S 16 AS 2698/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 16 AS 2698/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Bei im Einzelfall ausgeschöpften konservativen Maßnahmen kann bei anhaltenden Brust- und Halswirbelsäulenbeschwerden ein Anspruch auf eine Brustverkleinerung bestehen.

 

Tenor:

 

 Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 23.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2020 verurteilt, der Klägerin eine stationäre Brustverkleinerungsoperation beidseitig als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

 

Gründe:

 

          Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine Brustverkleinerung.

 

Die 197xx geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie beantragte im November 2019 bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine beidseitige Brustverkleinerung.

Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam nach persönlicher Untersuchung zu dem Ergebnis, die Voraussetzungen für die Leistung seien nicht erfüllt. Es werde vorrangig eine Gewichtsreduktion angeraten.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.12.2019 den Antrag ab. Zur Begründung ihres hiergegen gerichteten Widerspruchs legte die Klägerin weitere medizinische Befundberichte vor. Dr. xx von der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie, Universitätsklinikum Freiburg, berichtete unter anderem, er gehe von einem Resektionsgewicht von ca. 500g pro Seite aus.

Die Gynäkologin Dr. xx berichtete von rezidivierenden Ekzemen im Bereich der Brustumschlagfalte, einer erheblichen psychischen Belastung durch die Brustgröße und Haltungsschäden. Eine Gewichtsreduktion sei erfolglos durchgeführt worden.

Der erneut beauftragte MDK hielt an seiner bisherigen Einschätzung fest.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.07.2020 – eingegangen beim Klägervertreter am 13.08.2020 – wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Deswegen hat die Klägerin am 10.09.2020 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Es liege eine ausgeprägte Mammahypertrophie vor. Diese verursache anhaltende Rückenschmerzen im Brust- und Halswirbelsäulenbereich. Es bestehe eine deutliche Fehlstatik. Einzige Möglichkeit sei die Brustverkleinerung. Konservative Maßnahmen seien ausgeschöpft und / oder nicht weiter erfolgreich.

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Dr. xx hat weiterhin die Brustverkleinerung befürwortet.

Der Orthopäde Dr. xx hat berichtet, es zeige sich eine Überbelastung der Brustmuskulatur bei deutlich überdehnter interscapulärer Muskulatur und daraus resultierender sternoscapuläer Dysbalance. Es sei davon auszugehen, dass es sich eher um eine Überbelastung der Rückenstreckermuskulatur handele als um eine Haltungsproblematik aufgrund zu schwacher Muskulatur. Es komme auch durch Muskelkettenreaktionen zu Beschwerden an den Füßen. Diese hätten durch eine Stoßwellentherapie letztendlich Linderung erfahren. Er habe Ergotherapie und Krankengymnastik verordnet. Die konservative Therapie sei ausgereizt.

Die Klägerin hat noch eine ambulante Schmerztherapie Anfang 2021 durchgeführt, ohne dass sich die Schmerzen wesentlich gebessert hätten. Wegen der Spondylolisthesis haben im März und Juli 2021 zwei Operationen stattgefunden.

Das Gericht hat dann ein Gutachten durch den Facharzt für Orthopädie Dr. xx eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten folgende Diagnosen gestellt:

- Chronische Schmerzstörung (Schmerzen Hals- und Brustwirbelsäule mit Ausstrahlung in den linken Arm und Hinterkopf) mit somatischen und psychischen Faktoren bei radiologisch nachgewiesenen degenerativen Veränderungen der unteren Hals- und der oberen und mittleren Brustwirbelsäule und Mammahypertrophie bds.

- Zustand nach Morbus Scheuermann mit Hyperkyphose der Brustwirbelsäule (Fehlhaltung der Brustwirbelsäule)

- Rückläufige Lumbalgie bei Zustand nach dorsaler Dekompressionsspondylodese L5 - Si mit Schraubenstabinstrumentation L4S1 am 01.03.2021 wegen Wirbelgleiten L5/S1

- Belastungsschmerzen bei Senk-Spreizfuß und Fersensporn bds.

