S 25 AS 1118/20 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 25 AS 1118/20 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorbehaltlich einer etwaigen Rückzahlungsforderung Leistungen nach dem SGB II (Regelbedarf) nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung ab dem 27. März 2020 bis zum 30. September 2020 zu erbringen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers. Dem Antragsteller wird für das vorliegende Verfahren erster Instanz Pro-zesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin O N – G aus X bewilligt.

Gründe:

Der Antrag der Antragstellers,

"die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab Antragseingang (27. März 2020) vorläufig Leistungen nach dem SGB II (Regelbedarf) in gesetzlicher Höhe zu bewilligen,"

hat in vollem Umfang Erfolg.

Der gemäß § 86b Abs. 2. Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einst-weilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Damit setzt der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nur das Bestehen des geltend gemachten materiell-rechtlichen Anspruchs voraus (Anordnungsanspruch), sondern auch einer besonderen Eilbedürftigkeit zur Durchsetzung dieses Begehrens (Anordnungsgrund). Anordnungs-anspruch und Anordnungsgrund müssen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung glaubhaft gemacht worden sein. Erforderlich ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfah-rens, 3. Aufl., III. Kapitel, Rdnr. 157). Dies ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 19.07.2006, Az.: L 20 B 146/06 AS ER; Beschluss vom 12.06.2006, Az.: L 12 B 14/06 AS ER; Beschluss vom 19.01.2006, Az.: L 1 B 17/05 AS ER).

Bei der Beurteilung des Anordnungsanspruchs hat sich das Gericht an den Grundsätzen zu orientieren, die das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) aufgestellt hat. Danach dürfen sich die Gerichte bei einer Ablehnung von existenzsichernden Sozialleistungen nicht auf eine bloße summarische Prüfung der Erfolgsaussichten beschränken und die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller nicht überspannen; ist eine Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht möglich, hat eine Folgenabwägung stattzufinden (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05; ebenso LSG NRW, Beschlüsse vom 06.01.2006, L 1 B 13/05 AS ER und vom 28.02.2006, L 9 B 99/05 AS ER).

Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 01.08.2005, L 7 AS 2875/05 ER-B und vom 17.08.2005, L 7 SO 2117/05 ER-B). Die Eilbedürftigkeit der erstrebten Regelung ist im Übrigen regelmäßig zu verneinen, soweit Ansprüche für bereits vor Stellung des einstweiligen Antrags abgelaufene Zeiträume erhoben werden (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.12.2006, L 7 AS 6383/06 ER-B).

Gemessen an diesen Maßstäben hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch für sein Begehren, Leistungen nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs zu erhalten, im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs glaubhaft gemacht.

Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II Personen liegen insoweit unstreitig beim Antragsteller vor: Der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht und ist erwerbsfähig. Es ist als Obdachloser ohne jegliche Einkünfte auch hilfebedürftig i.S.d. § 9 SGB II. Streitig ist hier lediglich ein Ausschluss von Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Ob ein Daueraufenthaltsrecht EU für den Antragsteller vorliegt, konnte hier im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden und stellt eine schwierige Rechtsfrage da, die im Übrigen mangels Zuständigkeit nicht von den Sozial-gerichten beantwortet werden kann, sondern allein den zuständigen Ausländerbehörden obliegt und den Verwaltungsgerichten. Angesichts der vom Antragsteller vorgelegten Un-terlagen wie Rentenversicherungsverlauf mit Versicherungszeiten ab 1994 und einer Mitgliedschaftsbescheinigung der AOK mit Zeiten ab 2011 erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller die Voraussetzungen für ein 5-jähriges Daueraufent-haltsrecht erfüllt haben könnte. Die Ausländerbehörde der Stadt Wuppertal hat bislang dem Antragsteller, dem Unterlagen verloren gegangen sind, trotz Aufforderung durch seine Rechtsanwältin keine (neue?) Bescheinigung über ein Daueraufenthaltsrecht ausgestellt – und dies trotz Hinweis auf das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Davon unabhängig stellt die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit den Vorgaben des BVerfG an die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar ist, eine schwierige Rechtsfrage dar, dies insbesondere in der derzeitigen Situation aufgrund der Pandemielage wegen Sars-Cov-2, die weltweit existiert. Die Antragsgegne-rin ist explizit vom Gericht dazu aufgefordert worden, dazu Stellung zu nehmen, ob aufgrund der aktuellen besonderen Situation dem Antragsteller nicht einstweilen Leistungen erbracht werden können. Mit keinem Wort ist die Antragsgegnerin in ihrer An-tragserwiderung darauf eingegangen. Das Gericht hatte die Antragsgegnerin auch da-rauf hingewiesen – sollte man ihrer Auffassung folgen - , dass sie ggf. als erstangegan-gener Träger einstandspflichtig sei und dann ebenfalls Leistungen zu erbringen hätte aufgrund der Vorschriften des SGB XII, aber auch dazu hat die Antragsgegnerin keine Einlassung abgegeben. Es ist für das Gericht gerade in der derzeitigen Extremsituation aufgrund der Pandemiesituation völlig unverständlich, wie die Antragsgegnerin hier Leistungen verweigern kann. Ein ausländischer Obdachloser, der wegen geschlossener Grenzen in Europa derzeit auch nicht in sein Heimatland zurückreisen kann, um ggf. dort Sozialleistungen zu beantragen, ist nach Auffassung des Gerichts nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch hier von deutschen Behörden ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewähren, dass sein Überleben in dieser Zeit si-chert, zumal aufgrund der Einschränkungen des öffentlichen Lebens es derzeit für Ob-dachlose mehr als schwierig sein dürfte, auf der Straße Leistungen ggf. zu erbetteln. Zur Vermeidung existenzieller Nachteile für den Antragsteller hinsichtlich der offenen Fragen im Tatsächlichen und der offenen Rechtsfragen ist hier die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II im einstweiligen Rechtsschutz erforderlich.

Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe hat Erfolg. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit den §§ 114 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe hat Erfolg, da der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes teilweise Erfolg hatte und im Übrigen der Antragsteller nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen.
Rechtskraft
Aus
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