L 2 U 243/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 15 U 121/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 243/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 08. Juni 2006 und der Bescheid der Beklagten vom 19. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04. September 2002 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 21. Mai 2000 für die Zeit vom 05. Februar 2001 bis 20. Mai 2002 eine Verletztenteilrente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren. Die Beklagte trägt ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits des Klägers. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob ein Unfall vom 21. Mai 2000 beim Kläger eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigender Höhe hinterlassen hat.

Der 1952 geborene Kläger erlitt an diesem Tage bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg zur Arbeit eine Kompressionsfraktur des 11. Brustwirbelkörpers sowie eine Thoraxkontusion, infolgedessen die Beklagte ihm bis zum 4. Februar 2001 Verletztengeld zahlte. Der behandelnde Chirurg und Durchgangsarzt H K kam in einem Ersten Rentengutachten vom 03. April 2001 zu dem Ergebnis, dass als wesentliche Unfallfolgen eine starke keilförmige Deformation des 11. Brustwirbelkörpers mit geringer lokaler Einengung des Rückenmarkskanals und mäßiger lokaler Knickbildung der Brustwirbelsäule (BWS), eine verletzungsbedingte Schädigung der benachbarten Bandscheiben und eine deutliche unfallverursachte Verschleißerkrankung der unteren BWS beständen; die MdE betrage vom 05. Februar bis 02. April 2001 30 v. H., vom 03. April 2001 bis 20. Mai 2002 25 v. H., danach voraussichtlich noch 20 v. H. Nach Einholung von beratungsärztlichen Stellungnahmen des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. E lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 19. November 2001 die Gewährung einer Rente ab, da eine MdE in rentenberechtigendem Grade nach Fortfall des Anspruchs auf Verletztengeld nicht mehr bestehe. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 04. September 2002 zurück.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht einen Befundbericht der behandelnden Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. B/B und ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. B vom 06. November 2003 eingeholt. Dieser führte aus, dass die zweifelsfrei auf den Unfall zurückzuführende Brustwirbelkörper(BWK) 11 Fraktur in Keilform stabil verheilt und ohne wesentliche Auswirkung auf Statik und Funktion der BWS und LWS sei; die MdE betrage ab dem 21. Mai 2001 10 v. H. Die jetzt geklagten Beschwerden seien eher auf die allgemeine Fehlstatik der Wirbelsäule und deren degenerative Veränderungen zurückzuführen. Das Unfallereignis habe nicht zu einer zusätzlichen Funktionseinbuße der Wirbelsäule geführt.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Gericht ferner ein Gutachten des Facharztes für Neurochirurgie F, Klinik "H", vom 29. August 2005 eingeholt, der ausführte, dass die unfallbedingte MdE mit 20 v. H. einzuschätzen sei. Dieser Beurteilung liege insbesondere die zunehmende Veränderung des für die Statik der gesamten Wirbelsäule besonders bedeutsamen Abschnitts des Übergangs von der Brust- zur Lendenwirbelsäule (so genannte Region Th 11 L2) zugrunde. Die Höhe der MdE sei mit der starken keilförmigen Deformation des elften Brustwirbelkörpers zu begründen. So würden etwa Rompe und Erlenkämper (Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 2004, Seite 512) für den Bereich Th 11 L2 für eine leichte Kyphoseverstärkung eine MdE von 20 v. H. und Mehrhoff/Meindl/Muhr (Unfallbegutachtung, 2005, Seite 159) je nach Leistungsfähigkeit der Wirbelsäule eine MdE von 10 20 v. H. empfehlen. Vorliegend sei wegen der Lokalisationsbesonderheit mit Spätdeformierung und deren negativen Auswirkungen auf das gesamte Achsenskelett der höhere Wert zuzuordnen. Bei einer Bewertung nach einzelnen Wirbelsäulensegmenten (Beurteilung und Begutachtung von Wirbelsäulenschäden, Steinkopff, 2002, Seite 27 ff.) werde ebenfalls der Wert einer MdE von 20 v. H. erreicht. Neben den frischen Unfallfolgen seien auch Spätfolgen zu konstatieren, die wegen ihrer ungünstigen prognostischen Wertigkeit bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen seien. Ein Vorschaden habe nicht bestanden. Soweit bereits vor dem Unfall degenerative Veränderungen mit vermehrter Brustkyphose vorgelegen hätten, über die diesbezügliche Röntgenbefunde nicht vorgelegen hätten, sei dies in der Sache unschädlich, da in den Verlaufskontrollen nach dem Unfall eine zunehmende Veränderung über die normalen Kyphosewinkel hinaus festzustellen gewesen sei nur für die Segmente, die in den Unfall einbezogen gewesen seien.

Mit Urteil vom 08. Juni 2006 hat das Sozialgericht Cottbus die Klage abgewiesen. Nach den Rententabellen sei bei stabil ausgeheilten keilförmigen Wirbelkörperkompressionsfrakturen ohne wesentliche Knickbildung im zweiten Jahr eine MdE von 0 % und lediglich bei bestehender erheblicher Knickbildung eine MdE von 10 20 % zuzuerkennen. Im Fall des Klägers handele es sich um eine stabil ausgeheilte Wirbelkörperkompressionsfraktur mit Keilwirbelbildung D 11 ohne wesentliche Knickbildung der vorbestandenen Brustwirbelsäulenkyphose, die entsprechend den Ausführungen des Dr. B lediglich mit einer MdE von 10 v. H. zu bewerten sei. Dr. F teile ausdrücklich die klinischen Befunde, die Dr. B erhoben habe. Allerdings lasse er mit der von ihm beschriebenen ungünstigen prognostischen Wertigkeit in seine Einschätzung eine eventuelle zukünftige Entwicklung mit einfließen, was nicht zulässig sei. Auch bei einer Beurteilung unter Zuhilfenahme des so genannten Segmentprinzips sei eine MdE in Höhe von 20 v. H. nicht begründbar, die Berechnung des Dr. F sei insoweit nicht nachvollziehbar.

Gegen dieses am 03. August 2006 zugegangene Urteil richtet sich die am 30. August 2006 eingegangene Berufung des Klägers, die dieser nicht begründet hat.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 08. Juni 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 19. November 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04. September 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Unfalls vom 21. Mai 2000 eine Verletztenteilrente für die Zeit vom 05. Februar 2001 bis zum 20. Mai 2002 nach einer MdE von 20 v. H. zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil. Auch für einen begrenzten Zeitraum nach dem Unfall komme eine Rentengewährung nicht in Betracht, da nach der unfallmedizinischen Fachliteratur hierfür ein statisch wirksamer Achsenknick erforderlich sei, der beim Kläger nicht vorliege. Auch hätten keine gravierenden funktionellen Behinderungen bestanden.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 04. Oktober 2007 eingeholt, der zu dem Ergebnis kam, dass die unfallbedingte MdE vom 5. Februar 2001 bis 20. Mai 2002 20 v. H. und in der Folgezeit 10 v. H. betragen habe bzw. weiterhin betrage. Die Folgen des Traumas seien seit längerer Zeit erkennbar abgeheilt, sie führten nur zu geringen statischen Veränderungen und seien in ihrem Ausmaß deutlich nachrangig gegenüber den erheblichen vorbestehenden Abnutzungserscheinungen mehrerer BWS Segmente. Für die MdE von nur 10 v. H. sprächen die nur geringgradig verstärkte Kyphosierung im Bereich der Frakturregion und die vorbestehende Kyphosierung; die deutliche Degeneration der unteren BWS und die geringe funktionelle Bewegungsstörung im Bereich der unteren BWS seien vorbestehend durch Degeneration. Weiterhin beständen keine sensomotorischen Veränderungen, keine statische Auswirkung auf fernere Abschnitte der Wirbelsäule, keine erkennbare Segmentinstabilität sowie keine relevanten Auswirkungen auf den Spinalkanal. Es sei offensichtlich, dass "in keinster Weise von einer nennenswerten Auswirkung auf die Gesamtstatik der BWS ausgegangen werden" könne. Allein wegen einer leichten Kyphoseverstärkung eine MdE von 20 v. H. einzuräumen und dabei den Vorschaden und die nur geringen funktionellen Veränderungen nicht zu berücksichtigen, sei nicht korrekt. Die vom Gutachter F vorgetragenen Beschwerden könnten als Folge der vorbestehenden degenerativen Schadenslage der BWS nicht ausschließlich auf das Unfallereignis zurückgeführt werden. Bei Durchsicht sämtlicher Röntgenaufnahmen hätten bereits frühe Bilddokumente eine erhebliche Vorschädigung gezeigt. Auch die beschriebene Schmerzverstärkung am Morgen entspräche dem Charakter einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung.

Für den Zeitraum bis 20. Mai 2002 sei (maximal) eine MdE von 20 v. H. anzusetzen, da hier zumindest anteilmäßig eine mittelgradige funktionelle Symptomatik sowie eine lokale Schmerzhaftigkeit mit reaktiven Myelosen erkennbar sei, auch sei zu berücksichtigen, dass der Kläger vor dem Unfall trotz bis dato stummer degenerativer Schadensanlage beschwerdefrei gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und im Umfang des in der mündlichen Verhandlung noch gestellten Klageantrages auch begründet.

Die Bemessung der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenen verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gebiet des Erwerbslebens [§ 56 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung]. Bei der Bemessung der MdE werden Nachteile berücksichtigt, die die Versicherten dadurch erleiden, dass sie bestimmte von ihnen erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen können, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihnen zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Die Bemessung der MdE hängt also von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Die Bemessung des Grades der MdE ist dabei Tatsachenfeststellung, die nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen ist. Die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis (so insgesamt: BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, Az.: B 2 U 14/03 R, SozR 4-2700 § 56 Nr. 1, und Urteil vom 5. September 2006, Az.: B 2 U 25/05 R, SozR 4-0000, zitiert nach JURIS, und UV-Recht Aktuell 2007, 163).

Unter Beachtung dieser Grundsätze hat die Beklagte zwar für die Zeit ab dem 21. Mai 2002 die Gewährung einer Rente nach den übereinstimmenden Feststellungen der Gutachter Dr. B (Gutachten vom 06. November 2003 und Rückäußerung vom 17. Februar 2006) sowie Dr. Win dessen Gutachten vom 04. Oktober 2007 zu Recht abgelehnt, da eine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß nicht verblieben ist; diesbezüglich hat der Kläger seinen Berufungsantrag auch nicht aufrechterhalten.

Für die Zeit bis 20. Mai 2002 hat die Beklagte jedoch dem Kläger Rente nach einer MdE von 20 v. H. zu gewähren; insoweit waren das erstinstanzliche Urteil und die angefochtenen Bescheide der Beklagten abzuändern. Das Gericht folgt den Ausführungen des Dr. W, der unter Berücksichtigung einer anteilmäßigen mittelgradigen funktionellen Problematik und einer lokalen Schmerzhaftigkeit mit reaktiven Myogelosen eine MdE in (allerdings "maximal") dieser Höhe für gegeben erachtete. Diese Befunde hätten sich sowohl subjektiv als auch klinisch-funktionell in der Folgezeit kontinuierlich verbessert, wie ein Vergleich mit den Feststellungen im ersten Rentengutachten des Arztes H K zeige. Den hiergegen vorgebrachten Einwänden der Beklagten war nicht zu folgen. Die unfallmedizinische Literatur lässt beim isolierten Wirbelkörperbruch bei mäßiger keilförmiger Deformierung, wie sie beim Kläger vorliegt, eine MdE bis 20 v. H. jedenfalls für eine Rente als "vorläufige Entschädigung", also entsprechend dem in § 62 SGB VII genannten Zeitraum für bis zu drei Jahre nach dem Versicherungsfall, durchaus zu; erst über das zweite Jahr hinaus ist eine verminderte funktionelle Leistung notwendig nachzuweisen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskranheit, 7. Aufl. 2003, S. 523).

Nach alledem hatte die Berufung daher Erfolg.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG. Sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache und berücksichtigt, dass die Berufung zu einem Teil erfolgreich war. Da der Kläger seinen Antrag erst in der mündlichen Verhandlung auf die Gewährung von Leistungen bis 20. Mai 2002 eingeschränkt hat, war bis dahin von einer Aufrechterhaltung des erstinstanzlich gestellten Antrages und demzufolge nur von einem teilweisen Obsiegen auch im Berufungsverfahren auszugehen, so dass eine volle Kostentragung durch die Beklagte hierfür nicht in Betracht kam.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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