L 5 R 326/07

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 RA 537/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 326/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Zugehörigkeit zum nach § 17a FRG vorausgesetzten deutschen Sprach- und Kulturkreis verlangt im Regelfall den überwiegenden Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie und Freundeskreis umfasst.

2. Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht entgegen, allerdings muss der Versicherte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und im persönlichen Bereich überwiegend gebraucht haben. Lässt sich dies nicht abgrenzen, ist die Anerkennung nach § 17a FRG ausgeschlossen.

3. Die jiddische Sprache hat sich zwar aus dem Mittelhochdeutschen entwickelt, es handelt sich aber eine eigenständige Sprache, von deren Gebrauch nicht auf die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis geschlossen werden kann.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 25. Juli 2007 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch darauf hat, dass seine in der ehemaligen Sowjetunion sowie deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitragszeiten deutschen Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) gleichgestellt werden.

Der Kläger, der 1937 in K. geboren wurde, ist jüdischer Abstammung. Von 1944 bis 1954 besuchte er nach seinen Angaben eine allgemeinbildende Schule, von 1954 bis 1960 besuchte er die Medizinische Hochschule in M., wo er am 7. Juli 1960 als Diplomarzt ausschied. Es folgten weitere berufliche Qualifikationen in der Fachrichtung Neurologie sowie Psychiatrie.

Am 15. März 1993 zog er aus dem K., Moskauer Gebiet, in die Bundesrepublik Deutschland als sog. Kontingentflüchtling zu und bezog in der Bundesrepublik Deutschland Sozialhilfeleistungen. Seit dem 28. März 2001 besitzt er laut Einbürgerungsurkunde vom 7. Februar 2001 (Bl. 39 Verwaltungsakte) die deutsche Staatsbürgerschaft. Nach seinem Zuzug absolvierte er einen Sprachlehrgang "Deutsch für Aussiedler und Asylberechtigte, Fach- und Führungskräfte", der sechs Monate umfasste und dessen erklärtes Ziel es war, den Teilnehmern fundierte sprachkundliche Kenntnisse der modernen deutschen Umgangssprache in Wort und Schrift zu vermitteln (Bl. 107 Verwaltungsakte).

Seit dem 1. September 2002 bezieht der Kläger von der Beklagten eine Altersrente.

In seinem Kontenklärungsantrag vom 23. Oktober 2001 gab der Kläger an, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen mit seinen Eltern in sowjetisch-polnischen Grenzgebieten der Stadt D. gewohnt zu haben. Seine Familie und er seien 1941 vom Frontgebiet nach Osten in das Gebiet bei G. evakuiert worden. Hierbei habe der gesamte Hausstand zurückgelassen werden müssen, was auch Dokumente, Zeugnisse, Bücher oder sonstige Gegenstände, die Auskunft über die deutsche Abstammung seiner Familie geben könnten, betroffen habe. Des Weiteren stellte der Kläger am 8. November 2001 den Antrag auf Anerkennung von Zeiten nach dem FRG. Im entsprechenden Fragebogen (Bl. 44 Verwaltungsakte) gab er in der Rubrik "Muttersprache" "jiddisch" an, in der darauffolgenden Sparte "persönlicher Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet" gab er "jiddisch, deutsch" an. Als allgemeine Umgangssprache im Herkunftsgebiet nannte er "russisch". In der hierzu gesondert vorgesehenen Rubrik "überwiegender Sprachgebrauch bei Mehrsprachigkeit" gab er im persönlichen Bereich "jiddisch, deutsch" an, im Beruf "russisch". Ebenso bei den Angaben zur Person des Vaters (Bl. 45 Verwaltungsakte) gab er als Muttersprache "jiddisch, deutsch" an, das Gleiche hinsichtlich seiner Mutter. Der persönliche Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet habe beim Vater "jiddisch, deutsch, russisch und ukrainisch" umfasst, bei der Mutter "jiddisch, deutsch, russisch". Auf die Frage, ob "jiddisch" gesprochen wurde, gab er an, dass im Familienkreis und unter Freunden dies der Fall gewesen sei.

Des Weiteren gab der Kläger ab, dass seine Eltern miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch, letzteres aber nur wenn keine Zeugen anwesend gewesen seien, besonders während der Kriegs- und Nachkriegszeit, gesprochen hätten. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter seien in der Lage gewesen, deutsche Bücher, auch in gotischer Schrift, zu lesen und hätten ihm dies beigebracht. Nach dem Krieg hätten seine Eltern ihre deutsche Abstammung nach Möglichkeit geheim gehalten, weil sie damals Diskriminierungen und Verfolgungen befürchtet hätten.

Durch Bescheid vom 28. Mai 2002 stellte die Beklagte den Versicherungsverlauf fest und lehnte dabei eine Anerkennung der von dem Kläger in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten ab. Dies begründete sie damit, dass weder die Voraussetzungen des § 17a FRG noch die des § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vorlägen. Insbesondere habe der Kläger nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört.

Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch vom 27. Juli 2002 begründete der Kläger im Wesentlichen damit, dass er zum deutschsprachigen Judentum gehöre. So stamme er aus einer jüdischen Familie, deren Vorfahren in Deutschland geboren worden seien. Seine Eltern hätten miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch gesprochen. Er sei in einer mehrsprachigen Familie aufgewachsen, in der die deutsche Sprache, deutsche Literatur und deutsche Kultur genauso wie jiddisch gepflegt worden seien. Da während des Weltkrieges alle Personalunterlagen verloren gegangen seien und seine Eltern seit langer Zeit verstorben seien, könne er dies nur schwer schriftlich beweisen. Jedoch schließe die neben deutsch und jiddisch bestehende gleichzeitige Beherrschung der russischen Sprache, Wort und Schrift eine Zugehörigkeit zum dSK während des Verlassens des Herkunftsgebietes nicht unbedingt aus, da bei mehrsprachigen Antragstellern geprüft werden müsse, wie hoch der Anteil der deutschen Sprache im Gesamtbereich der mündlichen und schriftlichen Kommunikation hinsichtlich ihres alltäglichen Sprachgebrauchs gewesen sei. Er könne sich nicht nur auf Deutsch seit dem Kindesalter verständigen, sondern beherrsche dank seiner Eltern die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Er habe im Laufe der Zeit trotz aller Schwierigkeiten und Gefahren deutsch nicht nur behalten, sondern seinen Wortschatz weiter entwickelt, vorbereitet und vertieft, indem er modernes Amtsdeutsch und medizinisches Fachdeutsch erlernt habe. Des Weiteren legte der Kläger verschiedene "Zeugenbestätigungen" vor: Die erste (Bl 174 Verwaltungsakte) stammt von KZ. M. aus I. vom 12. September 2002, der dort ausdrücklich angibt, mit der Familie des Klägers seit 1952 gut bekannt gewesen zu sein. Die weitere Bestätigung vom 20. November 2002 von Katharine T. (Bl 176 Verwaltungsakte) aus den USA besagt, dass sie die Familie des Klägers seit 1960 gekannt habe sowie dass sie diese bei sich zu Hause oft habe deutsch sprechen hören.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Februar 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Als Begründung führte sie aus, dass K. seit September 1941 unter nationalsozialistischem Einfluss gestanden habe, als der Kläger erst vier Jahre alt gewesen sei. Aufgrund des geringen Lebensalters in Zeiten der nationalsozialistischen Einflussnahme könne eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprachkreis bei dem Kläger nicht bejaht werden. Im Alter von vier Jahren habe der Kläger noch über keinerlei Sprachkenntnisse verfügt.

Die hiergegen erhobene Klage vom 14. März 2003, die der Kläger im Wesentlichen damit begründete, die Beklagte habe nicht beachtet, dass er im Alter von vier Jahren deutsch lesen und sprechen, aber noch nicht habe schreiben können, und sowohl seine Mutter als auch die Haushälterin mit ihm ausschließlich deutsch gesprochen hätten, wobei letztere gar kein jiddisch gekonnt habe, hat das Sozialgericht Gießen mit Urteil vom 25. Juli 2007 als unbegründet zurückgewiesen. Für die Zugehörigkeit zum deutschen Sprachkreis komme dem Gebrauch der deutschen Sprache ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebrauche, gehöre nicht nur zu diesem Sprach-, sondern auch zu dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließe. Die Zugehörigkeit zum dSK ergebe sich daher im Regelfall aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Bereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfasse. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis dann nicht entgegen, wenn die Person jüdischer Abstammung die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrsche und sie im persönlichen Bereich überwiegend gebraucht habe (unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 16. August 1990, - 4 RA 18/89). Die Kammer habe sich nicht davon überzeugen können, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit vorliegt, dass diese maßgeblichen Tatsachen gegeben seien. So seien keine Zeugen vorhanden, die den Vortrag des Klägers, es sei in der Familie überwiegend deutsch gesprochen worden, bestätigen könnten. Soweit der Kläger sich auf Erklärungen von Bekannten beziehe, seien diese nicht geeignet, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sein Vorbringen zu begründen. Die Angaben der Zeugen beträfen die Zeit nach 1941, auf die es hier nicht ankomme. Zu entscheiden sei gewesen, ob der Kläger um 1941 dem deutschen Sprachkreis angehört habe und nicht, ob dies später der Fall war. Hierbei gehe die Kammer davon aus, dass in der Familie des Klägers im maßgebenden Zeitraum auch deutsch gesprochen worden sei, jedoch sei die Kammer nicht im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon überzeugt, dass überwiegend die deutsche Sprache benutzt worden sei. Dies ergebe sich bereits aus den Angaben des Klägers im Kontenklärungsverfahren, in dem er angab, die Eltern hätten miteinander sowohl jiddisch als auch deutsch gesprochen, die Muttersprache sei jiddisch und der persönliche Sprachgebrauch jiddisch und deutsch gewesen. Die Behauptung des Klägers, der überwiegende damalige mündliche Sprachgebrauch sei deutsch gewesen und er habe mit seiner Mutter und der Haushälterin deutsch gesprochen, habe keine höhere Aussagekraft, weil zum einen das wesentliche Eigeninteresse des Klägers zu beachten sei, zum anderen er im Kontenklärungsverfahren gerade keine Gewichtung vorgenommen habe, welcher Sprachgebrauch überwogen habe. Daher halte es die Kammer für möglich, dass die deutsche Sprache überwogen habe, jedoch reiche dies nicht aus, um von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit im Sinne von § 4 Abs. 1 FRG auszugehen. Diese Ausführungen gälten entsprechend für einen Anspruch nach § 20 WGSVG.

Gegen das dem Kläger am 16. August 2007 zugestellte Urteil richtet sich dessen mit am 12. September 2007 zugegangenem Schriftsatz erhobene Berufung zum Hessischen Landesssozialgericht. Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, dass alle zugänglichen staatlichen Archive in P. und in der U. anzuschreiben seien, sowie auch bei dem jüdischen historischen Institut in W. und beim Bundesarchiv in K. anzufragen sei, ob sie Informationen hätten, die Familienstämme der Deutschen jüdischen Glaubens vor allem unter Familiennamen A. und G. umfassten. Es könne sein, dass dort erhalten gebliebene standesamtliche Dokumente und Heimatortkarteien gesondert nach der Religion geschrieben seien. Er sei überwiegend in deutscher Sprache erzogen worden und habe sich immer als deutschsprachiger Jude gesehen. Seine Ansprechpartner seien damals seine Eltern und die Haushälterin gewesen. Schließlich sei er als Sohn eines Militärarztes mit dem letzten militärmedizinischen Zug zusammen mit seiner Mutter und der Haushälterin aus D. nach G. ins G. evakuiert worden. Er habe mehrere Monate in diesem medizinischen Zug gewohnt, wobei Zugang zum Zug von unbefugten Personen stets streng verboten gewesen sei. Sein damaliger mündlicher Sprachgebrauch habe ausschließlich die Kommunikation mit drei Personen, nämlich Vater, Mutter und Haushälterin, die kein jiddisch habe sprechen können, umfasst. Seine Eltern hätten lebenslang dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört und deutsch als Muttersprache gebraucht. Es sei sehr problematisch, rein prozentual den überwiegenden Sprachgebrauch zu bestimmen. Seine Aussage, dass es überwiegend der deutsche Sprachgebrauch gewesen sei, basiere nicht auf einem wesentlichen Eigeninteresse, da ihm seit mehreren Jahren bekannt sei, dass die Höhe der nach dem FRG berechneten Altersrente in den meisten Fällen die Grundsicherungsleistung nicht übersteige. Sein Eigeninteresse in diesem Verfahren bestehe ausschließlich darin, als deutschsprachiger Jude nicht nur von seinen Patienten und Arbeitskollegen, sondern auch vom Staat anerkannt zu werden. Er habe keine neuen Beweismittel vorzutragen, außer den Beweismitteln, die er bereits im erstinstanzlichen Verfahren benannt habe, die dort nicht ausreichend gewürdigt worden seien.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 25. Juli 2007 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die von ihm in der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten mit deutschen Beitragszeiten gleichzustellen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich durch das erstinstanzliche Urteil in ihrer Auffassung bestätigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten auch im Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18. April 2008 ohne den Kläger verhandeln und entscheiden, da die Beteiligten in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 110 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die Voraussetzungen für eine Gleichstellung der vom Kläger in der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten zurückgelegten Beitrags- bzw. Beschäftigungszeiten mit deutschen Beitragszeiten als nicht glaubhaft gemacht abgelehnt.

Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 15 Abs 1 iVm § 17 a Fremdrentengesetz (FRG). § 15 Abs 1 FRG normiert, dass bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung durch den in § 1 FRG genannten Personenkreis zurückgelegte Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach § 17a FRG gilt dies auch für Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflussbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehört haben, das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatten oder im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben und sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatten, sowie die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) verlassen haben. Die Vorschrift erweitert damit den in § 1 FRG genannten Personenkreis um solche Personen, die weder Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG bzw. Abs. 2 zum maßgeblichen Zeitpunkt waren (§ 1 Buchst. b bis c FRG), noch mangels Bekenntnis zum deutschen Volkstum deutsche Volkszugehörige (§ 1 Buchst. a FRG iVm § 6 BVFG) noch heimatlose Ausländer i.S. v. § 1 Buchst. d FRG oder deren Hinterbliebene sind, jedoch sich gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt haben. Laut Gesetzesbegründung besteht das Ziel dieser Norm darin, eine rentenrechtliche Gleichstellung der aus den osteuropäischen Vertreibungsgebieten stammenden deutschen Juden mit den deutschstämmigen Aussiedlern zu erreichen, weil zuvor die offizielle Zugehörigkeit zur deutschen Volksgruppe nicht in Betracht gekommen sei, solange die Betroffenen ihre Identität als Juden nicht hätten aufgeben wollen (BT-Drucks. 11/5530, S. 29). Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Vorschrift ist aber – quasi als Ersatz für das fehlende Bekenntnis zum deutschen Volkstum gem. § 1 Buchst. a FRG iVm § 1 BVFG iVm § 6 BVFG - die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis.

Zwar hat der Kläger im Alter von vier Jahren das deutsch-polnische Grenzgebiet um D. verlassen, das zu den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG aufgezählten Vertreibungsgebieten gehört. Der Senat hält es jedoch wie die Vorinstanz für weder glaubhaft noch nachgewiesen, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt – 1941 – dem dSK angehörte.

Für die Zugehörigkeit zum dSK kommt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 19.04.1990 – 1 RA 105/88 - und 26.09.1991 – 4 RA 89/90 -, BSG SozR 3-5070 § 20 Nrn. 1 und 2) dem Gebrauch der deutschen Sprache "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu. Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprachkreis, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfasst. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Betroffene die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Beide Merkmale, also Sprachbeherrschung und Sprachgebrauch, sind unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls zu beurteilen. Bei der Feststellung eines überwiegenden Sprachgebrauchs ist die Gesamtheit der individuellen Kommunikation des Betroffenen im persönlichen Lebensbereich in Betracht zu ziehen (BSG, Urteil vom 14. März.2002 – B 13 RJ 15/01 R – juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Juni 2007 – L 4 RA 129/04 - juris). Hingegen steht dem nicht entgegen, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt erst vier Jahre alt war, weil es nicht auf die Beherrschung der schriftlichen Sprache ankommt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 1979 – IX ZR 96/76).

Ob die von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Kriterien betreffend die Beherrschung und den Gebrauch der deutschen Sprache in tatsächlicher Hinsicht zum maßgeblichen Zeitpunkt erfüllt waren und damit die Zugehörigkeit zum dSK bejaht werden kann, haben die Tatsacheninstanzen von Amts wegen zu ermitteln (§ 103 SGG) und hierüber im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) zu entscheiden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für die Feststellung der nach dem FRG erheblichen Tatsachen genügt, wenn sie glaubhaft gemacht sind, d.h., wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (§ 4 Abs 1 FRG; BSG, Urteil vom 14. März 2002 – B 13 RJ 15/01 R).

Zutreffend ist bereits das Sozialgericht davon ausgegangen, dass eine Tatsache dann glaubhaft gemacht ist, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (§ 4 Abs. 1 Satz 2 FRG). Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt vielmehr die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird, während gewisse noch verbleibende Zweifel unbeachtlich sind. Gleichzeitig muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Ist weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen einer Tatsache überwiegend wahrscheinlich, ist nicht etwa zugunsten des Anspruchstellers zu entscheiden. Ein solcher Grundsatz wäre dem Sozialversicherungsrecht fremd (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1980 – 12 RK 42/80 -, SozR 5070 § 3 Nr. 1; Beschluss vom 4. Juni 1975 – 11 BA 4/75 -, BSGE 40, 40 ff. (42)).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist auch zur Überzeugung des Senates unter Berücksichtigung der Bekundungen des Klägers sowie seiner vorgelegten Unterlagen nicht glaubhaft gemacht, dass er zum Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes im Jahre 1941 zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehörte. Entscheidend ist, wie das Sozialgericht mit zutreffender Begründung entschieden hat, nicht nur, ob der Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der deutschen Sprache mächtig war, sondern dass dieser die deutsche Sprache auch überwiegend in seinem persönlichen Lebensbereich gebraucht hat. Wesentliche Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum dSK ist nach den vom BSG (u.a. BSG, Urteil vom 10. März 1990 - B 13 RJ 25/98 R), aufgestellten Grundsätzen auch der ständige Gebrauch der deutschen Sprache im Bereich des persönlichen Lebens, wozu neben der Ehe und Familie auch der Freundes- und Bekanntenkreis gehört (BSG SozR 5070 § 20 Nr. 13, S. 49 f.). Hinsichtlich dieses Merkmals sind sämtliche Kommunikationsformen (Sprechen, Hören und Lesen) und deren Ausprägung im persönlichen Umfeld in Betracht zu ziehen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 23. Juli 2001 - L 3 RJ 38/00). Bei Gesamtwürdigung der erreichbaren Informationen hält der Senat es selbst unter Zugrundelegung der eigenen Angaben des Klägers nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass Deutsch im persönlichen Lebensbereich des Klägers bis zum Beginn des nationalsozialistischen Einflusses auf sein Heimatgebiet die dominante Rolle gespielt hat.

So hat der Kläger selbst bereits in seinem Antrag angegeben, dass neben deutsch auch jiddisch seinem persönlichen Sprachgebrauch im Herkunftsgebiet entsprochen hätte, welches er zudem auch ausdrücklich als seine Muttersprache angegeben hat. Jiddisch ist eine westgermanische Sprache mit semitischen und slawischen Elementen, die aber in hebräischen Schriftzeichen geschrieben wird. Sie ging zur Zeit des Hochmittelalters aus dem Mittelhochdeutschen hervor und ist allgemein auch heute noch der deutschen Sprache und deren Mundarten sehr nahe, gilt aber als eigene Sprache. Die mittelalterlichen Juden legten den Grundstein für die Entwicklung des Jiddischen, indem sie die gesprochenen Sprachen ihrer Umgebung aufgriffen, mit hebräischen Elementen versahen, Entlehnungen aus romanischen Sprachen integrierten und durch überregionale Kontakte verschiedene Merkmale althochdeutscher Dialekte mischten. Spätestens seit ca. 1500 n.Chr. kann man das Jiddische als eine vom Deutschen zu unterscheidende Sprache betrachten, die als gesprochene Sprache in der traditionellen jüdischen Gesellschaft diente. Es wird heute noch von etwa drei Millionen Menschen, größtenteils Juden, auf der ganzen Welt gesprochen. Vor dem Holocaust gab es etwa 12 Millionen Menschen, die diese Sprache beherrschten, die meisten davon in Ostmittel- und Osteuropa. Heutzutage sprechen neben älteren Menschen aller jüdischen Glaubensrichtungen vor allem chassidische Juden jiddisch als Umgangssprache (vgl. Brockhaus, Stichwort "Jiddische Sprache"; s.a. Leo Rosten, Jiddisch – Eine kleine Enzyklopädie, Dtv, November 2006).

Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger mit der Haushälterin ausschließlich die deutsche Sprache verwendet hat, so sieht es der Senat aufgrund der eigenen Angaben des Klägers und der anderen Indizien bei Gesamtwürdigung der Umstände als nicht glaubhaft gemacht an, dass der Kläger die deutsche Sprache überwiegend in seinem persönlichen Lebensbereich gebraucht hat. So war nach seinen eigenen Angaben die Muttersprache sowohl des Vaters als auch der Mutter des Klägers jiddisch und deutsch. Im Familienkreis und unter Freunden sprachen diese nach den eigenen Angaben des Klägers, die dieser bereits im Antragsformular machte, jiddisch. Der Senat hält es nach lebensnaher Betrachtungsweise für unwahrscheinlich, dass in diesem Fall bei der Kommunikation des Klägers mit seinen Eltern bzw. zwischen diesen die deutsche Sprache dominiert haben soll. Ist der Versicherte während des maßgeblichen Zeitraumes jedoch mehrsprachig aufgewachsen und lässt sich nicht mehr abgrenzen, in welchem Umfang die deutsche Sprache im persönlichen Lebensbereich gebraucht wurde, ist die Anerkennung einer Fremdbeitragszeit ausgeschlossen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16. März 2006 – L 4 RA 78/03).

Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt trotz fehlender Glaubhaftmachung des überwiegenden Gebrauchs der deutschen Sprache aufgrund anderer Umstände dem dSK angehört hat, sind weder ersichtlich, noch vorgetragen worden. Die Zugehörigkeit zum dSK kann auch nicht mit dem Argument bejaht werden, dass vor dem Holocaust eine beträchtliche Anzahl von jiddisch sprechenden Menschen in Deutschland lebten und diese daher Teil des deutschen Kulturkreises sei, da diese Sprache in vielen Staaten vor allem Osteuropas, aber auch in Nordamerika vertreten ist und es daher an der vom Gesetz vorausgesetzten erforderlichen Abgrenzbarkeit fehlen würde.

Der Senat sah keine Veranlassung, den vom Kläger geäußerten Beweisanregungen zu folgen und in Archiven in P., der U., beim Jüdischen Historischen Institut in W. sowie beim Bundesarchiv in K. nach Informationen über die Familienstämme unter dem Familiennamen des Klägers zu forschen. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt zwar von Amts wegen, es ist jedoch an Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Insbesondere muss das Gericht nicht nach Tatsachen forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalls keine Anhaltspunkte bieten (siehe BSGE 87, 132, 138; 36, 107, 110). Insbesondere ist nicht erkennbar, in welcher Form in diesen Archiven sich Dokumente finden lassen sollten, die einen überwiegenden Gebrauch der deutschen Sprache des Klägers zum streiterheblichen Zeitpunkt belegen sollten. Dass der Kläger auch deutsch mit seinem Umfeld gesprochen hat, ist nicht streitig, fraglich ist jedoch, ob dies auch überwiegend der Fall war, was kaum durch Dokumente der Familienchronik belegt werden kann.

Ist damit die Zugehörigkeit zum dSK nicht glaubhaft gemacht, scheidet nicht nur eine Berücksichtigung von Beitragszeiten über § 17a FRG, sondern auch über § 1 FRG iVm § 20 WGSVG aus (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Juni 2007 – L 4 RA 129/04).

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben und war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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