaria (Zehenspitzen- und Fersenstand) konnte er ohne Hilfestellung und ohne Gleichgewichtsstabilisierung regelrecht ausführen. Selbst die erschwerten Gangproben (Blind- und Seiltänzergang) waren sicher möglich.

d) Eine evtl. traumatisch bedingte psychische Ursache des Tinnitusleidens, wie von Dr. M. angedacht, hat bereits Dr. Sch. in seinem Schreiben an die Beklagte vom 11.10.2015 nicht bestätigt. Dem hat sich Dr. B. in seinem neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachten ebenso angeschlossen wie Dr. Gr. im Heilverfahrenskontrollbericht vom März 2016. Schließlich hat auch der Sachverständige Dr. St. bei seiner Untersuchung und Begutachtung des Klägers keine Befunde und/oder Krankheitsäußerungen erhoben, die die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einer traumatisch bedingten psychischen Überlagerung und den Tinnitusbeschwerden auch nur nahelegen könnte.

e) Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass ein rein zeitlicher Zusammenhang zwischen einem versicherten Unfallereignis und dem Auftreten von Gesundheitsstörungen nicht ausreicht, die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs im Rechtssinn zu begründen (vgl. BSG vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R -, Rdnr. 20 und - im Ergebnis - BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R -, Rdnr. 53; ferner Sächs. LSG vom 13.08.2014 - L 6 U 142/11 -, Rdnr. 41 und Bayr. LSG vom 11.11.2014 - L 2 U 398/13 -, Rdnr. 54 - (jeweils Juris)), und zwar selbst dann nicht, wenn sich eine andere - nicht versicherte - Ursache nicht feststellen lässt.

f) Das zuletzt noch vorgelegte Attest des Dr. van Q. ist nicht geeignet, das Klagebegehren zu stützen. Denn ungeachtet dessen, dass dessen Angaben: "Initial Kopfschmerzen und Schwindel, zudem. seither aufgetretenen. Tinnitus" allein subjektives Vorbringen des Klägers wiederspiegeln, das zudem sowohl der Aktenlage wie auch den anamnestischen Angaben des Klägers gegenüber den behandelnden und untersuchenden Ärzten widersprechen, ist auch nicht ersichtlich, dass Dr. van Q. den Kläger im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall behandelt und - ggf. welche - von den Gutachten der Dres. M., Gt. und B. sowie des Prof. Dr. Si. und des Dr. St. abweichende Befunde erhoben hat.

4. Aus eben diesen Gründen hat es die Beklagte durch die angefochtenen Bescheide zu Recht abgelehnt, dem Kläger über den 31.03.2016 hinaus Verletztengeld aus Mitteln der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Die angefochtenen Bescheide erweisen sich damit als rechtmäßig, weshalb das Begehren des Klägers erfolglos bleiben musste.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Rechtskraft
Aus
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