L 7 SO 3980/19 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SO 3953/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 3980/19 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ein Anordnungsgrund i.S.d. § 86b Abs. 2 SGG besteht z.B. dann nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel und zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann und sich den Ausführungen des Antragstellers keine gewichtigen Anhaltspunkte entnehmen lassen, dass die finanziellen Kapazitäten vollständig ausgeschöpft sind.
2. Hat der Antragsteller gegen den Vermieter Darlehensrückzahlungsansprüche, die er gegen dessen Mietzinsforderungen mit der Folge aufrechnen kann, dass die Mietzinsforderungen erlöschen würden und eine wegen Zahlungsverzugs ggf. ausgesprochene fristlose Kündigung unwirksam werden würde, so ist regelmäßig die Unterkunft des Antragstellers nicht gefährdet und es fehlt an einem Anordnungsgrund.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 18. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die nach §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Gegenstand des am 4. Oktober 2019 von dem Antragsteller beim Sozialgericht Freiburg (SG) anhängig gemachten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (S 9 SO 3953/19 ER) ist sein Begehren auf eine (vorläufige) Gewährung von Sozialhilfeleistungen in Form der Übernahme von Schulden aus dem Mietverhältnis mit der H. Consulting GmbH in Höhe von 8.187,78 EUR nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) - Sozialhilfe - (SGB XII), nachdem der Antragsgegner durch Bescheid vom 27. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. November 2019 laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab 1. Februar 2017 in Form eines Darlehens (einschließlich der kopfteiligen Aufwendungen für Abfall, Wasser/Abwasser, Grundsteuer, Gebäudeversicherung und Heizung) gewährt und durch Bescheid vom 1. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. November 2019 die Übernahme rückständiger Nebenkosten abgelehnt hatte. Das SG hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 18. Oktober 2019 das einstweilige Rechtsschutzbegehren abgelehnt. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde.

2. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1, für Vornahmesachen in Abs. 2. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Nach § 86b Abs. 3 SGG sind die Anträge nach den Absätzen 1 und 2 schon vor Klageerhebung zulässig.

Hinsichtlich der begehrten vorläufigen Leistungsgewährung kommt allein der Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG in Betracht. Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zunächst die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs voraus. Die Begründetheit des Antrags wiederum hängt vom Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ab (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Eine einstweilige Anordnung darf nur erlassen werden, wenn beide Voraussetzungen gegeben sind. Dabei betrifft der Anordnungsanspruch die Frage der Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs, während der Anordnungsgrund nur bei Eilbedürftigkeit zu bejahen ist. Die Anordnungsvoraussetzungen, nämlich der prospektive Hauptsacheerfolg (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).

3. Die Anordnungsvoraussetzungen für das einstweilige Rechtsschutzgesuch sind auch im Beschwerdeverfahren nicht gegeben. Der Antragsteller hat jedenfalls keinen Anordnungsgrund, nämlich die besondere Dringlichkeit des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens, glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund besteht, wenn der Betroffene bei Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Gefahr laufen würde, seine Rechte nicht mehr realisieren zu können oder gegenwärtige schwere, unzumutbare, irreparable rechtliche oder wirtschaftliche Nachteile erlitte. Die individuelle Interessenlage des Betroffenen, unter Umständen auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragsgegners, der Allgemeinheit oder unmittelbar betroffener Dritter muss es unzumutbar erscheinen lassen, den Betroffenen zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Danach besteht ein Anordnungsgrund z.B. dann nicht, wenn der Antragsteller jedenfalls gegenwärtig auf eigene Mittel oder zumutbare Hilfe Dritter zurückgreifen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 6. März 2017 - L 7 SO 420/17 ER-B - juris Rdnr. 8 m.w.N.; Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 21. September 2016 - 1 BvR 1825/16 - juris Rdnr. 4) und sich den Ausführungen des Antragstellers keine gewichtigen Anhaltspunkte entnehmen lassen, dass die finanziellen Kapazitäten vollständig ausgeschöpft sind (BVerfG, Beschluss vom 12. September 2016 - 1 BvR 1630/16 - juris Rdnr. 12). Wie bereits dargelegt, beurteilt sich in einem auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichteten Verfahren das Vorliegen eines Anordnungsgrundes grundsätzlich nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Antrag entscheidet, im Beschwerdeverfahren mithin nach dem Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Vorliegend hat der Antragsteller nicht dargetan, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass er den geltend gemachten Bedarf nicht aus eigenen finanziellen Mitteln, insbesondere aus seinem Vermögen, decken kann. Dabei ist zunächst zu beachten, dass nach summarischer Prüfung der laufende Bedarf des Antragstellers durch Leistungen des Antragsgegners (Bescheid vom 27. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. November 2019) gedeckt sein dürfte. Insbesondere gewährt der Antragsgegner nach Wechsel des Anbieters von Haushalts- und Heizstrom auch Leistungen für Heizung in Höhe des kopfteiligen Anteils an den ab 1. Dezember 2019 zu entrichtenden Abschlagzahlungen.

