L 18 B 412/07 SB PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 SB 922/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 B 412/07 SB PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 10.04.2007 aufgehoben und der Klägerin für das sozialgerichtliche Verfahren antragsgemäß Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab 21.12.2006 bewilligt und Rechtsanwalt M. F. beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Aufhebung des ablehnenden Prozesskostenhilfebeschlusses vom 10.04.2007 des Sozialgerichts (SG) Nürnberg und die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) sowie die Beiordnung des Rechtsanwaltes M. F ...

In der Hauptsache streiten die Beteiligten darüber, ob bei der Klägerin ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 40 festzustellen ist.

Bei der 1956 geborenen Klägerin sind mit Änderungsbescheid der Beklagten vom 15.04.2003 als Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 40 festgestellt: 1. Depressive und dysphorische agitierte Verstimmungen, Somati sationen, dependentes Verhalten, Störung der Impulskontrolle - 40 - 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Wurzelreizungen , Schulterarmsyndrom - 10 - 3. Bluthochdruck - 10 -.

Am 22.02.2006 beantragte die Klägerin die Neufeststellung ihrer Behinderungen. Der Beklagte zog Behandlungsunterlagen der Klägerin bei, holte eine Stellungnahme nach Aktenlage vom 27.07.2006 der Ärztin Dr.S. ein und lehnte eine Neufeststellung mit Bescheid vom 31.07.2006 ab. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte nach Einholung einer Stellungnahme des Dr.N. mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2006 zurück.

Im Klageverfahren vor dem SG hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt und unter Vorlage einer Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Bewilligung von PKH beantragt.

Das SG hat die Gewährung von PKH mit Beschluss vom 10.04.2007 abgelehnt. Es hat die Beiordnung eines Bevollmächtigten nicht für erforderlich gehalten, da nach der Rechtsprechung des Bayer. Landessozialgerichts (Entscheidung vom 04.08.2006, L 15 B 507/06 SB PKH) die Beiordnung eines Rechtsanwalts in Angelegenheiten der §§ 2 und 69 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) grundsätzlich nicht erforderlich sei. Der Ausgang des Verfahrens hänge regelmäßig von dem Ergebnis der Sachverhaltsermittlung iS von §§ 103 ff SGG ab. Insoweit bedürfe es keiner anwaltlichen Vertretung gleichsam als Mittler zwischen einem ggf. noch zu hörenden ärztlichen Sachverständigen und der Klägerin. Auch mangelnde Sprachkenntnisse der Klägerin stellten keinen Grund für die Bewilligung von PKH unter gleichzeitiger Beiordnung eines Rechtsanwalts dar. Das BayLSG folge hiermit der ständigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung, dass bei rein medizinisch begründeten Streitigkeiten eine Beiordnung in der Regel nicht erforderlich ist (vgl Meyer-Ladewig/Keller/leitherer, SGG 8.Aufl, § 73a, RdNr 9b mwN).

Gegen diesen Beschluss hat der Bevollmächtigte der Klägerin Beschwerde eingelegt und vorgetragen, die Rechtsmittelbelehrung des SG finde im Gesetz keinerlei Grundlage. Die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei in Verfahren wie dem Vorliegenden bereits deshalb unumgänglich, da der Betroffene in der Regel nicht in der Lage sei, auf einen ergangenen Widerspruchsbescheid hin eine Klage zu Sozialgericht anzufertigen. Soweit in der Rechtsbehelfsbelehrung regelmäßig darauf hingewiesen werde, dass eine Klage auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG erfolgen könne, bedeute dies nicht zugleich, dass auf die Mitwirkung eines Prozessbevollmächtigten von vornherein verzichtet werden könne. Zum einen müsste in Fällen wie dem Vorliegenden der Rechtssuchende sich von A. nach W. begeben, um dort bei dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einen Klageantrag formulieren zu lassen, was angesichts der Tatsache, dass die Klägerin kostenarm sei, nicht zu bewerkstelligen sei. Zum anderen könne es der Klägerin als rechtsuchender Partei nicht verwehrt werden, eine Person ihres Vertrauens hinzuzuziehen, die von Berufs wegen zur Geheimhaltung verpflichtet sei. Es sei ständige Rechtsprechung, dass das Verhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt ein von gegenseitigem Vertrauen geprägtes ist. Ein solches Verhältnis sei zwischen einem Rechtssuchenden und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zweifelsohne nicht gegeben. Hinzu komme, dass das SG mit Verfügung vom 22.01.2007 zu Recht darauf hingewiesen hat, dass die Klägerin zur Mithilfe verpflichtet sei. Eine Sachverhaltsaufklärung und gegebenenfalls die Beseitigung von Beweismängeln etc. könne in der Regel durch einen juristischen Laien nicht erfolgen. Dies umso weniger, wenn es sich wie hier um einen ausländischen Mitbürger handele, der mit der deutschen Gerichtsbarkeit nicht vertraut sei. Auch insofern bedürfe es der Mitwirkung eines Prozessbevollmächtigten. Soweit sich das SG in der Begründung des Beschlusses auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts vom 04.08.2006 (Az: L 15 B 507/06 SB PKH) beziehe, sei nicht dargetan, dass das dortige Verfahren mit dem vorliegenden Rechtsstreit auch nur annähernd - mindestens vom Sachverhalt her - vergleichbar sei. Aus dem bereits Dargelegten ergebe sich, dass es im vorliegenden Fall nicht darum gehe, dass ein Prozessbevollmächtigter "gleichsam als Mittler zwischen einem gegebenenfalls noch zu hörenden ärztlichen Sachverständigen und der Klägerin" fungieren sollte. Woher das SG derartiges nehme, sei schlechterdings nicht nachvollziehbar.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde der Klägerin ist gemäß § 172 Abs 1 SGG statthaft, und da sie form- und fristgerecht eingelegt worden ist (§ 173 SGG), im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet. Die Voraussetzungen für die Gewährung von PKH sind nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats erfüllt (vgl zB Beschluss des Senats vom 03.01.2001 E-LSG B-201 = Behindertenrecht 2001, 107 = ASR 2001, 33). Der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (GG) und ist mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar.

Die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die PKH gelten (im Sozialgerichtsrechtsstreit) entsprechend (§ 73a SGG). Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO). Ist eine Vertretung durch Anwälte nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 121 Abs 2 ZPO).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz eine w e i t g e h e n d e Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (so BVerfGE 81, 347, 356 mwN). Da der Gleichheitsgrundsatz des GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten verlangt, sondern nur eine weitgehende Angleichung, ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von PKH davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. PKH darf dann verweigert, wenn die Erfolgschance nur eine Entfernte ist (BVerfGE aaO S 357).

Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 8.Aufl § 73a RdNr 7 mwN); der Erfolg braucht nicht mit Sicherheit festzustehen. Es muss nicht abschließend abzusehen sein, ob das Rechtsmittel begründet ist, vielmehr ist die Erfolgsaussicht grundsätzlich schon dann als hinreichend anzusehen, wenn sich die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme ergibt (Peters-Sautter-Wolff 4.Aufl § 73a S 258/8-14/21). Eine hinreichende Erfolgsaussicht kann somit vorliegen, wenn es erforderlich erscheint, Gutachten einzuholen (Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer aaO unter Verweisung auf BVerfG NJW 03, 2976 mwN; Beschluss BayLSG vom 06.07.1987 - L 5 B 55/87.Ar und vom 22.03.1989 - L 5 B 305/88.Ar).

Dies ist hier der Fall. Der Beklagte hat die Klägerin bislang nicht untersuchen und begutachten lassen. Für die Beurteilung des Ausmaßes der Behinderungen und der Höhe des GdB sind aber aktuelle Befunde zu erheben. Das Sozialgericht Nürnberg wird daher den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht durch Sachverständigengutachten aufzuklären haben.

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist auch erforderlich (§ 121 Abs 2 ZPO). Sie entspricht der Absicht des Gesetzgebers (vgl § 73a SGG), kann also nicht - wie das Sozialgericht Nürnberg meint - unter Bezugnahme auf den in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden. Nach Art 3 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Danach ist für alle gerichtlichen Verfahren ein Mindestmaß an rechtlichem Gehör zu gewährleisten. Die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten sollen Gelegenheit haben, sich zu dem für die Beurteilung des Gerichts in Betracht kommenden Sachverhalt vor der Entscheidung zu äußern (BVerfGE 7, 53, 57 mwN). Dieses Recht ist von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig und gilt auch im Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz. Den Beteiligten soll nicht zugemutet werden, sich darauf zu verlassen, dass das Gericht schon aufgrund der Offizialmaxime zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde (BVerfG aaO; BayLSG Breithaupt 99, 807). Weder die Vorschriften der §§ 62, 103 Abs 1 und 106 SGG noch sonstige, den Verfahrensbeteiligten dem Gericht gegenüber obliegende Pflichten schließen aus, dass im sozialgerichtlichen Verfahren schlechthin oder in Verfahren bestimmten Inhalts, etwa nach dem Schwerbehindertengesetz, eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist. Die Erforderlichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwaltes kann nicht generell für einzelne Rechtsgebiete verneint werden. Dies gilt auch für das Schwerbehindertenrecht (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3.Aufl 8.4 RdNr 65 mwN).

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist im sozialgerichtlichen Verfahren auch deshalb grundsätzlich erforderlich, weil die Antragsteller in der Regel rechtskundigen Vertretern gegenüberstehen. Ausnahmsweise wird man von der Beiordnung eines Rechtsanwaltes absehen können, wenn der Antragsteller selbst aufgrund seiner Berufsausbildung hinreichend befähigt ist, den Rechtsstreit selbst zu führen (Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren, 2.Aufl, VI, Allgemeine Vorschriften RdNr 96). Der erkennende Senat hält an seiner gegenteiligen Auffassung im Beschluss vom 18.02.1999 Az: L 18 B 141/98 SB PKH, Breith 1999, 807 - 809 unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG (vgl Beschluss vom 18.12.2001, Breith 2002, 486 - 488) nicht mehr fest. Nach dieser Rechtsprechung muss das Gericht erwägen, ob ein Bemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Davon ist r e g e l m ä ß ig auszugehen, wenn im Kenntnisstand und in den Fähigkeiten der Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht besteht. Das BVerfG aaO hält eine verständige und sachgerechte Prozessführung ohne anwaltliche Hilfe zumindest in Rentenverfahren nicht für zu bewältigen, wenn eine sog. Waffengleichheit nicht besteht. Der erkennende Senat sieht grundsätzlich keine wesentlichen Unterschiede in der Beurteilung des Schwierigkeitsgrades von Rentenstreitsachen und Schwerbehindertenstreitsachen. In beiden Rechtsgebieten ist eine erschwerende Kausalitätsprüfung nicht erforderlich und geht es im Wesentlichen um die Beurteilung des Ausmaßes von Gesundheitsstörungen.

Will man Waffengleichheit herstellen, ist in Sozialgerichtsverfahren eine Anwaltsbeiordnung in aller Regel zu bejahen. Die Sozialverwaltungen haben immer qualifizierte Prozessbevollmächtige, die gerade in der jeweiligen Sparte des Sozialrechts besonders zu Hause sind. Es besteht also immer ein offensichtliches Übergewicht auf Seiten der Sozialleistungsträger (Plagemann, SGb 1982, 188, 191). Dieses Übergewicht wird nicht durch die Regelung des § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) beseitigt, wie der 15. Senat des BayLSG in seinem Beschluss vom 29.01.2007 Az: L 15 25/07 SB PKH, juris-Recherche, annimmt. Nach § 2 Abs 2 SGB I sind die sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des SGB und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten, dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Aus der Sicht der beklagten Sozialverwaltung ist den Anforderungen des § 2 SGB I im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren Genüge getan. Vor dem SG streiten die Parteien darüber, ob die Ablehnung der Gewährung sozialer Rechte rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Würde die Auffassung des 15. Senats zutreffen, dass wegen § 2 Abs 2 SGB I eine Beiordnung eines Bevollmächtigten nicht erforderlich ist, würde die Notwendigkeit einer Verurteilung einer Sozialverwaltung nicht mehr bestehen. Wenn schon die Sachverhaltsermittlung von Amts wegen im sozialgerichtlichen Verfahren das Ungleichgewicht zwischen rechts- und sachkundig vertretenen Sozialleistungsträgern und der anderen Prozesspartei nicht auszugleichen vermag (vgl LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.03.2006 Az: L 15 B 51/06 SO PKH, juris-Recherche), kann § 2 Abs 2 SGB I hierzu ebenfalls nichts beizutragen.

