S 6 KR 721/01

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 721/01
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger ein Blutgerinnungsmeßgerät "CoaguCheck-System" zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für ein "CoaguChek-System" (Blutgerinnungs-Messgerät).

Der Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Er beantragte bei der Beklagten unter Vorlage eines Kostenvoranschlages und einer ärztlichen Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis Dres. C. und C-X. die Kostenübernahme für die Beschaffung des Blutgerinnungs-Messgeräts "CoaguChekSystem".

Mit Bescheid vom 7.2.01 (BI. 12 Verwaltungsakte) lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab. Sie gab zur Begründung an, laut Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) sei die Therapiekontrolle bzgl. der gerinnungshemmenden Medikation in Form von Bestimmungen des relevanten Labor-Parameters durch den Behandler notwendig, ausreichend und wirtschaftlich.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 7.3.01 (BI. 13 Verwaltungsakte) Widerspruch ein. Diesen begründete er damit, dass seine Blutgerinnungswerte nicht konstant blieben und nach vierwöchiger Kontrolle ständig reguliert werden müssten. Er benötige daher das Blutgerinnungs-Messgerät, damit er den Wert in kürzeren Abständen selbst kontrollieren könne. Mit seinem Widerspruch legte der Kläger eine Bescheinigung seines behandelnden Arztes, des Kardiologen Dr. D., vor, in der ausgeführt wird, dass der Kläger lebenslange Marcumarbehandlung, bedingt durch ein großes Herzwandaneurysma, benötige.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4.9.01 zurück. Zur Begründung führte sie aus, zur Prüfung der Leistungsvoraussetzungen habe die Beklagte den MDK um eine Beurteilung gebeten. Der Gutachter des MDK sei in seiner Stellungnahme vom 1.2.01 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kostenübernahme für ein CoaguChek-System nicht befürwortet werden könne. Aufgrund des Widerspruchs des Klägers sei der MDK erneut befragt worden. Die Zweitgutachterin habe in ihrer Stellungnahme vom 9.7.01 das Ergebnis der Erstbeurteilung bestätigt, wonach die Bestimmung der Blutgerinnungswerte des Klägers in der Praxis des den Kläger behandelnden Arztes, gegebenenfalls in zweiwöchigem Abstand, wirtschaftlicher sei als eine selbständige Bestimmung der Blutgerinnung durch den Kläger zu Hause. Danach sei eine ausreichende und zweckmäßige Kontrolle durch den behandelnden Arzt sicher gestellt. Eine Ausstattung mit einem Blutgerinnungs-Messgerät zu Lasten der Versichertengemeinschaft würde das Maß des Notwendigen im Sinne des § 12 SGB V überschreiten. Es sei grundsätzlich wirtschaftlicher, wenn die erforderliche Kontrolle des Gerinnungswertes bei den entsprechenden Vertragsärzten durchgeführt werde.

Der Kläger hat am 26.9.01 (BI. 1 Gerichtsakte) Klage beim Sozialgericht Marburg erhoben. Der Kläger trägt vor, er könne die Begründung der Beklagten im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit nicht nachvollziehen. Da er regelmäßig alle 4 Wochen den Arzt aufsuchen müsse, um die Sicherstellung der Maßnahmen für seine Krankheit zu gewährleisten, überstiegen die damit verbundenen Kosten in der Gesamtsicht in erheblichem Maße die Kosten für ein "CoaguChek-System".

Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, ihm ein Blutgerinnungs-Messgerät "CoaguChek-System" zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält die vertragsärztliche Kontrolle der Blutgerinnungswerte für ausreichend und zweckmäßig sowie nach § 12 SGB V am wirtschaftlichsten.

Das Gericht hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen die bei der Beklagten geführte Verwaltungsakte zu dem Rechtsstreit beigezogen und hat mit Beweisanordnung vom 8.1.02 (BI. 26 Gerichtsakte) ein Gutachten eingeholt bei Herrn Dr. med. W. E. Herr Dr. E. hat sein innerfachärztliches Gutachten am 30.7.02 dem Gericht vorgelegt.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme und zu den weiteren Einzelheiten der Sachverhaltsermittlungen wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Der Beklagtenvertreter hat in der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Gerichts angegeben, dass sich die Kosten für die hausärztliche Bestimmung der Blutgerinnungswerte nach Rücksprache mit der bei der Beklagten zuständigen Abteilung auf Euro 4,60 beliefen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht bei dem zuständigen Gericht eingelegt. Die Klage ist auch begründet, weil der Kläger einen Anspruch auf die Versorgung mit einem "CoaguChek-System" hat.

Der Anspruch ergibt sich aus § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes vom 19.6.01 (BGBI. I S. 1046). Dieser hat folgenden Wortlaut: "Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind."

Das CoaguChek-System ist ein "anderes Hilfsmittel", das nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen ist oder nach § 34 Abs. 3 durch Rechtsverordnung ausgeschlossen ist. Es ist im Hilfsmittelverzeichnis gemäß § 128 SGB V (Produktgruppe 21 "Messgeräte für Körperzustände/-funktionen) aufgeführt.

Nach dem Gutachten des Sachverständigen Herrn Dr. E. vom 30.7.02 (BI. 3546 Gerichtsakte) steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das "CoaguChek-System" bei dem Kläger dazu erforderlich ist, einer drohenden Behinderung vorzubeugen. Unter Behinderung im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist eine wesentliche Beeinträchtigung der Körperfunktion zu verstehen (Berstermann in Peters, Handbuch der Krankenversicherung Sozialgesetzbuch V, Loseblattsammlung Stand 15. April 2002, § 33 Rz. 46). Die Behinderung muss nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteile vom 24.9.2002, Az.: B 3 KR 9/02 R und B 3 KR 15/02 R) konkret und unmittelbar drohen. Herr Dr. E. ist zur Überzeugung des Gerichts zu dem Ergebnis gekommen, dass das "CoaguChek-System" eine Verschlimmerung der bei dem Kläger eingetretenen Erkrankung verhindert und ausreichend, zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich ist. Durch den Einsatz dieses Hilfsmittels können Komplikationen wie Blutungen und das Auftreten eines neuen Schlaganfalls besser verhindert werden, weil engmaschigere Kontrollen möglich sind. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 10.9.02 (BI. 59, 60 Gerichtsakte) hat der Sachverständige mit überzeugenden Gründen eingehender zur Frage der Wirtschaftlichkeit Stellung bezogen. Er hat - ausgehend von der Tatsache, dass die Wirkung von Marcumar von verschiedenen Faktoren abhängig ist - ausgeführt, das die Bestimmung der Blutgerinnungswerte durch ein Labor in 14-tägigen Abständen im Falle externer oder interner Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit der Leber bzw. den Vitamin-KStoffwechsel nicht ausreichend ist. In diesen Fällen seien zwei Bestimmungen pro Woche erforderlich. Die lebenslang grundsätzlich 14-tägig stattfindende Blutgerinnungsbestimmung beim Hausarzt einschließlich mehrfach im Jahr erforderlicher Bestimmungen zwei Mal pro Woche überstiegen bei weitem die Kosten, die die Beklagte für das "CoaguChekSystem" aufzubringen hat und die laut Kostenvoranschlag mit DM 1799 angegeben sind. Ausschlaggebend war für den Gutachter ebenfalls, dass die hausärztliche Bestimmung der Blutgerinnungswerte bei dem Kläger zu sehr unterschiedlichen und schwankenden Werten geführt hat und bei einer engmaschigeren Kontrolle, die durch dieselbe Person mit jeweils demselben Apparat vorgenommen wird, das Auftreten von Komplikationen minimiert werden kann. Das Gericht folgt dem Gutachten uneingeschränkt. Das Gutachten ist wissenschaftlich begründet und logisch nachvollziehbar.

Dem gegenüber konnte das Gericht dem Argument der Beklagten, die hausärztliche Bestimmung der Blutgerinnungswerte sei wirtschaftlicher als das Zur-Verfügung-Stellen des "CoaguChek-Systems", weil die Leistungen der Ärzte budgetiert seien und in den vergangenen Jahren die Budgets überschritten worden seien, nicht folgen. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V orientiert sich an der Kosten-Nutzen-Relation. Nur jene Leistung ist wirtschaftlich, bei der das günstigste Verhältnis zwischen Aufwand und Wirkung besteht. Bei der Beurteilung des Aufwandes kann nicht ausgegangen werden von der wirtschaftlichen Situation, wie sie sich bei Vorliegen von Budgetüberschreitungen ergibt.

Da die Budgetierung von Leistungen von besonderen Bedingungen abhängt, somit nicht von einer Budgetierung als Regelfall ausgegangen werden kann, sind die Kosten zu Grunde zu legen, die der Beklagten ohne Berücksichtigung einer Budgetierung entstehen. Selbst wenn die Kosten der hausärztlichen Bestimmung der Blutgerinnungswerte unter den vom Beklagtenvertreter genannten Euro 4,60 liegen, ist die Versorgung des Klägers mit dem "CoaguChek-System" im Vergleich zu einer lebenslangen Bestimmung durch den Hausarzt die wirtschaftlichere Alternative, die zudem durch die Möglichkeit engmaschigerer und zuverlässigerer Kontrollen den größtmöglichen Erfolg sichert.

Die Beklagte konnte auch nicht mit dem Argument durchdringen, von der Selbstbestimmung der Blutgerinnungswerte einschließlich der eigenständigen Dosierung des Medikamentes Marcumar durch den Kläger gingen Gesundheitsgefahren für diesen aus. Der Kläger ist nachweislich (BI. 23 Verwaltungsakte) in der Blutgerinnungs-Selbstkontrolle mit dem "CoaguChek-System" geschult. Schulungsinhalt war gemäß Schulungszertifikat unter anderem, den Patienten über eine hinreichende Zahl von eigenen Messungen zu befähigen und die erhaltenden Messwerte in die Dosierung der benötigten Medikamente umzusetzen. Das Gericht hat daher keinen Zweifel daran, dass der Kläger im Gebrauch des Hilfsmittels ausgebildet ist.

Der Klage war daher statt zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Rechtsmittelbelehrung beruht auf 143, 144 SGG.
Rechtskraft
Aus
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