L 11 R 6168/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 4809/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 6168/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 7. November 2006 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 24. September 1950 geborene Klägerin hat keine Berufsausbildung abgeschlossen und war bis Juni 2001, dem Zeitpunkt der Auflösung ihres Betriebes, als Montagearbeiterin tätig. Seither ist sie arbeitsunfähig krank bzw. erhält Leistungen der Arbeitslosenversicherung.

Ihren Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung vom 13. Mai 2005 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. August 2005 und Widerspruchsbescheid vom 2. November 2005 ab. Grundlage hierfür war das Gutachten des Orthopäden Dr. R., wonach die letzte Tätigkeit und leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit einigen qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich möglich seien.

Die Klägerin hat hiergegen Klage bei dem Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Sie sei nicht mehr in der Lage, einer Berufstätigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen mindestens drei Stunden nachzugehen.

Das SG hat die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen gehört.

Die Hausärtzin Dr. L.-P. hat angegeben, der psychische Zustand habe sich in letzter Zeit verschlechtert; inwieweit die Klägerin noch leichte Tätigkeiten ausüben könne, müsse orthopädisch oder psychiatrisch beurteilt werden.

Der Nervenarzt Dr. P. hat mitgeteilt, die Klägerin leide an einer ängstlichen Depression, einem Tension headache, einer Hemihypesthesie rechts durchgehend, einem Schulter-Arm-Schmerz rechts sowie einer sekundären unklaren Hypertonie. Dass sie mehr als drei bis vier Stunden täglich arbeiten könne, sei schwer vorstellbar.

Der Orthopäde Dr. H. hat über Blockierungen der Brust- und der Lendenwirbelsäule (LWS), ein degeneratives LWS-Syndrom mit Spinalstenose und Bandscheibenprolaps sowie eine Arthritis rechts größer als links am SC-Gelenk berichtet. Leichte bis mittelschwere Frauenarbeiten seien vollschichtig möglich, ohne Zwangshaltung oder Fehlbelastung, in warmen, zugfreien Räumen, ohne Besteigen von Leitern und Gerüsten, Heben von Gegenständen über 5 kg und Überkopfarbeiten.

Die Klägerin hat den Entlassungsbericht der R.-Klinik Bad W. (Aufenthalt vom 21. März bis 4. April 2006 auf Veranlassung von Dr. H.; Durchführung einer Schmerztherapie) vorgelegt.

Dr. E., Chefarzt der Abteilung Regionalpsychiatrie am Klinikum N in C.-H., hat in seinem Gutachten eine chronifizierte Depression mit ausgeprägten Somatisierungsstörungen, eine degenerative Erkrankung der Wirbelsäule sowie ein umfangreiches psychosomatisches Schmerzsyndrom diagnostiziert. Die Klägerin sei noch in der Lage, leichte bis zeitweise mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis 5 kg, unter Vermeidung von gleichförmigen Körperhaltungen, andauerndem Stehen, Bücken, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit und an laufenden Maschinen, Schicht- und Nachtarbeit, Arbeiten unter Einwirkung von Gasen, Dämpfen und Nässe sowie von Arbeiten unter nervlicher Belastung oder unter besonderer geistiger Beanspruchung drei bis vier Stunden täglich durchzuführen. Der Zustand bestehe seit Rentenantragstellung. Die Beklagte hat hierzu eine kritische Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie Dr. H. vorgelegt. Danach seien die Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft; bei der Klägerin bestehe ein vollschichtiges Leistungsbild für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit den von Dr. E. angeführten qualitativen Einschränkungen.

Mit Urteil vom 7. November 2006 hat das SG den Bescheid vom 3. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. November 2005 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 30. November 2007 zu gewähren. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin nach den Angaben von Dr. P. und dem Gutachten von Dr. E. nicht mehr in der Lage sei, eine leichte körperliche Tätigkeit mit qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Eine Besserung sei jedoch nicht unwahrscheinlich, so dass die Rente befristet zu gewähren sei.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 24. November 2006 zugestellte Urteil am 11. Dezember 2006 Berufung eingelegt und eine Stellungnahme des Nervenarztes Dr. G. vorgelegt. Darin werden Zweifel an der diagnostischen Einschätzung von Dr. E. geäußert, weswegen schon die hieraus abgeleitete sozialmedizinische Leistungsbeurteilung nicht schlüssig getroffen worden sei. Nicht berücksichtigt worden sei auch der Entlassungsbericht der R.-Klinik, wo weder eine depressive Symptomatik noch eine entsprechende antidepressive Behandlung zur Sprache gekommen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 7. November 2006 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und stützt sich auf die Einschätzung von Dr. P. und Dr. E ...

Dr. S., niedergelassene Nervenärztin in B., hat für den Senat ein nervenärztlich-schmerztherapeutisches Gutachten erstattet. Danach liege bei der Klägerin aktuell keine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet vor. Anamnestisch sei eine depressive Episode beschrieben, die intensiver hätte behandelt werden können. Auf neurologischem Fachgebiet bestehe bei bekanntem Bandscheibenvorfall am Lendenwirbelkörper 4/5 rechts zeitweise eine Sensibilitätsstörung des Dermatoms S 1 rechts mit Taubheitsgefühl an der Fußaußenwand, was nicht leistungsbeeinträchtigend sei. Die Klägerin könne noch leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten, ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen oder Überkopfarbeiten, mit statischer Haltearbeit und Lasten bis 5 kg, ohne Nachtschicht, Akkord, erhöhte Verantwortung oder nervliche Belastung.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Das SG hätte der Klage nicht stattgeben dürfen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 30. November 2007, da sie nicht erwerbsgemindert ist.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist in erster Linie § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie - unter anderem - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres auch Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.

Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die Klägerin ist nicht erwerbsgemindert, denn sie kann unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich in leichten körperlichen Tätigkeiten mit den von Dr. S. beschriebenen, im Tatbestand näher wieder gegebenen qualitativen Einschränkungen erwerbstätig sein. Sie ist auch nicht berufsunfähig, denn nach ihrem beruflichen Werdegang ist sie auf den gesamten Arbeitsmarkt verweisbar.

Der Senat folgt für die Beurteilung des Gesundheitszustandes auf nervenärztlichem Fachgebiet dem Gutachten von Dr. S., welches im Kern im Einklang steht mit den Einschätzungen von Dr. H. und Dr. G ... Nicht zu überzeugen vermögen das Gutachten von Dr. E. und die sachverständige Zeugenaussage von Dr. P ...

Danach ist eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet, die zu einer belangvollen Leistungsminderung führt, nicht nachgewiesen. Dies gilt insbesondere für die von Dr. E. angenommene chronifizierte Depression mit ausgeprägten Somatisierungsstörungen. Einer solchen Erkrankung widerspricht das Verhalten der Klägerin bei der gutachtlichen Untersuchung durch Dr. S., wo sich die Klägerin als ruhig, konzentriert, aber auch lebhaft, spontan und zu aktivem Widerstand (Unwillen, Äußerung von Gereiztheit und Unwillen, kraftvolle Mimik und Gestik) fähig gezeigt hat. Ihr Unwillen hat sich auch auf die Wiedergabe des Tagesablaufs im Gutachten von Dr. E. - die Klägerin sehe hauptsächlich fern - bezogen. Anhaltspunkte für eine Antriebsminderung einerseits und Selbstvorwürfe, Selbstzweifel, Krankheitsbefürchtungen unlösbare Konflikte andererseits, wie es bei einer Depression zu erwarten gewesen wäre, haben sich nicht gefunden. Dr. S. hat ein kraftvoll gezieltes interessegeleitetes Verhalten feststellen können, was mit einer depressiven Hemmung nicht vereinbar ist. Auch die Krankheitsgeschichte spricht gegen die Diagnose, die von Dr. E. gestellt worden ist, zeichnet sich die Klägerin doch nicht durch eine intensive Suche nach ärztlicher Hilfe aus und fehlt es auch an einer angemessenen Kooperation mit den behandelnden Ärzten - die Klägerin nimmt Psychopharmaka und Schmerzmittel unsystematisch und teilweise ohne genaue Kenntnis der Behandler.

Der von Dr. Essinger erhobene Befund ist - worauf Dr. S. hingewiesen hat - widersprüchlich, denn einerseits hat Dr. E. den auch von Dr. S. festgestellten Widerstand der Klägerin bemerkt, andererseits hat er von Verweigerung und passivem Rückzug gesprochen. Dr. E. hätte sich auch - so zutreffend Dr. S. - kritisch mit den Ergebnissen der Klägerin in dem von ihm durchgeführten Mini-Mental-Test auseinandersetzen müssen, die auf eine mangelnde Mitarbeit der Klägerin hindeuten. Von einer gestörten Tagesstruktur hat Dr. E. nur vage berichten können - die gut sechs Zeilen seiner Ausführungen bleiben allgemein und zeigen nur wenige Einzelheiten auf. Von einer Störung der Tagesstruktur kann mit Dr. S. letztlich nicht ausgegangen werden, denn erforderliche Anpassungen in der Haushaltsführung sind nicht erfolgt. Panikattacken sind von ihm lediglich vermutet, aber nicht beobachtet worden, im Ergebnis also nicht belegt. Erst recht lässt sich die von Dr. E. angenommene Chronifizierung der Depression nicht belegen, nachdem die Klägerin die Erkrankung erstmals mit der Klageerhebung (durch Vorlage eines Attestes von Dr. P.) angeführt und die therapeutischen Maßnahmen durch Dr. P. (Gabe eines einzigen Antidepressivums mit niedriger bis mittlerer Dosierung, so Dr. H.) die Behandlungsmöglichkeiten auch nach der eigenen Einschätzung von Dr. E. noch nicht ausgeschöpft haben. Der von Dr. P. erhobene Befund ist kaum sicher greifbar und verliert sich in theoretischen Ausführungen ohne Bezug zur Klägerin. Er lässt sich, wie Dr. S. überzeugend dargelegt hat, noch mit einer vorübergehenden Verstimmung, auch infolge der Belastungen des Rentenverfahrens, vor dem Hintergrund einer Persönlichkeitsvariante vereinbaren und deutet damit nicht sicher auf eine Depression hin. Auch in der R.-Klinik sind keine Hinweise auf eine belangvolle depressive Symptomatik bemerkt worden, obwohl dies bei der Behandlung von Schmerzerkrankungen nahe liegend gewesen wäre.

Ob in der Vergangenheit eine deutlich stärkere depressive Symptomatik bestand, ist unklar. Dr. S. hat dies für möglich gehalten, doch überwiegen angesichts des von ihr aktuell festgestellten Zustandes die Zweifel. Diese gehen zu Lasten der Klägerin.

Auch das umfangreiche psychosomatische Schmerzsyndrom, das Dr. E. diagnostiziert hat, sieht der Senat nicht als nachgewiesen an. Die Angaben der Klägerin zu Schmerzen sind nach der nachvollziehbaren Einschätzung von Dr. S. inkonsistent. Gegen ein Schmerzsyndrom sprechen auch fehlende systematische Therapiemaßnahmen. Der Umstand, dass ein einziger Aufenthalt in der R.-Klinik nach dem Entlassungsbericht zu einer Schmerzlinderung von 50 % geführt hat, spricht ebenfalls gegen die Diagnose, denn typischerweise setzen psychosomatische Schmerzsyndrome den therapeutischen Ansätzen größere Widerstände entgegen.

Lassen sich die von Dr. E. und Dr. P. gestellten Diagnosen nicht bestätigen, kann aber auch ihrer Leistungsbeurteilung nicht gefolgt werden.

Die Gesundheitsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Fachgebiet und - in Zusammenhang mit diesen - die auf neurologischem Fachgebiet festgestellte Sensibilitätsstörung des Dermatoms S 1 rechts mit Taubheitsgefühl an der Fußaußenwand führen, wie Dr. R., Dr. H. und Dr. S. ausgeführt haben, zu keinen weiteren quantitativen Leistungseinschränkungen. Auch Dr. E. sieht dies wohl nicht anders ("mehr oder weniger zu vernachlässigen").

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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