Auch unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsprinzips kann die Erforderlichkeit einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht generell in den Fällen verneint werden, in denen (lediglich) medizinische Sachverhalte entscheidungserheblich sind (Jansen, SGb 1982, 185, 187). Dies gilt auch für die anwaltliche Vertretung in Schwerbehindertenstreitsachen. Auch dort ist generell die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich, auch wenn lediglich medizinische Sachverhalte entscheidungserheblich sind (Beschluss des erkennenden Senats vom 03.01.2001 aaO). Es gehört zu der Aufgabe des Rechtsanwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege, das Gutachten eines Sachverständigen, das in einem Gerichtsverfahren eingeholt wurde, kritisch nachzuvollziehen und zu überprüfen. Zu seinen Aufgaben gehört es auch, gegebenenfalls Anträge auf Durchführung weiterer gerichtlicher Ermittlungen, Befragung der Sachverständigen, Einholung weiterer Gutachten von Amts wegen und Einholung von Gutachten gemäß § 109 SGG zu stellen. Diese Aufgaben eines Rechtsanwaltes in Schwerbehindertenstreitsachen werden nicht deshalb überflüssig, weil das gerichtliche Verfahren vom Grundsatz der Amtsermittlung geprägt ist (BayLSG Breithaupt 2005, 254 bis 258). Jedermann hat im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften das Recht, sich in Rechtsangelegenheiten a l l e r A r t durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl vor Gerichten vertreten zu lassen (§ 3 Abs 3 Bundesrechtsanwaltsordnung - BRAO -). Bei den Schwerbehindertenstreitsachen handelt es sich zweifellos um Rechtsangelegenheiten. Das SG will mit seiner Auffassung offensichtlich zum Ausdruck bringen, dass bei der Feststellung von Behinderungen nur medizinischer Sachverstand gefragt sei. Die Annahme, dass es sich bei der Frage, welche Gesundheitsstörungen bei der Klägerin vorliegen und wie diese zu bewerten seien, um medizinische Feststellungen und Beurteilungen handele, welche im Rahmen einer Begutachtung durch den ärztlichen Sachverständigen zu treffen seien, ist aber rechtsirrig. Schon den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) 2004 RdNr 15 kann entnommen werden, dass nicht der Arzt über die Feststellung einer Behinderung entscheidet. Vielmehr ist es Aufgabe des Gerichts, die von ihm eingeholten Gutachten zu würdigen. Das Gericht darf Gutachten nicht einfach übernehmen, sondern muss sie kritisch nachvollziehen und überprüfen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 128 RdNr 7). Die Schätzung des GdB ist nicht Sache des Sachverständigen, sondern die des Gerichts (aaO RdNr 7a). Die Bildung des GdB ist eine Rechtsfrage. Hierbei fließen im Schwerbehindertenrecht die Vorgaben der AHP ebenso ein wie sonstige medizinische Erfahrungssätze. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist eine differenzierte oberstgerichtliche Rechtssprechung zu beachten.

Ein Schwerbehindertenrechtsstreit ist grundsätzlich materiell-rechtlich und prozessual nicht derart einfach gelagert, dass eine anwaltliche Unterstützung entbehrlich wäre. Die Sach- und Rechtslage ist auch in Schwerbehindertenangelegenheiten für Behinderte schwer zu übersehen. Sie bedürfen anwaltlicher Hilfe, um sachgerechte prozessuale Anträge zu stellen. Die Beurteilung von Sachverständigengutachten durch die Klägerin, ihre Entscheidung, ob und gegebenenfalls welche weitere Fragen an den Sachverständigen zu stellen sind, die Entscheidung, ob und wann es zweckmäßig erscheint, einen Antrag nach § 109 SGG zu stellen, erfordern nicht nur Kenntnis des SGG, sondern auch Erfahrung im Umgang mit dem Schwerbehindertenrecht und den AHP. Diese Erfahrung hat die Klägerin ersichtlich nicht.

