L 18 AS 1626/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 39 AS 8018/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1626/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Juli 2017 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 1. April 2017 bis zum 30. September 2017, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in einer monatlichen Gesamthöhe von 309,- EUR zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Verfahren und das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten bewilligt. Der Antragsgegner trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers, über die nach Ablauf der dem Antragsgegner gesetzten Äußerungsfrist zu entscheiden war, ist im tenorierten Umfang begründet; im Übrigen war sie nicht begründet und zurückzuweisen.

Dem Antragsteller steht für den Zeitraum vom 1. April 2017 bis 30. September 2017, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache, ein durch eine Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu sichernder Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu. Der Antragsteller erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Seinem Anspruch steht der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegen

Der Antragsteller erfüllt die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Er ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm § 8 SGB II erwerbsfähig und auch hilfebedürftig nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm § 9 SGB II. Der Antragsteller verfügt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II iVm § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil - (SGB I) auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sein Aufenthalt ist auch rechtmäßig. Nach der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrechts ist von der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen. Die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU wird erst mit dieser Verlustfeststellung begründet (vgl zum Ganzen BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 14 AS 23/10 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 21 Rn 14 mwN).

Der Antragsteller ist auch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen von Leistungen nach dem SGB II zunächst Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 des FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, des Weiteren Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie zuletzt Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

Der Antragsteller ist als rumänischer Staatsangehöriger Ausländer im Sinne dieser Vorschrift. Er ist aber nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG. Er ist auch nicht deswegen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn der Antragsteller ist auf der Grundlage der derzeit feststellbaren Tatsachen als freizügigkeitsberechtigter Arbeitnehmer iSv § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU anzusehen. Arbeitnehmer iSd Freizügigkeitsrechts ist auch derjenige, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes Einkommen verfügt. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 39 EG-Vertrag fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl ua EuGH, Rs 139/85 (Kempf), Slg 1986, 1741, Rn 9 ff; Rs 53/81 (Levin), Slg 1982, 1035, Rn 17; C-213/05 (Geven), Slg 2007, I-6347, Rn 16) Das Bundessozialgericht (BSG) hat eine iS der vorgenannten Rspr bestehende Arbeitnehmereigenschaft bereits bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden mit einem Monatsentgelt iHv 100,- EUR bejaht (vgl BSG aaO Rn 18). Nichts anderes kann im Ergebnis für die hier in Rede stehende, seit 1. September 2016 ausgeübte Beschäftigung im – wechselnden - Umfang von zuletzt 22 Stunden (März 2017), 16 Stunden (April 2017) bzw 20 Stunden (Mai 2017) mtl bei einem monatlichen Entgelt von zuletzt 220,- EUR, 160,- EUR bzw 200,- EUR gelten; zuvor wurden mtl sogar bis 333, 20 EUR erzielt (Oktober 2016). Auch der EuGH sieht hier keine feste Arbeitszeitgrenze, hat indes eine Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden als ausreichend erachtet (vgl Rs C-14/09 vom 4. Februar 2010 (Genc) - juris; vgl auch BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 – 1 C 10/11 – juris – Rn 15). Eine feste Untergrenze ist auch in der höchstrichterlichen Rspr des BSG bislang nicht gezogen worden, auch nicht im Sinne der Rspr des 31. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (vgl ua Beschluss vom 17. Februar 2015 – L 31 AS 3100/14 B ER – juris; dagegen Beschluss des erkennenden Senats vom 27. Februar 2017 – L 18 AS 2884/16 - juris). Dagegen, dass dem Antragsteller die in Rede stehenden Entgelte auch tatsächlich zugeflossen sind, sprechen ebenso wenig triftige Gründe wie für das Vorliegen eine etwaigen Scheinarbeitsverhältnisses.

Hinsichtlich der Höhe hat das Gericht vom mtl Regelsatz iHv 409,- EUR einen Abschlag iHv 200,- EUR mtl vorgenommen, was annähernd dem durchschnittlich bezogenen Nettoentgelt des Antragstellers seit 1. September 2016 entsprechen dürfte. Der vorrangige Einsatz geschützten Einkommens kann nach einer zusprechenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren ausgeglichen werden (vgl BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 -). Vorliegend war im Hinblick auf den vom Antragsteller plausibel geschilderten Nachholbedarf zudem eine Verpflichtung des Antragsgegners bereits ab 1. April 2017 auszusprechen, die zudem wegen der bereits anhängigen Räumungsklage (vgl aber im Übrigen auch BVerfG, Beschluss vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 -) auch die geltend gemachten Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung iHv 100,- EUR mtl umfasst (Gesamtbetrag = mtl 309,- EUR). Der Antrag auf Gewährung weitergehender Leistungen war abzulehnen.

Dem Antragsteller war im Hinblick auf den überwiegenden Erfolg seines Antrags für beide Instanzen Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten zu bewilligen (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -).

Die Kostenentscheidung für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Im PKH-Beschwerdeverfahren sind Kosten kraft Gesetzes nicht zu erstatten (§ 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved