S 5 AL 352/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AL 352/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Löst ein Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss eines Altersteilzeitvertrags, kann er sich auf einen wichtigen Grund für die Arbeitsaufgabe berufen, wenn er im Anschluss an die Altersteilzeit nahtlos in den Ruhestand wechseln will und dies prognostisch möglich erscheint, insbesondere nach der rentenrechtlichen Lage. Unerheblich ist, ob der Arbeitnehmer später entsprechend seiner ursprünglichen Absicht tatsächlich Altersrente beantragt oder ob er seine Pläne für den Ruhestand ändert, z.B. wegen einer neuen Rechtslage.

2) Erlässt die Agentur für Arbeit in einer solchen Konstellation einen Bescheid, mit dem sie zu Unrecht den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe feststellt, kann der Arbeitslose in einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Rücknahme des Sperrzeitbescheids verlangen – und zwar selbst dann, wenn die Sperrzeit zeitlich vor dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.9.2017 (B 11 AL 25/16 R) liegt; § 330 Abs. 1 SGB III steht dem nicht entgegen.
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 29.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.1.2018 verpflichtet, den Sperrzeitbescheid vom 28.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 zurückzunehmen und der Klägerin unter Änderung des Bescheids vom 2.5.2017 in der Gestalt des Bescheids vom 11.5.2017, des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 und des Bescheids vom 18.5.2017 Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe auch für die Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 zu bewilligen. 2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist eine Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe.

Die Klägerin wurde am xx. Mai 1954 geboren. Seit dem 1.9.1969 war sie bei der Fa. D. beschäftigt. Am 20.11.2006 schloss die Klägerin mit ihrer Arbeitgeberin einen Altersteilzeitvertrag. Darin vereinbarten die Parteien Altersteilzeit im Blockmodell mit einer Arbeitsphase vom 1.6.2009 – 31.5.2013 und einer Freistellungsphase ab dem 1.6.2013. Mit Ablauf des 31.5.2017 sollte das Arbeitsverhältnis enden.

Am 28.3.2017 meldete sich die Klägerin zum 1.6.2017 arbeitslos. Dabei gab sie u.a. an, im Jahr 2014 habe sie die Fa. D. um eine Verlängerung der Altersteilzeit um vier Monate gebeten; dies habe die Arbeitgeberin aus betrieblichen Gründen abgelehnt. Ab dem 1.10.2017 werde sie, die Klägerin, Altersrente beziehen.

Mit Bescheid vom 28.4.2017 stellte die Beklagte fest, in der Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 sei eine zwölfwöchige Sperrzeit eingetreten; während dieser Zeit ruhe der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld. Zur Begründung gab sie an, die Klägerin habe ihr Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss eines Aufhebungsvertrags gelöst. Sie habe voraussehen müssen, dass sie dadurch arbeitslos wird.

Mit Bescheid vom 2.5.2017 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld in Höhe von 30,76 EUR pro Tag für die Zeit ab dem 24.8.2017, also erst im Anschluss an die festgestellte Sperrzeit.

Hiergegen legte die Klägerin am 9.5.2017 Widerspruch ein. Sie machte geltend, sie habe ursprünglich beabsichtigt, unmittelbar nach dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses ab dem 1.6.2017 in Rente zu gehen. Im Jahre 2014 habe sich dann aber die Rechtslage geändert: Sie habe nun die Möglichkeit, Altersrente ohne Abschläge zu beziehen, allerdings erst ab dem 1.10.2017. Angesichts dessen habe sie ihre Planung zum Rentenbeginn umgestellt.

Wegen eines hier nicht streitigen Umstands (Krankenversicherungsverhältnis) erließ die Beklagte am 11.5.2017 einen Änderungsbescheid; die festgestellte Sperrzeit und die Höhe des festgestellten Leistungsbetrags blieben gleich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.5.2017 wies die Beklagte sodann den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie ergänzend aus, bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags am 20.11.2006 habe für die Klägerin keine konkrete Aussicht auf eine Beschäftigung unmittelbar im Anschluss an die Altersteilzeit bestanden. Sie habe also die Arbeitslosigkeit zumindest grob fahrlässig herbeigeführt. Einen wichtigen Grund für die Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses habe die Klägerin nicht nachgewiesen. Der Gesetzgeber habe mit der Altersteilzeit einen nahtlosen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen wollen – ohne einen Zwischenschritt über die Arbeitslosigkeit. Angesichts dessen fehle es an einem wichtigen Grund für die Arbeitsaufgabe, wenn sich der Arbeitnehmer nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses arbeitslos meldet, anstatt planmäßig Altersrente, ggfs. mit Abschlägen, zu beantragen. Zu Recht habe sie daher den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit festgestellt. Es liege auch keine besondere Härte vor, die eine Verkürzung der Sperrzeit rechtfertigen könnte. Denn es gehöre zum allgemeinen Lebensrisiko, dass sich durch eine nachträgliche Rechtsänderung (hier: im Rentenversicherungsrecht) eine günstigere Gestaltungsmöglichkeit ergibt.

Mit Bescheid vom 18.5.2017 erhöhte die Beklagte die bewilligten Leistungen ab dem 24.8.2017 geringfügig auf 30,80 EUR pro Tag.

Gut vier Monate später, am 22.9.2017, erhob die Klägerin bei der Beklagten "erneut Widerspruch" gegen den Sperrzeitbescheid vom 28.4.2017. Sie machte geltend, mit Urteil vom 12.9.2017 habe das Bundessozialgericht entschieden, es trete keine Sperrzeit ein, wenn der Arbeitnehmer bei Abschluss eines Altersteilzeitvertrags noch beabsichtigt, nahtlos von der Freistellungsphase der Altersteilzeit in die Rente zu wechseln, später aber davon Abstand nimmt, um Altersrente ohne Abschlag zu beziehen. So verhalte es sich auch in ihrem Fall.

Die Beklagte wertete das Schreiben der Klägerin als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X und lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 29.9.2017 ab. Zur Begründung gab sie an, das Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.9.2017 sei noch nicht in vollem Wortlaut bekannt. Angesichts dessen sei noch unklar, in welchen Fällen eine Sperrzeit nach Altersteilzeit eintritt.

Seit dem 1.10.2017 bezieht die Klägerin von der DRV Bund Altersrente für besonders langjährig Versicherte.

Am 12.10.2017 legte die Klägerin gegen den Bescheid vom 29.9.2017 Widerspruch ein. Sie machte ergänzend geltend, die Initiative zum Abschluss des Altersteilzeitvertrags sei nicht von ihr ausgegangen, sondern von der Fa. D ... Von der DRV Bund habe sie seinerzeit erfahren, dass sie mit 63 Jahren in Altersrente gehen kann – wenn auch mit Abschlägen. Vor diesem Hintergrund habe sie die Vereinbarung unterzeichnet.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8.1.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, lägen die in § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, so sei der Verwaltungsakt gemäß § 330 Abs. 1 SGB III nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen. Das Bundessozialgericht habe in seinem Urteil vom 12.9.2017 "die Sperrzeitvorschriften in Bezug auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes bei Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung" anders ausgelegt als sie, die Beklagte. Sie erkenne diese Entscheidung als ständige Rechtsprechung ab dem 12.9.2017 an. Eine Rücknahme bestandskräftiger Sperrzeitbescheide komme daher nur für die Zeit ab dem 12.9.2017 in Betracht. Im Falle der Klägerin habe die bestandskräftig festgestellte Sperrzeit bereits mit dem 23.8.2017 geendet. Angesichts dessen sei die beantragte Korrektur ausgeschlossen.

Mit der am 29.1.2018 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter. Sie trägt nochmals vor, sie habe ursprünglich geplant, unmittelbar nach der Altersteilzeit in Rente zu gehen, und zwar mit Abschlägen. Es habe daher ein wichtiger Grund für die Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses bestanden. Erst im Nachhinein, nach Änderung der Rechtslage im Jahr 2014, habe sie von ihrer Planung Abstand genommen. Angesichts dessen sei keine Sperrzeit eingetreten. Die Beklagte müsse den rechtswidrigen Sperrzeitbescheid nach § 44 SGB X zurücknehmen; § 330 Abs. 1 SGB III stehe dem nicht entgegen: Fraglich erscheine bereits, ob § 330 Abs. 1 SGB III überhaupt im Hinblick auf einen Sperrzeitbescheid anwendbar ist; denn ein solcher Bescheid habe weder eine Sozialleistung noch die Erhebung von Beiträgen zum Gegenstand. Jedenfalls seien die Voraussetzungen des § 330 Abs. 1 SGB III nicht erfüllt. Mit seinem Urteil vom 12.9.2017 habe der 11. Senat des Bundessozialgerichtes keine bestehende Rechtsprechung geändert. Vielmehr habe er an ein älteres Urteil des 7. Senats vom 21.7.2009 (B 7 AL 6/08 R) angeknüpft und dieses konkretisiert. Schon im Urteil aus dem Jahr 2009 habe das Bundessozialgericht entschieden, eine Sperrzeit trete nicht ein, wenn der Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss einer Altersteilzeitvereinbarung löst und dabei die Absicht hat, nach der Altersteilzeit nahtlos in Rente zu wechseln.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29.9.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.1.2018 zu verpflichten, den Sperrzeitbescheid vom 28.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 zurückzunehmen und ihr unter Änderung des Bescheids vom 2.5.2017 in der Gestalt des Bescheids vom 11.5.2017, des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 und des Bescheids vom 18.5.2017 Arbeitslosengeld in gesetzlicher Höhe auch für die Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihren Widerspruchsbescheid und trägt ergänzend vor, bis zum Urteil des 11. Senats vom 12.9.2017 sei sie noch davon ausgegangen, "die planwidrige Herbeiführung der Arbeitslosigkeit nach einer Beschäftigung in Altersteilzeit" stelle keinen wichtigen Grund dar. Dies ergebe sich auch aus einem internen Vermerk vom 24.3.2014, den alle ihre Mitarbeiter im Bereich Arbeitslosengeld erhalten hätten. Erst im Anschluss an das Urteil vom 12.9.2017 habe es eine neue Weisungslage mit geänderten fachlichen Weisungen zu § 159 SGB III gegeben.

Das Gericht hat die Klägerin im Rahmen eines Erörterungstermins am 16.4.2018 ergänzend angehört. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Rücknahme des Sperrzeitbescheids und Bewilligung von Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 (dazu a); § 330 Abs. 1 SGB III steht dem nicht entgegen (dazu b).

a) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 S. 1 SGB X).

Gemessen hieran hat die Klägerin einen Anspruch auf Rücknahme des Sperrzeitbescheids vom 28.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 sowie Änderung des Bescheids vom 2.5.2017 in der Gestalt des Bescheids vom 11.5.2017, des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 und des Bescheids vom 18.5.2017. Die Voraussetzungen des § 137 Abs. 1 SGB III für einen Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld in der Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 waren unstreitig erfüllt. Zu Unrecht hat die Beklagte für diesen Zeitraum keine Leistungen erbracht. Ihre Feststellung, in der Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 sei eine Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe eingetreten, beruhte auf einer unrichtigen Anwendung des Rechts:

Hat der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben, ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit. Versicherungswidriges Verhalten liegt u.a. vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (§ 159 Abs. 1 S. 1 und 2 Nr. 1 SGB III).

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Zwar hat sich die Klägerin versicherungswidrig verhalten (dazu aa); hierfür hatte sie aber einen wichtigen Grund (dazu bb).

aa) Durch den Abschluss des Altersteilzeitvertrags hat die Klägerin ihr vormals unbefristetes Beschäftigungsverhältnis mit der Fa. D. zum 31.5.2017 gelöst. Diese Vereinbarung war auch ursächlich für die Arbeitslosigkeit ab dem 1.6.2017. Die Klägerin handelte zudem mindestens grob fahrlässig; denn bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags am 20.11.2006 hatte sie keine konkrete Aussicht auf einen Anschlussarbeitsplatz.

bb) Allerdings war die Arbeitsaufgabe der Klägerin durch einen wichtigen Grund gerechtfertigt.