Nach der vom SG zitierten Rechtsprechung des 15. Senats des BayLSG kommt eine anwaltliche Vertretung in Schwerbehindertenstreitsachen nur (ausnahmsweise) in Betracht, wenn psychische Leiden zur Beurteilung anstehen. Die Klägerin hat mehrere Behinderungen auf psychischem Gebiet, so dass auch nach der o.g. Rechtsprechung des 15. Senats PKH zu gewähren wäre. Der erkennende Senat vermag sich aber der Rechtsprechung des 15. Senats, dass in Rechtsstreitigkeiten nach dem Schwerbehindertenrecht grundsätzlich eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht erforderlich sei, nicht anzuschließen. Diese Rechtsprechung des 15. Senats hält sich nicht an die Vorgaben des BVerfG in den Beschlüssen vom 18.12.2001, Az: 1 BvR 391/01, Breithaupt 2002, 486 bis 488 und 30.08.2006, Az: 1 BvR 955/06, NVwZ-RR 2007, 352 bis 353. Das BVerfG hält in diesen Beschlüssen die Beiordnung eines Rechtsanwaltes r e g e l m ä ß i g für geboten, wenn in Kenntnisstand und in den Fähigkeiten der Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht besteht - insbesondere wegen Leiden und Beeinträchtigungen einer Prozesspartei auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Aus diesen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts vermag der erkennende Senat nicht abzuleiten, dass in Fällen, in denen Leiden und Beeinträchtigungen einer Prozesspartei auf neurologisch-psychiatrischen Gebieten nicht bestehen, PKH nicht in Betracht kommt. Die Auffassung des erkennenden Senats steht im Einklang mit dem Orientierungssatz des Beschlusses des BVerfG vom 18.12.2001. Dort wird unter Ziffer 2 und Verweisung auf BVerfG, 1997-02-17, 1 BvR 1440/96, NJW 1997, 2103 ausgeführt, dass ein pauschales Abstellen auf den prozessualen Amtsermittlungsgrundsatz in sozialgerichtlichen Verfahren (SGG § 103) bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmales der "Erforderlichkeit" der Anwaltsbeiordnung (SGG § 73a iVm ZPO § 121 Abs 2 Satz 1 Alt 1) gegen die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes verstößt, zumal die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinausgeht. Das BVerfG führt dann unter Ziffer 2 des Orientierungssatzes weiter aus, dass dies auch dann gilt, wenn ausschließlich oder schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen im Streit sind, die möglicherweise durch eine Beweiserhebung im Wege der Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens geklärt werden müssen. Im a n s c h l i e ß e n d e n Orientierungssatz befasst sich das BVerfG dann mit dem zur Entscheidung stehenden k o n k r e t e n Fall, was durch die Formulierung "3. Hier: ( ...)" deutlich wird. Es kann also keine Rede davon sein, dass das BVerfG grundsätzlich nur bei Leiden auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet eine Vertretung durch einen Anwalt in Schwerbehindertenstreitsachen für erforderlich hält. Vorliegend sind schwerpunktmäßig tatsächliche Fragen des Gesundheitszustandes der Klägerin im Streit, die - da eine persönliche Untersuchung und Begutachtung der Klägerin im Verwaltungsverfahren bislang nicht durchgeführt wurde - durch eine Beweiserhebung im Wege der Einholung medizinischer Sachverständigengutachten geklärt werden müssen. Anschließend hat das Gericht, aber auch der beizuordnende Rechtsanwalt, eine rechtliche Subsumtion durchzuführen. Von der Klägerin kann diese Subsumtion nicht erwartet werden. Die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts wird auch nicht dadurch hinfällig, dass der Beklagte ein Merkblatt zur Verfügung stellt, in dem die wesentlichen Grundlagen und Nachteilsausgleiche nach dem SGB Neuntes Buch (IX) zusammengefasst erläutert werden.

Die Klägerin erfüllt auch die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH.

Nach alledem war der Beschluss des SG aufzuheben und der Klägerin PKH zu gewähren.

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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