S 15 AS 1464/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
15
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 AS 1464/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die formale Fortdauer eines gerichtlich angeordneten Maßregelvollzugs steht einem Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nach einem Umzug des Hilfebedürftigen in eine betreute Wohngemeinschaft im Rahmen von Lockerungsmaßnahmen nicht entgegen (Abgrenzung zu SG Karlsruhe, Urteil vom 20.6.2016, S 15 AS 3265/15).
Der Bescheid vom 23.3.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.4.2018 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 1.3.2018 Leistungen zur Sicherheit des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Gründe:

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab März 2018.

Der 1977 geborene Kläger wurde mit Urteil vom 29.01.2014 zu einer mehrjährigen Haftstrafe wegen bandenmäßig begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln verurteilt. Bis zum 26.11.2014 befand er sich in Haft in der Justizvollzugsanstalt H. Anschließend erfolgte ein Maßregelvollzug gemäß § 62 StGB in der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) C. Ab dem 06.06.2017 begann eine sogenannte extramurale Belastungserprobung entsprechend Stufe 7 des siebenstufigen Lockerungsplans. Der Kläger wurde in dieser sog. Adaptionsphase im Lebenszentrum E. zur medizinischen Rehabilitation aufgenommen. Einen am 20.06.2017 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II lehnte der Beklagte unter Hinweis auf § 7 Abs. 4 SGB II wegen Unterbringung in einer stationären Einrichtung mit Bescheid vom 07.08.2017 und Widerspruchsbescheid vom 04.09.2017 ab. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 1.3.2018 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zum 01.03.2018 zog der Kläger um. Er bezog ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in N. Laut vorgelegter Bescheinigung des Lebenszentrums E. vom 22.2.2018 handelte es sich hierbei um ambulant betreutes Wohnen. Laut ebenfalls vorgelegtem Aufnahme- und Nutzungsvertrag betrug das monatliche Entgelt für die Gebrauchsüberlassung eines möblierten Wohnraums zur Alleinbenutzung sowie zur Mitbenutzung Küche, Bad/WC, Nebenräume 175, - EUR zuzüglich pauschalierte Nebenkosten (einschließlich Heizung und Wasser) von 110,- EUR, zusammen 285,- EUR.

Mit Schreiben vom 06.03.2018 bestätigte die Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, dass im Rahmen der Behandlung im Maßregelvollzug zur Vorbereitung auf die Entlassung als höchste Stufe der Lockerungen die sogenannte externe Belastungserprobung praktiziert werde. Der Kläger lebe außerhalb der Einrichtung und müsse nur noch einzelne Termine im Maßregelvollzug wahrnehmen (in der Regel halbjährlich ein Termin). Ergänzend legte der Kläger einen Arbeitsvertrag mit dem Diakonieverbund D. e.V. vor, wonach er ab dem 01.02.2018 befristet bis zum 15.08.2018 als Arbeiter eingestellt wurde. Die Entlohnung sollte brutto 8,85 EUR je Stunde plus pauschal monatlich 50,- EUR bei einer Wochenarbeitszeit von 42 % von 38,5 Stunden betragen. Laut § 1 des Arbeitsvertrages sei Zielsetzung des Arbeitsverhältnisses, dem Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin im Rahmen einer sozialintegrativen Maßnahme den Anschluss an die Arbeitswelt zu ermöglichen. Durch persönliche Beratung und Betreuung sollten seine Möglichkeiten, wieder einen Platz im Arbeitsleben zu finden, verbessert werden. Er sei deshalb nicht Mitarbeiter im Sinne des Mitarbeitervertretungsgesetzes, da die Arbeit vorwiegend der beruflichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt diene.

Mit Bescheid vom 23.03.2018 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil er sich nach den vorliegenden Unterlagen in einem richterlich angeordneten Maßregelvollzug befinde. Auch Freigängerinnen und Freigänger und Inhaftierte, denen Vollzugslockerungen zum Zwecke der Arbeitssuche bzw. Arbeitsaufnahme eingeräumt seien, seien von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Dies gelte auch dann, wenn sie tatsächlich eine mindestens 15 Wochenstunden umfassende Beschäftigung ausübten.

Hiergegen erhob der Kläger am 08.04.2018 Widerspruch. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.04.2018 zurück.

Deswegen hat der Kläger am 30.04.2018 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass er nicht mehr in einer stationären Einrichtung untergebracht sei und seit dem 01.02.2018 einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit von mehr als 15 Stunden wöchentlich nachgehe. Die Einrichtung habe nicht mehr die Gesamtverantwortung für seine tägliche Lebensführung. Sie erbringe keine Gesamtleistung mehr, nur noch in längeren Abständen erfolge eine ambulante Betreuung. Laut ergänzend vorgelegter Bescheinigung des Lebenszentrums E. vom 15.08.2018 erfolgten einmal wöchentlich ein Gruppengespräch, alle zwei Wochen ein Einzelgespräch. Zwar sei es Zielsetzung des Arbeitsverhältnisses, dem Kläger zu ermöglichen, wieder einen Platz im Arbeitsleben zu finden. Der Kläger habe allerdings (bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit nach einem Wegeunfall im März 2018) tatsächlich im Bereich Möbelaufbereitung und Verkauf gearbeitet und hierfür nachgewiesenermaßen eine Bruttostundenvergütung von 8,84 EUR bezogen. Beratungs- und Betreuungsleistungen des Maßnahmeträgers (das Coaching erfolge im Übrigen durch externe Trainer) finde nur ausnahmsweise während der Arbeitszeit statt. Mindestens seit dem 11.06.2018 bezog der Kläger Verletztengeld in Höhe von kalendertäglich 16,36 EUR.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 23.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2018 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Kläger habe weiterhin keinen eigenständigen Wohnsitz außerhalb der Einrichtung. Er befinde sich in fortgesetztem, wenn auch gelockertem Maßregelvollzug. Eine vollständige eigenständige Lebensführung liege mit Blick auf die vorgelegte Aufnahmebestätigung in das ambulante betreute Wohnen nicht vor. Ausweislich der Stellungnahme des Maßnahmeträgers vom 15.08.2018 werde der Kläger durch laufende Betreuungsleistungen bei der Heranbildung der Kompetenzen zur selbständigen Alltagsbewältigung unterstützt. Dies sei entgegen der Auffassung des Klägers gerade nicht hinreichend, um eine vollumfängliche eigenständige Lebensführung zu belegen. Darüber hinaus lägen auch die Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 SGB II als Ausnahme vom Leistungsausschluss nicht vor. Hiernach müsste der Kläger unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wöchentlich mindestens und tatsächlich 15 Stunden erwerbstätig sein. Bereits das Arbeitsverhältnis erfüllte nicht die Anforderungen bezüglich der Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes. Allein die arbeitsmarktübliche Entlohnung reiche für diese Annahme nicht aus. Laut Arbeitsvertrag handele es sich zweifelsfrei um eine Maßnahme, die dazu diene, den Kläger an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuführen. Bereits hieraus sei erkennbar, dass es sich ungeachtet der Höhe der bereitgestellten Entlohnung nicht um ein Arbeitsverhältnis unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes handele. Zudem könnten die Beratungs- und Betreuungsleistungen des Maßnahmeträgers (wöchentlich regelmäßig von zumindest ein bis drei Stunden) ausweislich des vorliegenden Vertrages auch während der Arbeitszeit erfolgen. Es werde daher davon ausgegangen, dass die Mindestanzahl an wöchentlichen Arbeitsstunden nicht erreicht worden sei. Jedenfalls ab Eintritt der Arbeitsunfähigkeit vom 30.04.2018 bis 15.08.2018 habe der Kläger keinerlei Arbeitszeit abgeleistet. Das Arbeitsverhältnis habe zum 15.08.2018 geendet und sei auch nicht verlängert worden. Jedenfalls wäre vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich andauernden Arbeitsunfähigkeit des Klägers von mittlerweile über neun Monaten auch die Erwerbsfähigkeit nach § 8 SGB II in Frage zu stellen.

Seit dem 1.3.2019 bezieht der Kläger nach Mitteilung des Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Jobcenter N ... Der Verletztengeldbezug dauerte bis zum 27.10.2019.

Mit Schriftsätzen vom 30.01.2019 und 28.03.2019 haben die Beteiligten einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Das Gericht hat die Verwaltungsakten des Beklagten beigezogen. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf deren Inhalt sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte S 15 AS 1464/18 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -), denn die Beteiligten haben hierzu schriftsätzlich ihre Zustimmung erklärt.

Die Klage ist zulässig und auch in der Sache begründet. Der angefochtene Bescheid vom 23.03.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.04.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat ab dem 01.03.2018 Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.

Nachdem der Kläger nach Mitteilung des Beklagten seit dem 1.3.2019 Leistungen vom Jobcenter N. bezieht, ist vorliegend streitgegenständlich der Zeitraum 1.3.2018 bis 28.2.2019.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung erhalten gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Verbindung mit § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II erwerbsfähige Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, wenn sie hilfebedürftig sind.

Diese Grundvoraussetzungen sind beim Kläger erfüllt. Soweit der Beklagte nachträglich aufgrund der seit März 2018 bestandenen Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Erwerbsfähigkeit des Klägers geäußert hat, führt dies für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht zu einem anderen Ergebnis. Auch in Fällen zweifelhafter Erwerbsfähigkeit sind Leistungen bis zur weiteren Klärung (etwa Einleitung einer medizinischen Begutachtung wie jetzt offensichtlich vom Jobcenter N. veranlasst, § 44a SGB II) zu gewähren.

Entgegen der Auffassung des Beklagten steht einem Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vorliegend § 7 Abs. 4 SGB II nicht entgegen.

Danach erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach dem SGB II,

1. wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 SGB V) untergebracht ist oder

2. wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.

§ 7 Abs. 4 SGB II enthält eine gesetzliche Fiktion, wonach der eigentlich erwerbsfähige Hilfebedürftige als erwerbsunfähig anzusehen und vom Leistungsbezug nach dem SGB II auszuschließen ist.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es für den Anspruch des Klägers ab dem 1.3.2018 nicht auf die detailliert von den Beteiligten diskutierte Frage ankommt, ob die Tätigkeit des Klägers beim Diakonieverbund D. e.V. eine Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden wöchentlich im Sinne der Rückausnahmevorschrift des § 7 Abs. 4 S. 2 Nr. 2 SGB II darstellt. Denn mit dem Verweis auf die Unterbringung in einer stationären Einrichtung "nach Satz 1" ist seit dem 1.9.2016 klargestellt, dass Personen, die sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, auch dann nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II sind, wenn sie (z.B. als Freigänger) einer Beschäftigung nachgehen (vgl. ausführlich Bayerisches LSG, Beschluss vom 21.1.2019, L 7 AS 24/19 B ER, juris Rn. 28 ff.).

Voraussetzung für die Anwendung dieser Rückausnahme ist im Übrigen, dass die betreffende Person sich überhaupt in einer entsprechenden Einrichtung befindet. Maßgeblich kommt es somit darauf an, ob der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum in einer stationären Einrichtung untergebracht war. Hieran fehlt es nach der Überzeugung der Kammer.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts müssen für das Eingreifen eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II drei Voraussetzungen vorliegen: In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob es sich um eine Leistungserbringung in einer Einrichtung handelt. In einem zweiten Schritt kommt es darauf an, ob Leistungen stationär erbracht werden. Dritte Voraussetzung ist die Unterbringung in der stationären Einrichtung. Es reicht nicht aus, dass die Einrichtung (auch) stationäre Leistungen erbringt, ferner genügt nicht bereits ein geringes Maß an Unterbringung im Sinne einer formellen Aufnahme. Von einer Unterbringung ist nur auszugehen, wenn der Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration des Hilfebedürftigen übernimmt (BSG, Urteil vom 05.06.2014, B 4 AS 3213 R, juris Rdnr. 24 - 28; BSG, Urteil vom 02.12.2014, B 14 AS 35/13 R, juris Rdnr. 21; sich dieser Auslegung anschließend LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.03.2016, L 13 AS 4877/13, juris Rdnr. 28; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.1.2016, L 13 AS 309/13, juris Rn. 23 ff.; LSG Hamburg, Urteil vom 24.1.2017, L 4 AS 66/16; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 2.3.2017 und 25.2.2019, L 7 AS 57/17 B ER und L 21 AS 2118/18 B ER).

Zwar war im streitgegenständlichen Zeitraum eine formelle Entlassung aus dem Maßregelvollzug noch nicht erfolgt. Der Kläger war während des gesamten Maßregelvollzugs, also auch nach Erreichen der Lockerungsstufen 6 bzw. 7 weiter jedenfalls formell von der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie des ZfP C. insoweit "aufgenommen" als er noch formal unter dem Ordnungsregime des Maßregelvollzugs stand und im ZfP Termine im halbjährlichen Abstand wahrzunehmen hatte.

Im Zeitraum Juni 2017 bis Februar 2018, während der Kläger stationär zur Adaption und medizinischen Rehabilitation in der Einrichtung Lebenszentrum E. selbst lebte, hatte dieses Zentrum auch noch (gewissermaßen delegiert vom eigentlich Maßregelverantwortlichen ZfP) die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung des Klägers. Dies ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass der Kläger dort umfassende Leistungen im Sinne von Unterkunft, Verpflegung und Betreuung erhielt. Zur Illustrierung kann insoweit der auf der Internetseite des Lebenszentrums abrufbare "Wochenplan Adaption" dienen: Vom gemeinsamen Tagesbeginn/Morgenrunde über tägliches Arbeitstraining, Gruppentherapien, Sportangeboten bis zu Freizeitangeboten am Wochenende erfolgt eine Betreuung nahezu rund um die Uhr. Für diesen Zeitraum hat der Beklagte auch zu Recht mit dem bestandskräftigen und vorliegend nicht streitgegenständlichen Bescheid vom 7.8.2017 die Gewährung von Leistungen abgelehnt (zu einer vergleichbaren Konstellation siehe bereits SG Karlsruhe, Urteil vom 20.6.2016, S 15 AS 3265/15, juris).

Jedoch ist diese Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung nach der Überzeugung der Kammer vorliegend mit dem Umzug in die – wenn auch betreute – Wohngemeinschaft in N. auf den Kläger übergegangen. Damit fehlt seit dem Umzug des Klägers in die vom Lebenszentrum E. betreute Wohngemeinschaft am Kriterium der Unterbringung im Sinne der oben genannten dritten Voraussetzung. Wenn man überhaupt noch von Unterbringung sprechen kann, ist diese doch derart reduziert, dass die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und Integration des Klägers nicht mehr beim Maßnahmeträger liegt.

Das folgt für die Kammer aus dem von Klägerseite vorgelegten Lockerungsplan des ZfP ebenso wie aus der Auskunft des Leiters des Lebenszentrums E. vom 15.8.2018. Laut Stufe 7 des Lockerungsplans soll in dieser Phase "extramural" die Resozialisierung, Stabilisierung erreichter Veränderungen und selbständige Teilhabe am Arbeitsleben und an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung erfolgen. Voraussetzung für die Möglichkeit des Bezugs eines Zimmers in den vom Lebenszentrum angemieteten Wohnungen ist eine selbständige Lebensführung, insbesondere hinsichtlich Ernährung, Hygiene, Tagesstruktur und Freizeitgestaltung, weitgehend selbständige Bewältigung von Ämtergängen und Arbeitsalltag sowie Finanzierung der Miete durch eigenen Arbeitslohn bzw. Lohnersatzleistungen (vgl. Auskunft des Leiters des Lebenszentrums E. vom 15.08.2018).

Diese Vorgaben sind im Fall des Klägers insoweit umgesetzt als er – wie aus dem bei den Verwaltungsakten befindlichen Aufnahme- und Nutzungsvertrag "Ambulant betreutes Wohnen" zwischen dem Lebenszentrum E. und dem Kläger hervorgeht - einen möblierten Wohnraum zur Alleinbenutzung sowie zur Mitbenutzung Küche/Bad/WC und Nebenräume zu einem monatlichen Entgelt von 175,- EUR zuzüglich 110,- EUR pauschalierte Nebenkosten gemietet hat. Ist der Kläger mietvertraglich verpflichtet, seine Unterkunft zu bezahlen und hat er auch selbst für Verpflegung und Hygiene zu sorgen, ist damit die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung an ihn selbst übergegangen. Muss der Kläger seinen Lebensunterhalt selbständig (durch Erwerbstätigkeit oder Lohnersatzleistungen) sicherstellen, kann nicht mehr angenommen werden, dass ein Maßnahmeträger die Gesamtverantwortung für seine Lebensführung innehat.

Zwar erbringt die Einrichtung Lebenszentrum E. noch Betreuungsleistungen; dies allerdings nur noch in sehr reduziertem Umfang: Nach den Angaben in der Auskunft des Leiters der Einrichtung finden Einzelgespräche nach Bedarf (in der Regel alle zwei Wochen) sowie einmal wöchentlich Gruppengespräche (ca. 90 Minuten) statt. Bei Bedarf erfolgen Kriseninterventionen, Angehörigengespräche und Unterstützung bei Regelung behördlicher/sozialrechtlicher Angelegenheiten bzw. Kontakte mit Arbeitgebern. Vergleicht man den Umfang dieser Betreuungsleistungen mit denen, die für die Bewohner der stationären Einrichtung Lebenszentrum E. im Rahmen der sogenannten Adaption erbracht werden (so auch für den Kläger in den vorangegangenen Monaten) wird deutlich, dass die Betreuung in der Wohngemeinschaft nur noch einen Bruchteil dessen ausmacht, was im Rahmen der regulären stationären Unterbringung erfolgt. In festgelegtem Turnus erfolgt nur noch einmal pro Woche ein Gruppengespräch. Alle weiteren Betreuungsleistungen (sogar die Einzelgespräche) erfolgen nur noch bei Bedarf. Allein die Möglichkeit, dass bei entsprechendem Bedarf Betreuungs- und Hilfsangebote bestehen, die allerdings nicht verpflichtend wahrzunehmen sind, begründet nach Auffassung der Kammer keine Gesamtverantwortung des Trägers für die tägliche Lebensführung des Klägers.

Gerade die Tatsache, dass der Kläger im streitigen Zeitraum seinen Lebensunterhalt selbständig sicherstellen musste (sowohl was die eigene hauswirtschaftliche Versorgung als auch die Verpflichtung zur Zahlung von Unterkunftskosten betrifft), spricht dafür, dass der Maßnahmeträger die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung nahezu vollständig an den Kläger abgegeben hat. Der Kläger hat vom Maßnahmeträger keine Gesamtleistung mehr erhalten, insbesondere keine umfassenden Leistungen im Sinne von Unterkunft und Verpflegung. Dass eine förmliche Entlassung aus dem Maßregelvollzug noch nicht erfolgt ist (womit die Unterbringung im rein maßregelvollzugsrechtlichen Sinne fortdauert), führt zu keinem anderen Ergebnis (vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 21.1.2019, juris, Rn. 26).

Hielt sich der Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung i.S.d. § 7 Abs. 4 SGB II auf, war sein Leistungsanspruch auch nicht ausgeschlossen.

Der Kläger hat nach alledem bis längstens Ende Februar 2019 Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gegenüber dem Beklagten in gesetzlicher Höhe. Zu diesem Zeitpunkt (01.03.2019) wurden dem Kläger (wohl nach einem Umzug) Leistungen vom Jobcenter N. bewilligt. Eine Bezifferung des Anspruchs der Höhe nach war der Kammer nicht möglich, nachdem hier nicht bekannt ist, ob und in welcher Höhe bzw. in welchen Zeiträumen der Kläger Verletztengeld bezogen hat. Auch der genaue Zeitpunkt, an dem der Kläger tatsächlich umgezogen ist, wurde der Kammer nicht mitgeteilt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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