Ob ein wichtiger Grund vorliegt, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Es kommt darauf an, ob dem Arbeitnehmer bei Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden konnte. Löst der Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss eines Altersteilzeitvertrags, so kann er sich auf einen wichtigen Grund berufen – allerdings nur, wenn er nach der Altersteilzeit nahtlos, ohne "Umweg" über den Bezug von Arbeitslosengeld, in den Ruhestand wechseln will und dies auch prognostisch möglich erscheint, insbesondere nach der rentenrechtlichen Lage. Mit der Einführung der Altersteilzeit wollte der Gesetzgeber einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen. Macht ein Arbeitnehmer von dieser Möglichkeit durch Abschluss eines Altersteilzeitvertrags Gebrauch, ist ihm sein Verhalten nicht vorzuwerfen (BSG, Urteil vom 21.7.2009, B 7 AL 6/08 R, Rdnr. 12 ff. – nach Juris; Urteil vom 12.9.2017, B 11 AL 25/16 R, Rdnr. 17 ff. – nach Juris; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.2.2014, L 13 AL 283/12, Rdnr. 28 – nach Juris).

Entgegen der Auffassung der Beklagten bei Erlass des Sperrzeitbescheids kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer im Anschluss an die Altersteilzeit seine ursprüngliche Absicht auch umsetzt und tatsächlich nahtlos Altersrente beantragt. Denn für die Prüfung des wichtigen Grundes sind ausschließlich die Verhältnisse bei Lösung des Beschäftigungsverhältnisses maßgeblich, hier also bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags (BSG, Urteil vom 17.11.2005, B 11a/11 AL 69/04 R, Rdnr. 16 – nach Juris; Urteil vom 21.7.2009, B 7 AL 6/08 R, Rdnr. 12 – nach Juris; Urteil vom 12.9.2017, B 11 AL 25/16 R, Rdnr. 22 – nach Juris). Weder kann ein zu diesem Zeitpunkt bestehender wichtiger Grund für die Arbeitsaufgabe nachträglich entfallen noch lässt sich umgekehrt die Arbeitsaufgabe durch einen erst später eintretenden Umstand rückwirkend rechtfertigen (BSG, Urteil vom 17.11.2005, B 11a/11 AL 69/04 R, Rdnr. 18 – nach Juris; Urteil vom 12.9.2017, B 11 AL 25/16 R, Rdnr. 21 ff. – nach Juris; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB III, § 159 Rdnr. 178). Das Verhalten des Arbeitnehmers nach Abschluss des Altersteilzeitvertrags ist allenfalls insoweit von Interesse, als es einen Rückschluss auf seine Motivation zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zulässt – mithin für die Beweiswürdigung.

Die Klägerin hat im Erörterungstermin vorgetragen, im November 2006 habe sie in K. gewohnt. Seinerzeit sei sie von der Fa. D. zu einer Geschäftsstelle in M. abgeordnet gewesen; dort habe sie dauerhaft arbeiten sollen. Die Aussicht auf fortgesetztes Pendeln nach M. habe sie bewogen, das Angebot ihrer Arbeitgeberin anzunehmen, einen Vertrag über Altersteilzeit zu schließen. Bei Abschluss des Vertrags am 20.11.2006 habe sie noch beabsichtigt, nahtlos nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses am 31.5.2017 im Alter von dann 63 Jahren in Rente zu gehen. Dies erscheint der Kammer glaubhaft: Nach Angaben der Klägerin im Erörterungstermin hat sie am 15.11.2006 – also einige Tage vor Vertragsschluss – von der Fa. D. eine Aufstellung über die zu erwartenden Leistungen erhalten. Die Hauptverwaltung ihrer Arbeitgeberin habe sie zudem telefonisch über die rentenrechtliche Situation informiert; deren Angaben habe sie auf der Aufstellung notiert. Außerdem habe sie bei der DRV Bund angerufen; die DRV habe ihr telefonisch mitgeteilt, sie könne mit 63 Jahren in Rente gehen, allerdings nur mit einem Abschlag in Höhe von 7,2 %. Kurz zuvor, im Juli 2006, habe sie bereits eine turnusmäßige Rentenauskunft erhalten. Die Darstellung der Klägerin wird bestätigt durch die Aufstellung der Fa. D. vom 15.11.2006 mit den handschriftlichen Notizen, die die Klägerin dem Gericht vorgelegt hat. Darin ist u.a. festgehalten, die Klägerin könne mit 63 Jahren in Rente gehen; zu rechnen sei dann mit einem Abschlag in Höhe von 7,2 %.

Aufgrund der Rechtslage bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags am 20.11.2006 durfte die Klägerin auch davon auszugehen, dass sie ab dem 1.6.2017 nahtlos Altersrente beziehen kann; ihre damalige Absicht stand also im Einklang mit dem objektiven Rentenrecht: Gemäß § 36 SGB VI (in der Fassung des Gesetzes vom 19.2.2002, BGBl. I Seite 754) konnten Versicherte seinerzeit eine Altersrente für langjährig Versicherte vor Vollendung des 65. Lebensjahres vorzeitig in Anspruch nehmen, wenn sie (1.) das 62. Lebensjahr vollendet und (2.) die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Diese Voraussetzungen hätten bei der Klägerin zum 1.6.2017 vorgelegen. Allerdings hätte die Klägerin für die vorzeitige Inanspruchnahme einen Abschlag in Höhe von 7,2 % in Kauf nehmen müssen (vgl. § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 a) SGB VI).

Zu keinem anderen Ergebnis führt der Umstand, dass die Klägerin dann am 2.3.2017 Altersrente erst zum 1.10.2017 beantragt hat. Daraus lässt sich nicht schlussfolgern, die Klägerin habe schon bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags beabsichtigt, erst zum 1.10.2017 in Rente zu gehen, also erst vier Monate nach dem Ende ihrer Beschäftigung bei der Fa. D ... Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe ihre ursprüngliche Absicht nachträglich geändert – und zwar im Hinblick auf die neue rentenrechtliche Lage, die so bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags noch nicht bestanden habe. Dieser Vortrag erscheint der Kammer plausibel: Zwar hätte die Klägerin nach geltendem Recht weiterhin zum 1.6.2017 vorzeitig Altersrente für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen können (§ 236 Abs. 1 SGB VI), nach wie vor mit einem Abschlag von 7,2 % (§ 236 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 i.V.m. § 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 a) SGB VI). Seit dem 1.7.2014 besteht aber für Versicherte des Jahrgangs 1954 – also auch für die Klägerin – darüber hinaus die Möglichkeit, ab einem Alter von 63 Jahren und 4 Monaten Altersrente für besonders langjährig Versicherte zu beziehen – und zwar ohne Abschlag (§ 236b Abs. 1 und 2 S. 2 SGB VI in der Fassung des Gesetzes vom 23.6.2014, BGBl. I Seite 787). Angesichts dieser wirtschaftlich klar vorteilhaften Möglichkeit vermag die Kammer nachzuvollziehen, dass die Klägerin ihren ursprünglichen Plan geändert hat und nun erst vier Monate später Altersrente beantragen wollte. Bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags am 20.11.2006 gab es die Altersrente für besonders langjährig Versicherte (ohne Abschlag) noch nicht. Vor diesem Hintergrund spricht das Verhalten der Klägerin für einen nachträglichen Sinneswandel. Wie ausgeführt, hat indes eine nachträgliche Änderung der Sachlage keinen Einfluss mehr auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes.

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Rücknahme des Sperrzeitbescheids und die rückwirkende Änderung des Bewilligungsbescheids nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht durch § 330 Abs. 1 SGB III ausgeschlossen.

Liegen die in § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen (§ 330 Abs. 1 SGB III).

aa) Nach Auffassung der Kammer ist § 330 Abs. 1 SGB III nur anwendbar, wenn bei Erlass des rechtswidrigen Bescheids eine ständige Rechtsprechung bestand, die die Verwaltungspraxis der Agentur für Arbeit rechtfertigte, und wenn sich die ständige Rechtsprechung danach geändert hat; eine Rücknahme ist dann auf die Zeit ab der Rechtsprechungsänderung beschränkt. Die Regelung findet hingegen keine Anwendung, wenn es bei Erlass des rechtswidrigen Bescheids noch keine ständige Rechtsprechung gab, auf die die Agentur für Arbeit ihre Auslegung der Norm stützen konnte (so wohl auch BSG, Urteil vom 9.12.2003, B 7 AL 22/03 R, Rdnr. 32 – nach Juris; Hessisches LSG, Urteil vom 27.6.2003, L 10 AL 472/00, Rdnr. 18 – nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.10.2013, L 10 AS 1654/13 B PKH, Rdnr. 4 – nach Juris; Düe in: Brand, SGB III, 7. Aufl., § 330 Rdnr. 6). Durch § 330 Abs. 1 SGB III wird die Herstellung gesetzeskonformer Verhältnisse in spezifischer Weise erschwert. Dies erscheint sozialpolitisch fragwürdig; denn es ist kaum nachvollziehbar, warum sich Fehler bei der Anwendung des SGB III weniger einschneidend auswirken sollen als Fehler in anderen Bereichen des Sozialrechts. Angesichts dessen ist § 330 Abs. 1 SGB III generell eng auszulegen (BSG, Urteil vom 8.2.2007, B 7a AL 2/06 R, Rdnr. 16 – nach Juris; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB III, § 330 Rdnr. 201). Die Einschränkungen des § 330 Abs. 1 SGB III gelten daher nur im Ausnahmefall – und zwar dann, wenn die Verwaltungspraxis der Agentur für Arbeit seinerzeit, bei Erlass des rechtswidrigen Bescheids, von einer ständigen Rechtsprechung abgesichert war; andernfalls besteht kein Anlass für eine Privilegierung der Agentur für Arbeit (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).

Ausgehend hiervon ist § 330 Abs. 1 SGB III im vorliegenden Fall nicht anzuwenden. Denn bei Erlass des Sperrzeitbescheids vom 28.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 sowie des Bewilligungsbescheids vom 2.5.2017 in der Gestalt des Bescheids vom 11.5.2017, des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 und des Bescheids vom 18.5.2017 gab es unstreitig jedenfalls keine ständige Rechtsprechung, die die Verwaltungspraxis der Beklagten gestützt hat – weder zu der Frage, ob der Abschluss eines Altersteilzeitvertrags einen wichtigen Grund für die Aufgabe eines Beschäftigungsverhältnisses darstellen kann, noch zu der Frage, an welchem Zeitpunkt der wichtige Grund vorgelegen haben muss. Auch die Beklagte selbst behauptet nicht, ihre Auslegung des § 159 SGB III sei bei Erlass der streitigen Bescheide von einer ständigen Rechtsprechung abgesichert gewesen (die sich erst später geändert habe). Vielmehr trägt sie vor, eine ständige Rechtsprechung zu den relevanten Fragen sei überhaupt erst danach entstanden, nämlich am 12.9.2017. Bei der gebotenen engen Auslegung des § 330 Abs. 1 SGB III genügt dies allerdings nicht, um eine rückwirkende Korrektur für die Zeit vor dem 12.9.2017 auszuschließen.

bb) Im Übrigen führte es zu keinem anderen Ergebnis, legte man § 330 Abs. 1 SGB III weniger eng aus. Denn die Verwaltungspraxis der Beklagten war von der ständigen Rechtsprechung nicht nur nicht gedeckt, vielmehr widersprach sie ihr sogar – und zwar nicht erst seit dem 12.9.2017, sondern auch schon bei Erlass des Sperrzeitbescheids vom 28.4.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 sowie des Bewilligungsbescheids vom 2.5.2017 in der Gestalt des Bescheids vom 11.5.2017, des Widerspruchsbescheids vom 15.5.2017 und des Bescheids vom 18.5.2017. Denn bereits seit dem 21.7.2009 gab es zu den hier relevanten Fragen eine ständige Rechtsprechung (an die sich die Beklagte nicht gehalten hat). Selbst bei einem weiten Verständnis des § 330 Abs. 1 SGB III wäre daher im vorliegenden Fall eine rückwirkende Korrektur für die Zeit vom 1.6. – 23.8.2017 möglich.

Eine ständige Rechtsprechung im Sinne des § 330 Abs. 1 SGB III wird nur durch das Bundessozialgericht (oder ggf. ein anderes oberstes Bundesgericht) begründet, nicht hingegen durch Sozial- und Landessozialgerichte. Für eine "ständige" Rechtsprechung kann bereits ein einziges Urteil des Bundessozialgerichts genügen, wenn die streitige Rechtsfrage damit hinreichend geklärt ist (BSG, Urteil vom 21.6.2011, B 4 AS 118/10 R, Rdnr. 18 – nach Juris). Weitere Entscheidungen sind dann entbehrlich; es müssen sich also nicht alle mit dem Fachgebiet befassten Senate des Bundessozialgerichts geäußert haben. Eine Rechtsfrage ist hinreichend geklärt, sofern die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht mit gewichtigen Gründen in Frage gestellt wird, die Rechtslage danach also nicht mehr umstritten ist (BSG, Urteil vom 29.6.2000, B 11 AL 99/99 R, Rdnr. 18 – nach Juris).

Bereits mit Urteil vom 21.7.2009 (B 7 AL 6/08 R) hatte das Bundesozialgericht entschieden, löse ein Arbeitnehmer sein Beschäftigungsverhältnis durch Abschluss eines Altersteilzeitvertrags, so könne er sich auf einen wichtigen Grund berufen, wenn er nach der Altersteilzeit nahtlos, ohne "Umweg" über den Bezug von Arbeitslosengeld, in den Ruhestand wechseln will und dies auch prognostisch möglich erscheint (a.a.O., Rdnr. 12 ff. – nach Juris). Soweit ersichtlich, war diese Entscheidung danach nicht ernsthaft umstritten. Die Literatur hat dem Urteil einhellig zugestimmt (vgl. die Nachweise bei BSG, Urteil vom 12.9.2017, B 11 AL 25/16 R, Rdnr. 17 – nach Juris).

Im selben Urteil vom 21.7.2009 hatte das Bundessozialgericht ausgeführt, für die Prüfung des wichtigen Grundes seien die Verhältnisse bei Lösung des Beschäftigungsverhältnisses maßgeblich, also bei Abschluss des Altersteilzeitvertrags (a.a.O., Rdnr. 12 – nach Juris). Dies hatte das Bundessozialgericht im Übrigen schon früher so entschieden, nämlich mit Urteil vom 17.11.2005 (B 11a/11 AL 69/04 R, Rdnr. 16 und 18 – nach Juris). Gegen die Annahme des Bundessozialgerichtes, der wichtige Grund sei anhand der Verhältnisse zur Zeit der Arbeitsaufgabe zu bewerten, gab es im Nachgang zum Urteil vom 21.7.2009 keine gewichtigen Einwendungen. Diese Rechtsfrage war also seither geklärt (so sie dies nicht schon vorher war).

Auch die Beklagte hatte die Aussagen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 21.7.2009 als solche nicht infrage gestellt – sondern offenkundig nur missverstanden: Das Bundesozialgericht hatte ausgeführt, ein wichtiger Grund bestehe "nur dann, wenn nach der Altersteilzeit auch tatsächlich eine Rente beantragt werden soll" (B 7 AL 6/08 R, Rdnr. 14 – nach Juris). Verstanden hatte die Beklagte dies wohl als " ... beantragt wird". So hatte sie auf Seite 2 eines internen Vermerks vom 24.3.2014, den sie an alle ihre Mitarbeiter im Bereich Arbeitslosengeld gegeben haben will, ausdrücklich den Passus aus dem Urteil des Bundessozialgerichts wiedergegeben und daran anknüpfend ausgeführt, "demnach" liege ein wichtiger Grund nicht vor, wenn sich der Arbeitslose nach Beendigung der Beschäftigung in Altersteilzeit arbeitslos meldet, anstatt planmäßig Altersrente zu beziehen. Diese Schlussfolgerung lässt das Urteil vom 21.7.2009 aber gerade nicht zu. Denn in dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall hatte der Arbeitslose im Anschluss an die Altersteilzeit nicht nahtlos Rente beantragt, sondern sich arbeitslos gemeldet (vgl. zum Sachverhalt: B 7 AL 6/08 R, Rdnr. 2 – nach Juris); dennoch hat das Bundessozialgericht einen wichtigen Grund für möglich gehalten. Wer im unmittelbaren Anschluss an die Altersteilzeit Rente bezieht und sich nicht arbeitslos meldet, hat schon dem Grunde nach keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld; auf eine Sperrzeit und einen etwaigen wichtigen Grund kann es dann gar nicht ankommen.

Angesichts dessen stand die Verwaltungspraxis der Beklagten auch schon im streitigen Zeitraum im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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