Weiterhin ist die Unterkunft des Antragstellers, eine 5-Zimmer-Wohnung im T.weg ... in ... L., nicht gefährdet. Diese Wohnung hat der Antragsteller für die Zeit ab 1. Mai 2013 gemeinsam mit seiner Ehefrau von der H. Consulting GmbH für eine monatliche Kaltmiete in Höhe von 930,00 EUR zuzüglich Heizkostenvorauszahlung in Höhe von 185,00 EUR und Nebenkostenvorauszahlung in Höhe von 165,00 EUR gemietet. Darauf hat weder der Antragsteller noch seine Ehefrau seit Beginn des Mietverhältnisses Zahlungen auf die Mietforderung einschließlich Heiz- und Nebenkosten geleistet (vgl. z.B. Zahlungsaufstellung der H. Consulting GmbH vom 23. August 2019). Erst seit der Erbringung von Grundsicherungsleistungen an den Antragsteller sowie von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - an dessen Ehefrau sind für die Zeit ab Februar 2017 (Teil )Zahlungen an die H. Consulting GmbH geflossen, wobei die Beteiligten über die Höhe der zu berücksichtigenden Bedarfe für Unterkunft und Heizung streiten. Unabhängig davon, ob der Antragsteller und seine Ehefrau aufgrund des Mietvertrages vom 14. Mai 2013 in der Fassung vom 17. April 2016 Zahlungen für ihre Unterkunft tatsächlich geleistet haben oder einer wirksamen, nicht dauerhaft gestundeten Mietzinsforderung ausgesetzt sind (vgl. nur Nguyen jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 (Stand 28. Februar 2018), § 35 Rdnrn. 32 ff.), ist zu beachten, dass der Antragsteller nach seinem Vorbringen über erhebliche Vermögenswerte verfügt, mit denen er die Forderungen der Vermieterin erfüllen kann. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Der Antragsteller ist Mitgesellschafter (50 %) und - neben dem weiteren Gesellschafter-Geschäftsführer - alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Vermieterin H. Consulting GmbH, die u.a. Eigentümerin der von dem Antragsteller und seiner Ehefrau gemieteten Wohnung ist. Nach den Angaben des Antragstellers und der H. Consulting GmbH (vgl. z.B. Schreiben vom 28. Februar 2017) hat der Antragsteller der GmbH Gesellschafterdarlehen in Höhe von insgesamt 414.522,16 EUR (Stand 28. Februar 2017) gewährt, die aus laufenden Überschüssen der Gesellschaft oder aus dem Verkauf der Immobilien der GmbH zu tilgen sind. Nachdem soweit ersichtlich - die H. Consulting GmbH schon seit einigen Jahren wirtschaftlich inaktiv ist und keine Überschüsse erwirtschaftet, hat der Antragsteller nach seinen Angaben mit der GmbH eine "Verrechnung" der mietvertraglich vereinbarten monatlichen Kaltmiete in Höhe von 930,00 EUR mit seinen Darlehensrückzahlungsansprüchen vereinbart (vgl. Schreiben vom 9. Juli 2017). Nach seinem eigenen Vorbringen verfügt der Antragsteller damit in Gestalt der Rückzahlungsansprüche aus den Gesellschafterdarlehen (vgl. § 488 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 Satz 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sowie § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbH-Gesetz) über Vermögen i.S.d. § 90 Abs. 1 SGB XII. Vermögen sind dabei alle beweglichen und unbeweglichen Güter und Rechte in Geld oder Geldeswert; umfasst werden auch Forderungen bzw. Ansprüche gegen Dritte, soweit sie nicht normativ dem Einkommen zuzurechnen sind. Das Vermögen umfasst die Summe aller aktiven Vermögenswerte (z.B. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 18. Februar 2010 - B 4 AS 28/09 R - juris Rdnr. 22). Alle aktiven Vermögenswerte müssen grundsätzlich zur Sicherung des Lebensunterhaltes eingesetzt werden. Deshalb erfordert die Bedürftigkeitsprüfung im SGB XII keine Saldierung aller Aktiva und Passiva. Vielmehr sind alle Vermögensbestandteile einzeln zu betrachten. Zu berücksichtigen ist nur das tatsächlich vorhandene Vermögen (Senatsurteil vom 4. August 2016 - L 7 SO 1394/16 - juris Rdnr. 32; Senatsurteil vom 25. September 2019 - L 7 SO 4766/17 - juris Rdnr. 48). Die Darlehensrückzahlungsansprüche des Antragstellers, die die maßgebliche Freibetragsgrenze weit übersteigen, sind nach summarischer Prüfung auch verwertbar. Unabhängig von der Frage, ob es dem Antragsteller tatsächlich und rechtlich möglich ist, die Darlehensrückzahlungsansprüche in voller Höhe gegenüber der H. Consulting GmbH zeitnah zu realisieren, dürfte es ihm jedenfalls tatsächlich und rechtlich möglich sein, gegenüber Mietzinsforderungen einschließlich Neben- und Heizkostenforderungen der H. Consulting GmbH aufzurechnen (§§ 387, 388 Satz 1 BGB) mit der Folge, dass die Mietzinsforderungen der H. Consulting GmbH erlöschen (§ 389 BGB). Der vom Antragsteller vorgelegte "Wohnungs-Mietvertrag" vom 17. April 2016 enthält keinerlei vertraglichen Ausschluss einer Aufrechnung gegen Forderungen des Vermieters (vgl. § 556b Abs. 2 BGB). Eine Aufrechnung durch den Antragsteller hätte zur Folge, dass die mit Schreiben vom 2. Oktober 2019 durch die H. GmbH erklärte fristlose Kündigung des Mietvertrages wegen Zahlungsverzugs nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB gem. § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB unwirksam werden würde. Denn die Aufrechnung mit Gegenforderungen des Mieters ist eine Art der Erfüllung und führt zur "Befriedigung" i.S.d. § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB (z.B. Blank in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 14. Aufl. 2019, § 569 Rdnr. 43). Erforderlich ist lediglich, dass die Aufrechnung innerhalb der Schonfrist erklärt wird. Diese hat mangels Rechtshängigkeit einer Räumungsklage noch gar nicht begonnen. Mithin hat es der Antragsteller selbst in der Hand, die Mietzinsforderungen der H. Consulting GmbH durch Erklärung einer Aufrechnung mit seinen Darlehensrückforderungsansprüchen zu befriedigen und der ausgesprochenen Kündigung die Grundlage zu entziehen. Dass dem Antragsteller die Erklärung der Aufrechnung unzumutbar ist, ist für den Senat nicht ersichtlich, zumal der Bestand des Mietverhältnisses mit dem Antragsteller und seiner Ehefrau als Mieter im Falle eines Wechsels des Vermieters/Eigentümers nicht gefährdet ist (vgl. § 566 BGB).

Nach summarischer Prüfung stehen auch gesellschaftsrechtliche Regelungen einer Aufrechnung des Antragstellers gegenüber der H. Consulting GmbH bezüglich deren Mietzinsforderungen nicht entgegen. Die Vorschrift des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbH-Gesetz, wonach das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft an die Gesellschafter nicht ausgezahlt werden darf, findet nach § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbH-Gesetz auf die Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens keine Anwendung. Denn die Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens ist generell geeignet, die GmbH von einer Verbindlichkeit gegenüber dem Gesellschafter zu entlasten, sodass der Auszahlungsvorgang bilanziell ergebnisneutral bleibt (vgl. z.B. Ekkenga in MüKo-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 30 Rdnr. 257; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbH-Gesetz, 22. Aufl. 2019, § 30 Rdnr. 47).

Unter diesen Umständen droht dem Antragsteller kein Verlust seiner Wohnung. Ihm ist es zumutbar, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

5. Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved