L 19 B 69/08 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 21 AS 10/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 B 69/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
L 19 B 70/08 AS
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 25.02.2008 geändert. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Dauer von 6 Monaten, beginnend mit Februar 2008 und längstens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides zum Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 21.09.2007, monatliche 54,00 EUR als Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung zu gewähren. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt ¾ der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L, N, beigeordnet.

Gründe:

I.

Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Ausgleich eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung (§ 21 Abs. 5 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - SGB II).

Die im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II stehende Antragstellerin beantragte am 05.09.2007 die Anerkennung eines Mehrbedarfes wegen kostenaufwändiger Ernährung in Höhe von 50,00 EUR monatlich. Dem Antrag beigefügt war eine Bescheinigung ihres behandelnden Arztes Dr. Q, wonach die Antragstellerin unter einer Fruktose-/Laktoseintoleranz, chronischer Refluxkrankheit sowie Gastritis leide und auf eine laktosefreie und fruktosearme Ernährung angewiesen sei. Die Antragsgegnerin holte eine amtsärztliche Stellungnahme des Dr. L1 ein. Dieser vertrat die Auffassung, nach der vorgelegten Bescheinigung des Dr. Q seien zumindest vorübergehend bestimmte, insbesondere milchzuckerhaltige Nahrungsmittel zu meiden. Dies verursache im Vergleich zur Ernährung Gesunder keine Mehrkosten. Eine Ernährung ohne Milchprodukte sei ohne Gesundheitsschäden möglich. Auf dieser Grundlage lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 21.09.2007, gegen den die Antragstellerin Widerspruch eingelegt hat, den Antrag ab. Mit Antrag an das Sozialgericht vom 04.02.2008, für den sie zugleich Prozesskostenhilfe beantragt hat, hat die Antragstellerin beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II in Höhe von 71,58 EUR monatlich als Leistungen nach dem SGB II auszugleichen. Infolge ihrer kombinierten Laktose- und Fruktoseintoleranz sei sie auf eine Diät angewiesen, die Mehrkosten mit sich bringe. Die bloße Vermeidung milchzuckerhaltiger Lebensmittel genüge nicht, insbesondere nicht im Hinblick auf die bei der Antragstellerin vorliegende kombinierte Laktose- und Fruktoseintoleranz. Es entstehe ein Mehrbedarf, der in Anlehnung an bereits vorhandene Rechtsprechung (Urteil des Bay. LSG vom 16.02.2006 - L 11 AS 258/06 -) in Höhe von 71,58 EUR monatlich anzunehmen sei. Mit Beschluss vom 25.02.2008 hat das Sozialgericht sowohl den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als auch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Die tatsächliche Entstehung von Mehrkosten sei nicht glaubhaft gemacht. Jedenfalls bestehe aber kein Anordnungsgrund, da der Antragstellerin die vorübergehende Tragung der ggf. vorhandenen ernährungsbedingten Mehrkosten für die Dauer der gerichtlichen Klärung zumutbar sei.

Gegen den am 29.02.2008 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 28.03.2008, mit der sie ihren Anspruch weiterverfolgt, unterlassene Sachaufklärung des Sozialgerichts rügt und - wie schon im Widerspruchsschreiben - die Mehrkosten laktosefreier Milch und laktosfreien Quarks beziffert. Die Tragung der Mehrkkosten aus den Grundsicherungsleistungen nach § 20 SGB II sei weder möglich noch zumutbar.

Der Senat hat Anfragen an den behandelnden Arzt der Antragstellerin, Dr. Q, gerichtet. Zum Ergebnis dieser Anfragen wie zu weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten Bezug genommen.

II. Die zulässigen Beschwerden, denen das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 25.03.2008), sind im tenorierten Umfang begründet.

Hinsichtlich eines monatlichen Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 5 SGB II liegen zur Überzeugung des Senats die Voraussetzungen der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - vor. Sowohl ein Anordnungsanspruch (i.S. eines materiell-rechtlichen Anspruches auf die begehrte Leistung) als auch ein Anordnungsgrund (i. S. einer Eilbedürftigkeit gerichtlichen Einschreitens) sind glaubhaft gemacht.

Nach der vom Senat eingeholten Auskunft des Dr. Q vom 25.04.2008 i.V.m. dem beigefügten Laborbericht des Facharztes für Innere Medizin H liegen bei der Antragstellerin eine Laktose- und Fruktoseintoleranz vor. Dies erfordert die gezielte Auswahl laktosefreier und fruchtzuckerarmer Nahrungsmittel. 0b und ggf. in welcher Höhe allein bei Laktoseintoleranz ein Mehrbedarf im Sinne von § 21 Abs. 5 SGB II besteht, ist in Rechtsprechung und Literatur derzeit ungeklärt (Urteil des SG Berlin vom 09.10.2006 - S 101 AS 862/06 - kein Mehrbedarf; Urteil des Bayer. LSG vom 13.09.2007 - L 11 AS 258/06 -: Mehrbedarf i.H. des fortgeschriebenen Mehrbedarfes bei glutenfreier Kost nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins aus dem Jahre 1997; aus der Kommentierung: Lang/Knickgrehm in Eicher/Spellbrink, 2. Auflage, § 21 Rdnrn. 49ff. mit umfangreichen Nachweisen; Münder in LPK SGB II, 2. Auflage, § 21 Rdnrn. 24ff m.w.N.). Das Bundessozialgericht hat in einer Pressemitteilung zum Urteil vom 27.02.2008 - B 14/7b AS 64/04 R - zu erkennen gegeben, dass es zwar die Empfehlung des deutschen Vereins als generelle Leitlinien für die Verwaltungspraxis ansieht, ein im Einzelfall über die Empfehlungen hinausgehender Mehrbedarf jedoch konkret zu ermitteln ist.

Vor diesem Hintergrund ist ein Mehrbedarf der Antragstellerin jedenfalls im Umfang der Mehrkosten für laktosefreie Milchprodukte als glaubhaft gemacht anzusehen. Ein völliger Verzicht auf diese Produkte erscheint nicht zumutbar, da das Spektrum tolerierter Nahrungsmittel durch die zugleich vorliegende Fruktoseintoleranz ohnehin schon stark verengt ist. Den tenorierten Mehrbedarf hat der Senat im Wege der Schätzung (§ 287 der Zivilprozessordnung - ZP0 - analog) auf der Grundlage der glaubhaften Angabe der Antragstellerin ermittelt, wonach Erwerb laktosefreier Milch Mehrkosten von 50 Cent je Liter und der Erwerb von laktosefreiem Quark Mehrkosten von 40 Cent je 200 g im Verhältnis zu den jeweiligen Normalprodukten mit sich bringt. Bei Verzehr von 2 l Milch und 400 g Quark täglich ergäben sich hiernach monatliche Mehrkosten von 54,00 EUR (1,80 EUR täglich x 30 Tage). Hierbei hat der Senat bereits berücksichtigt, dass sich die Antragstellerin sicherlich nicht ausschließlich von Milch und Quark ernähren kann bzw. darf. Zum Ausgleich insoweit bestehender Aufklärungsdefizite werden großzügige Verzehrsmengen veranschlagt. Die exakte Aufklärung, ggf. unter Zugrundelegung einer Aufstellung der in einem bestimmten Zeitraum verzehrten Lebensmittel, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Ein Anordnungsgrund ist im Hinblick auf die andern falls drohende Unterschreitung des von der Regelleistung nach § 20 SGB II abgedeckten Mindestbedarfes nach ständiger Rechtsprechung des Senats glaubhaft gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Die vorgenommene Quotelung entspricht in etwa dem Verhältnis des zugesprochenen Mehrbedarfes von 54,00 EUR zum angegebenen Mehrbedarf von 71,58 EUR.

Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das Sozialgericht war abzuändern und der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des sie vertretenen Rechtsanwaltes zu bewilligen, weil die Voraussetzungen hierfür nach §§ 73a SGG, 114ff ZP0 erfüllt sind. Die Antragstellerin ist bedürftig und ihre Rechtsverfolgung hat nach Vorstehendem hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 ZP0.

Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens sind kraft Gesetzes nicht zu erstatten, § 127 Abs. 4 ZP0.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG endgültig.
Rechtskraft
Aus
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