S 20 AY 18/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 AY 18/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 28.02.2019 so-wie der Bescheide vom 26./28.03.2018 und 23.04.2019 in der Fassung des Wider-spruchsbescheides vom 21.06.2019 verurteilt, der Klägerin ab 29.12.2018 an Stelle der bewilligten Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Leistungen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt 9/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit vom 09.11.2018 bis 28.12.2018 sowie darüber, ob die Klägerin ab 29.12.2018 einen An-spruch nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII für die Zeit hat. Die am xx.xx.xxxx geborene Antragstellerin ist nigerianische Staatsangehörige. Am xx.xx.xxxx reiste sie in schwangerem Zustand nach Deutschland ein, da sie vermutete, der Vater des ungeborenen Kindes halte sich im Gebiet der Städteregion Aachen auf. Ei-nen Asylantrag stellte die Klägerin nicht, sondern beantragte am xx.xx.xxxx beim Auslän-deramt der Städteregion Aachen die Ausstellung einer vorläufigen Bescheinigung nach § 15a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Zur Begründung gab sie an, sie habe ihr Hei-matland aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und von 2009 bis 2017 in Turin/Italien ge-lebt, wo sie ein Aufenthaltsrecht aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit als "Hairmaker" gehabt habe. Ihr Nationalpass wird seit dem xx.xx.xxxx vom Ausländeramt einbehalten. Am xx.xx.xxxx gebar die Klägerin ein Kind; dieses verstarb am xx.xx.xxxx; es wurde in Aachen bestattet. Aufgrund des Verlustes des Kindes fiel sie in eine Depression und wurde des-halb im Krankenhaus psychiatrisch behandelt; die behandelnden Ärzte bescheinigten we-gen der Erkrankung wiederholt – konkret am 01.03., 17.04. und 29.05.2018 – Reiseunfä-higkeit.

Am 23.02.2018 wurde die Klägerin vom Ausländeramt als Asylsuchende erfasst. Durch Bescheid vom 20.09.2018 wies die Bezirksregierung Arnsberg die Klägerin der Stadt Aachen zu. Am 16.10.2018 wurde ihr – gestützt auf § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG – aus medizinischen Gründen eine Duldung (vorübergehende Aussetzung der Abschiebung) be-willigt. Auf die wiederholte Aufforderung des Ausländeramtes, einen förmlichen Asylantrag zu stellen, stellte die – inzwischen anwaltlich vertretene – Klägerin mit Schreiben vom 29.04.2019 klar, sie habe ihr Heimatland 2009 mangels Zukunftsperspektiven und aus wirtschaftlicher Not heraus verlassen und sich in Italien auf Arbeitssuche begeben; es lä-gen keine verfolgungsrelevanten Gründe vor, die einen Asylantrag rechtfertigen würden, weshalb sie einen solchen Antrag auch nicht stellen werde. Die Klägerin beantragte, zu ihren Gunsten ein förmliches Abschiebeverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Be-zug auf Nigeria festzustellen, ihr eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen und bis zur Entscheidung über diese Anträge die Duldung zu verlängern. Seit dem 28.09.2017 bezieht die Klägerin von der Beklagten Leistungen nach § 3 AsylbLG.

Am 30.12.2018 beantragte die Klägerin die Überprüfung des zuletzt davor (für die Zeit vom 01.08.2018 bis 31.01.2019) ergangenen Bewilligungsbescheides vom 31.10.2018 und aller anderen bereits bestandskräftigen Bescheide für die Zeiträume ab der erstmaligen Hilfegewährung. Sie bat darum, ihr nach 15-monatigem Aufenthalt Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG analog dem SGB XII zu bewilligen. In Bezug auf die bewilligten Regelleis-tungen nach § 3 AsylbLG wies sie darauf hin, dass diese seit März 2016 nicht angepasst worden seien. Sie vertrat die Auffassung, dass sie gem. § 3 Abs. 4 AsylbLG jeweils zum 01.01.2017, 01.01.2018 und 01.01.2019 hätten angepasst werden müssen.

Am 07.01.2019 fragte die Beklagte beim Ausländeramt der Städteregion Aachen an, ob die Klägerin die Dauer ihres Aufenthaltes nicht selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst ha-be.

Durch Bescheid vom 08.02.2019 bewilligte die Beklagte weiter Leistungen nach § 3 AsylbLG bis 30.04.2019. Dagegen legte die Klägerin am 12.02.2019 Widerspruch ein. Zu-gleich erinnerte sie an die Bescheidung ihres Überprüfungsantrages bzgl. der bestands-kräftigen Bescheide ab Aufnahme der Leistungsgewährung. Sie vertrat die Auffassung, die Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG habe taggenau nach 15 Monaten zu er-folgen. Hinsichtlich der Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG legte sie ausführlich dar, in welcher Höhe nach ihrer Ansicht die Leistungen seit dem 01.01.2017 hätten angepasst werden müssen. Sie vertrat die Auffassung, dass die Anpassung der Leistungshöhe zur Vermeidung verfassungswidriger Ergebnisse auch ohne Neufestsetzung durch den Ge-setzgeber vorgenommen werden müsse.

Durch Bescheid vom 26. oder 28.03.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ab mit der Begründung, die Klägerin habe die Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland seit ihrer Einreise rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Rechtsmiss-brauch liege vor, wenn der Ausländer durch sein Verhalten einen objektiven und durch vorsätzliches einen subjektiven Missbrauchstatbestand erfülle.

Dagegen legte die Klägerin am 09.04.2019 Widerspruch ein. Sie meinte, der Vortrag zur rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes beruhe allein auf Un-terstellungen und Mutmaßungen.

Bereits am 05.03.2019 hatte die Klägerin um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht mit der Begründung, die gesetzlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG lägen vor. Es sei ihr nicht zuzumuten, das Hauptsachverfahren abzuwarten, da höhere Asylbewer-berleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unerlässlich seien. Auf Nachfrage des Sozialgerichts erklärte das Ausländeramt der Städteregion Aachen mit Schreiben vom 18.03.2019, die Klägerin habe ihren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuch-lich beeinflusst. Durch rechtskräftigen Beschluss vom 11.04.2019 (S 19 AY 6/19 ER) ver-pflichtete die 19. Kammer des Sozialgerichts Aachen die Beklagte im Wege der einstweili-gen Anordnung, der Klägerin ab dem 05.03.2019 vorläufig und bis auf Weiteres, längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Asylbewerberleis-tungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu bewil-ligen.

In Ausführung dieses Beschlusses bewilligte die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 23.04.2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG ab dem 05.03.2019. Sie erklärte ausdrück-lich: "Die Auszahlung der Leistung erfolgt unter Beachtung der Entscheidung des Sozial-gerichts nur vorläufig und vorbehaltlich der Entscheidung im Hauptsacheverfahren."

Dagegen legte die Klägerin am 23.05.2019 Widerspruch ein.

Durch Widerspruchsbescheid vom 21.06.2019 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 08.02.2019 als unbegründet zurück. Im einleitenden Satz nahm sie zwar auf den Bescheid vom 08.02.2019 und den dagegen eingelegten Widerspruch vom 12.02.2019 Bezug; in der Begründung legte sie jedoch ausschließlich dar, warum aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht vorliegen. Sie verblieb bei ihrer Auffassung im Ablehnungsbescheid vom 26./28.03.2019, die Klägerin habe die Dauer ihres Aufenthaltes in Deutschland seit der Einreise rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Sie meinte, Rechtsmissbrauch liege vor, wenn der Ausländer durch sein Verhalten einen objektiven Missbrauchstatbestand erfülle, wenn die Entscheidung der Behörde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche und wenn der Ausländer durch vorsätzliches Verhalten den subjektiven Missbrauchstatbe-stand erfülle. Die Klägerin sei am 28.09.2017 nach Deutschland eingereist, damit ihr un-geborenes Kind Umgang mit seinem Vater haben könne, welcher sich in der Region Aachen aufhalten sollte. Das Kind sei kurz nach der Geburt am verstorben. Fraglich sei, wieso die Klägerin nach dem Wegfall des vorherigen Einreisegrundes nicht wieder ausge-reist sei oder, wenn sie geglaubt habe, ein Recht auf Asyl zu haben, nicht zum damaligen Zeitpunkt bereits einen Asylantrag gestellt habe. Die Beklagte behauptet, die Klägerin ha-be am 23.02.2018 gegenüber der Ausländerbehörde erklärt, dass sie einen Asylantrag stellen wolle. Sie sei über das Verfahren entsprechend informiert worden. Die Klägerin sei zwar in der Zeit vom xx.xx. bis xx.xx.xxxx in stationärer bzw. teilstationärer Behandlung gewesen, jedoch habe nach Entlassung aus der Behandlung ausreichend Zeit bestanden, den entsprechenden Antrag zu stellen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Gemäß der §§ 14,18 und 19 des Asylgesetzes (AsylG) seien Ausländer verpflichtet, sich bei der Grenz-behörde, bei einer Ausländerbehörde, bei der Polizei des Bundeslandes oder einer für ihn zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu mel-den. Danach sei der Ausländer verpflichtet, sich unverzüglich oder bis zu einem ihm ge-nannten Termin in eine/die für ihn zuständige Erstaufnahmeeinrichtung zu begeben und formal einen Asylantrag zu stellen. Wer gegen diese Pflicht verstoße, erfülle einen objekti-ven Missbrauchstatbestand. Nach Auskunft des Ausländeramts habe die Klägerin nach der formlosen Antragsstellung keinerlei Maßnahmen ergriffen, um ihren Asylantrag förm-lich zu stellen bzw. das Verfahren voran zu treiben. Sie sei nie in der Erstaufnahmeeinrich-tung erschienen. Vielmehr habe sie erst am 29.04.2019 auf Nachfragen des Ausländer-amtes durch ihren Anwalt erklärt, dass sie nie beabsichtigt habe, einen Asylantrag zu stel-len. Der Anwalt habe nunmehr zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse geltend ge-macht. Die Klägerin habe also 14 Monate den Eindruck vermittelt, einen Asylantrag stellen zu wollen, um dann ein Bleiberecht auf Grund einer anderen Rechtsgrundlage zu beantra-gen. Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin habe somit mehrere objektive Missbrauchs-tatbestände erfüllt, die dazu führten, dass sie ihren Aufenthalt selbst rechtmissbräuchlich beeinflusst habe. Zudem habe sie gleichzeitig subjektive Missbrauchstatbestände erfüllt. Hier komme es darauf an, dass der Ausländer die objektiven Missbrauchstatbestände mit einem bedingt vorsätzlichen Verhalten erfüllt. Bedingter Vorsatz liege dann vor, wenn der Ausländer billigend in Kauf nehme, dass er mit seinem Verhalten einen objektiven Rechtsmissbrauchstatbestand erfüllt und die Dauer seines Aufenthaltes selbst beeinflusst. Der Klägerin habe klar sein müssen, dass eine verspätete Antragsstellung der zielstaats-bezogenen Abschiebehindernisse eine längere Bearbeitungszeit und damit einen längeren Aufenthalt in der BRD zur Folge haben könne. Auch die falschen Angaben bezüglich ihres Asylantrages, der nie förmlich gestellt worden sei, hätten zu einem längeren Aufenthalt geführt. Die Klägerin habe den Rechtsmissbrauch zumindest billigend in Kauf genommen, da ihr hätte klar sein müssen, dass ein Verfahren beim Ausländeramt nur durch ihre Mit-wirkung betrieben werden konnte.

Dagegen hat die Klägerin am 12.07.2019 Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, sie habe seit dem 29.12.2018 Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG. Der Voraufenthaltszeit-raum von 15 Monaten für die Gewährung der Leistungen habe ab dem 28.09.2017 be-gonnen, sodass ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ab 29.09.2018 bestehe. Sie meint, die Ausführungen der Beklagten zu einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten seien nicht haltbar. Sie habe im Rahmen einer Anhörung vom 14.12.2017 gegenüber dem Ausländeramt von vornherein geltend gemacht, nach Deutschland eingereist zu sein, um den Vater ihres spä¬ter verstorbenen Kindes zu suchen. Die Frage, ob sie Schutz vor Ver-folgung bzw. Rückführung suche, habe sie seinerzeit ausdrücklich verneint. Gleichwohl sei ihr seitens des Ausländer¬amtes am 23.02.2018 ein Belehrungsschreiben nach § 20 Abs. 1 AsylG zur Unterzeichnung vorgelegt worden, mit dem ihr wahrheitswidrig unterstellt wor-den sei, sie habe in Deutschland um die Ge¬währung von Asyl nachgesucht und müsse sich daher unverzüglich in die Landes Erstauf¬nahmeeinrichtung nach Bochum begeben. Trotz der bereits erfolgten Anhörung am 14.12.2017 sei eine erneute Anhörung am 31.07.2018 erfolgt, bei der ihr derselbe Fragenkatalog zur Beantwor¬tung vorgelegt worden sei. Auch hier habe sie erneut angegeben, nach Deutschland eingereist zu sein, um nach dem Vater ihres inzwischen verstorbenen Kindes zu suchen. In der weiteren Befragung sei dann plötzlich die Rede davon gewesen, dass für sie unter anderem aus ethischen und religiösen Gründen Gefahr für Leib und Leben in Afrika bestehe. Auch sei die Rede davon gewesen, dass sie an der Immunkrankheit Aids leide. Sie könne mit Gewissheit ausschlie-ßen, dass sie eine solche Aussage gemacht habe. Auch leide sie nicht an der Immun-krankheit Aids, sondern – wie durch ärztliche Atteste nachgewiesen – unter anderem an einer behandlungsbedürf¬tigen schweren depressiven Episode ohne psychotische Symp-tome (F 32.2). All dies habe der bevollmächtigte Rechtsanwalt gegenüber dem Ausländer-amt schriftlich geltend gemacht und beantragt, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Nigeria vorliegt und im Rahmen des Verfahrens das Bundesamt für Mig¬ration und Flüchtlinge zu beteiligen ist. Darüber hinaus habe dieser für die Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG und die Verlängerung der Duldung beantragt. Dieses Schreiben habe das Ausländeramt zum Anlass genommen, ein Verfahren zur Prüfung von Abschiebehindernissen einzuleiten und das BAMF um Beteiligung zu bitten. Eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes liegt ersichtlich nicht vor, weshalb nach Ablauf der 15 Monate ab dem 29.12.2018 ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG bestehe.

Zur Höhe der gewährten Grundleistungen nach § 3 AsybLG vertritt die Klägerin die Auf-fassung, diese stünden nicht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben an ein menschen¬würdiges Existenzminimum. In der Zeit von März 2016 bis einschließlich August 2019 seien die gegenüber dem Regelbedarf nach dem SGB XII bzw. SGB lI abgesenkten Leistungssätze nach § 3 AsylbLG trotz erheblich gestiegener Lebenshaltungskosten un-verändert niedrig geblieben. Auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie auf Preissteigerungen oder auf die Erhöhung von Verbrauchsteuern müsse nach Vor-gaben des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in der Normsetzung zeitnah reagiert werden, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt wird (BVerfG, Urt. v. 18.07.2012, 1 BvL 10/10; 1 BvL 2/11). Da auch bei den im AsylbLG zu gewährenden Geldleistungen das Statistikmodell und damit die Ergebnisse einer aktuellen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zu berücksichtigen seien, bestehe mit Vorliegen einer neuen EVS eine gesetzliche Verpflichtung zur Neufestsetzung der Leistungen. Diese hät-ten parallel zur Neu¬festsetzung der Regelbedarfe nach dem SGB XII bereits für die Zeit-räume ab 01.01.2017 in einem gesonderten Gesetzgebungsverfahren umgesetzt werden sollen. Ein entsprechender Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewer-berleistungsgesetzes (BT-Drs. 18/9985, 18/10351) sei jedoch seinerzeit an der fehlenden Zustimmung des Bundesrates gescheitert. Zum 17.03.2016 seien stattdessen sogar ohne weitere Begründung oder belegbare Erhebungen noch einzelne Bedarfspositionen für Freizeit, Unterhaltung und Kultur sowie Bildung als in den ersten 15 Monaten des Aufent-haltes nicht bedarfsrelevant gestrichen und die Grundleistungen so um 10 EUR gekürzt wor-den. Die Neufestsetzung der Grundleistungen in § 3 Abs. 5 AsylbLG sei bis einschließlich August 2019 unterblieben. Darüber hinaus habe es in der Zeit von März 2016 bis ein-schließlich August 2019 an der ge¬setzlich verpflichtenden jährlichen Fortschreibung der Grundleistungen gefehlt. Der nach § 3 AsylbLG Leistungsberechtigte habe demzufolge erheblich geringere Geld¬leistungen als ein Analogleistungsberechtigter bzw. ein Leis-tungsberechtigter nach dem SGB II und SGB XII erhalten. Auch wenn der Gesetzgeber verpflichtet sei, die Regelbedarfsberechnungen stets auf die aktu¬ellsten verfügbaren Er-kenntnisse zu stützen, lasse sich die Verpflichtung zur Neufestsetzung der Leistungssätze nach dem AsylbLG durch den Gesetzgeber nicht ersetzen. Die unterbliebene Neufestset-zung habe aber keinen Einfluss auf die gesetzlich verankerte Ver¬pflichtung zur Fortschrei-bung. Gem. § 3 Abs. 4 AsylbLG werde der Geldbetrag für alle notwendi¬gen persönlichen Bedarfe nach Abs. 1 Satz 8 sowie der notwendige Bedarf nach Abs. 2 Satz 2 jeweils zum 1. Januar eines Jahres entsprechend der Veränderungsrate nach § 28a des SGB XII in Verbindung mit der Verordnung nach § 40 Satz 1 Nr. 1 des SGB Xll fortge¬schrieben. Die Fortschreibung sei auch nicht abhängig von einer vorherigen Neufestsetzung, da gem. § 28a Abs. 1 SGB XII in den Jahren, in denen keine Neuermittlung nach § 28 erfolge, die Regelbedarfsstufen jeweils zum 1. Januar mit der sich nach Absatz 2 ergebenden Verän-de¬rungsrate fortgeschrieben würden. Die Höhe des so fortgeschriebenen Geldbetrages ergebe sich damit aus der Veränderungsrate nach § 28a Abs. 1 SGB XII in Verbindung mit der jeweiligen Fortschreibungsverordnung selbst, ohne dass es eines weiteren Umset-zungsaktes bedürfe. Auch wenn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BAMS) die Höhe der Bedarfe, die für das folgen¬de Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesge-setzblatt bekanntzugeben habe, ändere dies nichts daran, dass der Wert der fortzu-schreibenden Grundleistungen und damit auch der An¬spruch auf die höheren Leistungen bereits mit Veröffentlichung der maßgeblichen Fortschrei¬bungsverordnung verpflichtend sei. Demzufolge gingen neben dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in seinem Be¬schluss vom 1.11.2018 (L 8 AY 37/18 B ER) auch weitere Sozialgerichte davon aus, dass eine Fortschreibung der Leistungssätze zu errechnen und die Differenz zu den gewährten Grundleis¬tungen nachzuzahlen sei, z.B. das LSG Mecklenburg Vorpommern (Beschluss vom 24.09.2019 – S 5 AY 10/19 ER), das SG Stade (Urteil vom 13.11.2018 – S 19 AY 15/18), das SG Lüneburg (Beschluss vom 05.10.2019 – S 26 AY 12/19 ER), das SG Dresden (Beschluss vom 02.08.2019 – S 20 AY 55/19 ER), das SG Bremen (Be-schluss vom 15.04.2019 – S 40 AY 23/19 ER), das SG Oldenburg (Beschluss vom 05.07.2019 – S 25 AY 15/19 ER) und andere. Die Klägerin macht folgende Rechnung auf:

Für das Jahr 2017 beträgt die Erhöhung 1,24 %, so dass der Regelbedarf des Antragstel-lers i.H.v. 354 EUR um 4,28 EUR (354 /100 * 1,24) zu erhöhen ist. Aufgrund der Run-dungsregelung beträgt der Regelsatz 358 EUR. Für das Jahr 2018 beträgt die Erhöhung 1,63 %, so dass der Regelbedarf der Antragstellerin i.H.v. 358 EUR um 5,84 EUR (358 / 100 * 1,63) zu erhöhen ist. Aufgrund der Rundungsregelung beträgt der Regelsatz 364 EUR. Für das Jahr 2019 beträgt die Erhöhung 2,02 %, so dass der Regelbedarf der An-tragstellerin i.H.v. 364 EUR um 7,35 EUR (364 /100 * 2,02) zu erhöhen ist Aufgrund der Rundungsregelung beträgt der Regelsatz 371 EUR.

Bedarfs- stu¬fe 1 Bedarfs¬-stufe 2 Bedarfs-stufe 3 Bedarfs-stufe 4 Bedarfs-stufe 5 Bedarfs- stu¬fe 6 Leistungs¬sätze 2016 354 EUR 318 EUR 284 EUR 276 EUR 242 EUR 214 EUR Leistungs¬sätze fort-ge¬schrieben 2017 358 EUR 322 EUR 288 EUR 279 EUR 245 EUR 217 EUR Da es für das Jahr 2018 eine Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2018 gibt, hat die Fortschreibung für den Wert der Grundleistungen nach der Fortschreibung für 2018 in Höhe von 1,63 Prozent zu erfolgen. Bedarfs-stufe 1 Be¬darfs-stufe 2 Bedarfs-stufe 3 Bedarfs-stufe 4 Bedarfs-stufe 5 Bedarfs-stufe 6 Leistungssätze fortgeschrieben 2018 364 EUR 327 EUR 293 EUR 284 EUR 249 EUR 221 EUR Für das Jahr 2019 richtet sich die Fortschreibung der Grundleistungen nach der Regel-bedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2019, so dass eine Erhöhung um 2,02 % zu erfolgen hat. Bedarfs-stufe 1 Bedarfs-stufe 2 Bedarfs-stufe 3 Bedarfs-stufe 4 Bedarfs-stufe 5 Bedarfs-stufe 6 Leistungs¬sätze fort-ge¬schrieben 2019 371 EUR 334 EUR 299 EUR 290 EUR 254 EUR 225 EUR

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 08.02.2019 sowie der Bescheide vom 28.03.2019 und 23.04.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2019 zu verurteilen, ihr für die Zeiträume vom 09.11.2018 bis 28.12.2018 höhere Grundleistun-gen nach § 3 AsylbLG in Höhe der gemäß § 3 Abs. 4 AsylbLG vorzunehmenden Fort-schreibung der Bedarfssätze (364 EUR monatlich statt 354 EUR) monatlich zu gewähren sowie für die Zeiträume ab 29.12.2018 Leistungen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG habe der Gesetzgeber zu regeln; eine außergesetzliche Anpassung der Bedarfssätze durch die Behörden oder Instanzgerichte entbehre einer rechtlichen Grundlage. Hinsichtlich der Voraussetzungen für Leistungen nach § 2 AsylbLG verbleibt die Beklagte bei ihrer bisherigen Auffassung.

Durch Bescheide vom 02.08. und 18.11.2019 hat die Beklagte für die Zeit vom 01.08.2019 bis 29.02.2019 und – bei unveränderten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen – auch für die Folgemonate Leistungen nach § 2 AsylbLG bewilligt. Diese Bescheide sind nicht mehr als vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung stehend gekenn-zeichnet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwi-schen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsak-te, der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, des Aus-länderamtes der Städteregion Aachen sowie der Gerichtsakte S 19 AY 6/19 ER (SG Aachen), die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Insbesondere sind die angefochtenen Bescheide im Rahmen des gem. § 78 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Klage zwingend vorge-schalteten Vorverfahrens überprüft und ist das Vorverfahren durch Erlass des Wider-spruchsbescheides vom 21.06.2019 abgeschlossen worden. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Leistungen nach § 3 AsylbLG, die Gegenstand des Bescheides vom 08.02.2019 waren, sondern auch in Bezug auf die Leistungen nach § 2 AsylbLG, über die die Beklag-ten in den anderen angefochtenen Bescheiden entschieden hat. Zwar hat die Beklagte im einleitenden Satz des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2019 nur auf den § 3 AsylbLG-Leistungsbewilligungsbescheid vom 08.02.2019 und den dagegen eingelegten Wider-spruch vom 12.02.2019 Bezug genommen; in der Begründung hat sie jedoch ausschließ-lich dargelegt, warum aus ihrer Sicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Leis-tungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht vorliegen. Damit hat sie zu erkennen gegeben, dass sie auch die Rechtmäßigkeit der diese Thematik betreffenden Bescheide vom 26./28.03. und 23.04.2019 überprüft und beschieden hat. Da die Beteiligten im Verwal-tungsverfahren, im Eilrechtsschutzverfahren S 19 AY 6/19 ER und im vorliegenden Ge-richtsverfahren hinsichtlich des im März 2019 ergangenen Ablehnungsbescheides bezüg-lich Leistungen nach § 2 AsylbLG unterschiedliche Angaben gemacht und die vorgelegten Kopien unterschiedliche Daten für ein und denselben Bescheid – 26.03.2019 und 28.03.2019 – aufweisen, hat die Kammer diesen eindeutig identifizierbaren Bescheid als "Bescheid vom 26./28.03.2019" gekennzeichnet.

Hinsichtlich der Höhe der für den streitbefangenen Zeitraum vom 09.11. bis 28.12.2018 bewilligten Leistungen nach § 3 AsylbLG ist die Klage unbegründet, weil der angefochtene Bescheid vom 08.02.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2019 rechtmäßig ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höhere als die bewilligten Leistun-gen, da die Leistungshöhe den Vorgaben des § 3 AsylbLG in der im Bewilligungszeitraum geltenden Fassung entspricht (dazu nachstehend unter I.).

Dagegen ist die Klage begründet, da die Klägerin durch die angefochtenen Bescheide vom 26./28.03. und 23.04.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.06.2019 im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG insoweit beschwert ist, als die Beklagte die Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG in analoger Anwendung des SGB XII abgelehnt hat. Diese Leistungen stehen der Klägerin seit dem 29.12.2018 zu (dazu nachstehend unter II.).

I. Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG (vom 09.11. bis 28.12.2018) Der Auffassung der Klägerin und verschiedener Sozialgerichte und des LSG Niedersach-sen-Bremen, dass die Leistungshöhen jährlich – ggf. auch ohne vorheriges Tätigwerden des Gesetz- oder Verordnungsgebers – anzupassen sind, folgt das Gericht nicht. Die Klä-gerin hat keinen Anspruch auf höhere Leistungen, da das BMAS bis 31.08.2019 die sich nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ergebenden Geldbeträge entsprechend der Verände-rungsrate nach § 28a SGB XII in Verbindung mit der Verordnung nach § 40 Satz 1 Nr. 1 SGB XII nicht gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG in der bis 31.08.2019 geltenden Fassung (a.F.) seit dem 01.01.2017 fortgeschrieben hat. Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch das SG Hamburg (Beschluss vom 08.07.2019 – S 28 AY 48/19 ER) und Hohm (in: ZFSH/SGB 2019, S. 68 ff.) vertreten eine von den Entscheidungen verschiedener Lan-dessozialgerichte und Sozialgerichte, auf die die Klägerin sich beruft, abweichende Rechtsauffassung. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist eine wesentliche Entschei-dung von dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu treffen. Daher kann eine jährli-che Anpassung der Regelleistungen immer nur dann erfolgen könne, wenn zuvor die Re-gelbedarfe auf der Grundlage der aktuellen EVS in einem Bundesgesetz ermittelt worden sind. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die EVS auch dazu führen kann, dass Regelbe-darfe wieder sinken. Dieser Argumentation schließt sich die Kammer an.

Ein Anspruch auf Leistungsanpassung/Dynamisierung ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Zwar enthält § 3 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG (a.F.; seit 01.09.2019: § 3a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG) eine eindeutige Verpflichtung, die Leistungen entsprechend der Verände-rungsrate nach dem SGB XII anzupassen. Diese Verpflichtung richtet sich aber allein an das BMAS, das jeweils spätestens bis zum 01. November eines Kalenderjahres die Höhe der Bedarfe, die für das folgende Kalenderjahr maßgebend sind, im Bundesgesetzblatt bekannt gibt (vgl. § 3 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG a.F.; seit 01.09.2019: § 3a Abs. 4 Satz 3 AsylbLG). Die Fortschreibung der Regelbedarfe dient dabei der Dynamisierung der Leis-tungen, damit ein jahrelanges statistisches Festhalten an nicht mehr realitätsgerechten Festsetzungen endet (SG Hamburg, Beschluss vom 08.07.2019 – S 28 AY 48/19 ER un-ter Hinweis auf Wahrendorf, SGB XII/AsylbLG, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 3 AsylbLG, Rdnr. 67). Das BMAS hat es unterlassen, die Leistungen nach dem AsylbLG seit dem 01.01.2017 entsprechend anzupassen, weil der Bundesrat dem im Herbst 2016 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Dritten Gesetz zur Änderung des AsylbLG vom 16.01.2016, mit dem die Höhe der Geldbeträge für die Zeit ab 01.01.2017 festgesetzt werden sollten, nicht zugestimmt hat (vgl. BR-Drs. 713/16). In Ermangelung einer gesetz-lichen Neufestsetzung konnte daher aus rechtlichen Gründen für die Zeit ab 01.01.2017 eine Fortschreibung nach § 3 Abs. 4 AsylbLG a.F. nicht erfolgen (SG Hamburg, a.a.O.). Im Hinblick auf das vom Gesetzgeber in § 3 Abs. 4 AsylbLG (a.F.; seit 01.09.2019: § 3a Abs. 4 AsylbLG) so ausgestaltete Verfahren der Fortschreibung hält sich das Gericht we-der für berechtigt, die Geldbeträge nach dem AsylbLG der Höhe nach selbst zu bestim-men noch für befugt, die zuständige Behörde zu deren Anwendung zu verpflichten (eben-so: SG Hamburg, a.a.O.). Dies war bis 31.08.2019 (und ist auch seit 01.09.2019) allein Aufgabe des BMAS im Rahmen seiner ihm durch § 3 Abs. 4 AsylbLG (a.F.; seit 01.09.2019: § 3a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG) zugeschriebenen legislativen Kompetenz und nicht Aufgabe der mit der Durchführung des AsylbLG betrauten Behörden und/oder der zuständigen Sozialgerichte (SG Hamburg, a.a.O.; ebenso: Hohm in: ZfSH/SGB 2019, 68, 72; SG Aachen, Gerichtsbescheid vom 23.03.2020 – S 20 AY 27/29).

II. Leistungen nach § 2 AsylbLG ab 29.12.2018 Die Klägerin hat ab dem 29.12.2018 Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII. Danach ist abweichend von den §§ 3 und 4 so-wie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten ent-sprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Diese Voraussetzungen liegen seit dem 29.12.2018 vor. Die Klägerin hält sich seit dem 28.09.2017 im Bundesgebiet auf. Am 28.12.2018 waren 15 Monate ei-nes ununterbrochenen Aufenthalts abgelaufen. Sie hat die Dauer ihres Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Der Begriff der Rechtsmissbräuchlichkeit im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG wird im Gesetz nicht konkretisiert. Die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt ein auf die Aufenthalts-verlängerung zielendes vorsätzliches, sozialwidriges Verhalten unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BSG, Urteil vom 17.06.2008 – B 8/9b AY 1/07 R). Jedenfalls dann, wenn Anknüpfungspunkt des Rechtsmissbrauchsvorwurfs – wie im vorliegenden Fall – ein Unterlassen ist, sind strenge Anforderungen zu stellen. Soweit Mitwirkungspflichten bestehen, erfüllen nur nachhaltige Pflichtverletzungen den Rechtsmissbrauchstatbestand (Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, 1. Überarbeitung, § 2 AsylbLG, Rdnr. 65). Ein bloßes Hinauszögern des Beginns des Asylverfahrens durch ver-spätete Antragstellung reicht hierfür nicht aus (Oppermann, a.a.O, Rdnr. 70.1). Unter Zu-grundelegung dieser Maßstäbe kann der Klägerin kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorgeworfen werden.

Die Annahme der Beklagten zu den Umständen der Nichtbeantragung von Asyl beruht al-lein auf der Interpretation der Angaben des Ausländeramtes. Diese Interpretation lässt sich jedoch weder aus dem Inhalt der Ausländerakte noch sonstigen Angaben und Sach-verhalten verifizieren. Die Klägerin hat bereits unmittelbar nach der Einreise erklärt, dass sie kein Asyl beantragen wolle, dass sie schon 2009 nach Italien allein aus wirtschaftlichen Gründen eingereist sei und dass sie nach Deutschland gekommen sei, wo sie den Vater ihres – damals noch ungeborenen – Kindes vermutete. Dies hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten später im Schreiben vom 29.04.2019 unmissverständlich klargestellt. Im Hinblick darauf gehen auch die Vorwürfe der Beklagten, die Klägerin habe nach formloser Stellung ihres Asylantrags keinerlei Maßnahmen ergriffen, das Verfahren voran zu treiben, sei nie in der Erstaufnahmeeinrichtung erschienen und sei auch zu keinem vom BAMF festgelegten Anhörungstermin vorstellig geworden, ins Leere.

Erst Recht stehen der Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland die Umstände der Geburt und des schon 10 Tage später eingetretenen Todes des Kindes der Klägerin und deren anschließender Gesundheitszu-stand entgegen. Sie war nach dem traumatischen Erlebnis der Frühgeburt am xx,xx.xxxx und des überraschenden Todes des Kindes am xx.xx.xxxx in eine schwere Depression gefallen. Vom xx.xx bis xx.xx.xxxx befand sie sich wegen einer schweren depressiven Episode (ICD-10: F32.2) in Krankenhausbehandlung. Bereits die Diagnose einer (nur) mit-telgradigen depressiven Episode (ICD-10: F32.1) zeichnet sich dadurch aus, dass der "be-troffene Patient meist große Schwierigkeiten [hat], alltägliche Aktivitäten fortzusetzen". Die Erkrankung der Klägerin ging deutlich darüber hinaus, wie die Berichte der Krankenhaus-ärzte belegen. Angesichts dieses gravierenden Gesundheitszustandes kann keine Rede davon sein, dass die Klägerin eine nachhaltige Pflichtverletzung begangen hat (ebenso die Einschätzung der 19. Kammer im Beschluss vom 11.04.2019 – S 19 AY 6/19 ER). Dies wird auch durch die im Eilverfahren S 19 AY 6/19 ER erteilte Auskunft des Ausländeram-tes der Städteregion Aachen vom 18.03.2019 bestätigt, wonach die Klägerin "ihren Auf-enthalt im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hat".

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Bei Abwägen des Umfangs des Obsie-gens der Klägerin (§ 2 AsylbLG-Leistungen ab 29.12.2018) gegenüber dem Maß des Un-terliegens (höhere § 3 AsylbLG-Leistungen für 7 Wochen) erscheint es der Kammer sach-gerecht und angemessen, dass die Beklagte 9/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt. Die Kosten der Beklagten sind nicht erstattungsfähig (§ 194 Abs. 4 SGG).

Da die Beklagte durch bestandskräftige Bescheide vom 02.08. und 18.11.2019 für die Zeit ab 01.08.2019 Leistungen nach § 2 AsylbLG ohne Vorläufigkeitsbestimmung und ohne Vorbehalt der Rückforderung bewilligt hat, ist die Klägerin durch die angefochtenen Be-scheid nur bis 31.07.2019 beschwert. Da somit insgesamt nur noch Leistungen für weni-ger als 1 Jahr (§ 3-Leistungen vom 09.11. bis 28.12.2018, § 2-Leistungen vom 29.12.2018 bis 31.07.2019) streitig sind und die Differenz zwischen bewilligten und bean-tragten Leistungen insgesamt offensichtlich den Berufungsstreitwert von 750 EUR nicht über-steigt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGG), hat die Kammer die Berufung zu-gelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzlich Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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