 

 

Eine Brustverkleinerung könne die Rückenbeschwerden nicht heilen, aber deren Verschlimmerung verhüten und Krankheitsbeschwerden lindern.

Insbesondere in Anbetracht der stattgehabten Operation sei eine Rehabilitationsmaßnahme nach der geplanten operativen Freigabe des Segmentes zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel (geplant Juli 2021) sinnvoll. Allerdings seien die Erfolgsaussichten in Bezug auf die Beschwerden im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule gering.

 

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2020 zu verurteilen, ihr eine stationäre Brustverkleinerungsoperation an beiden Brüsten als Sachleistung zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Sie gehe nicht von ausgeschöpften ambulanten Behandlungsmöglichkeiten aus. Darüber hinaus stehe nicht mit der erforderlichen an mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit fest, dass die Maßnahme den gewünschten Erfolg bringe. Es bestehe pathologisch ein Zusammenhang zwischen der vom MDK festgestellten Adipositas und der Größe der Brust. Somit stünde als weitere Therapieoption auch die Reduzierung des Körpergewichtes zur Diskussion. Die Hypertrophie der Brust sei außerdem nach den Ausführungen von Dr. xx nur eine der Ursachen für die Schmerzen in der Hals- und Brustwirbelsäule. Somit sei zumindest zweifelhaft, ob eine Besserung der Beschwerden nach der Brustverkleinerung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintritt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte Bezug genommen

 

Entscheidungsgründe

Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Sozialgerichtsgesetz – SGG) zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 23.12.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.07.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Gewährung einer Brustverkleinerung als Sachleistung.

Rechtsgrundlage für diesen Anspruch ist § 27 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V. Danach haben gesetzlich Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Diese Voraussetzungen liegen vor:

Zwar ergibt sich nicht schon allein im Hinblick auf die Größe der Brüste an sich eine behandlungsbedürftige Krankheit, da es sich nach den insoweit übereinstimmenden medizinischen Einschätzungen aller Ärzte nicht um eine sogenannte Gigantomastie handelt und auch nach den vorhandenen Unterlagen keine Hautveränderungen bestehen, die sich nicht mit dermatologischer Behandlung therapieren ließen.

Allerdings bestehen nach den schlüssigen und gut nachvollziehbaren Feststellungen des Dr. xx in seinem Gutachten, denen das Gericht folgt, bei der Klägerin unter anderem chronische Schmerzen in der Hals- und Brustwirbelsäule mit Ausstrahlung in den linken Arm und Hinterkopf mit radiologisch nachgewiesenen degenerativen Veränderungen der unteren Hals- und der oberen und mittleren Brustwirbelsäule, eine Fehlhaltung der Brustwirbelsäule sowie Lendenwirbelsäulenbeschwerde (gebessert nach Operationen) vor.

Jedenfalls für die erstgenannten Beschwerden der Klägerin ist nach Überzeugung der Kammer (auch) die Größe der Brüste ursächlich. Dr. xx bejaht im konkreten Fall der

 

Klägerin die Ursächlichkeit in seinem Gutachten ausdrücklich. Das ist angesichts der auch von dem behandelnden Orthopäden Dr. xx geschilderten übermäßigen Belastung der Hals- und Brustwirbelsäule, der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Hebel-/ bzw. Pendelwirkung der großen Brüste und dem Beginn der Beschwerden mit dem Brustwachstum für die Kammer plausibel und gut nachvollziehbar.

Hinsichtlich der Erfolgsaussicht der Brustverkleinerung schließt sich die Kammer ebenfalls dem Gutachten von Dr. xx an, der nachvollziehbar ausführt, dass zwar eine Heilung der Krankheiten durch die Brustverkleinerung nicht möglich, aber deren Verschlimmerung verhütet und Beschwerden gelindert werden.

Schließlich ist die Maßnahme zur Überzeugung der Kammer auch notwendig. Andere, gleich wirksame (ambulante) Maßnahmen stehen nicht mehr zur Verfügung. Soweit der MDK auf eine Gewichtsreduktion verweist, so ist einzuwenden, dass selbst bei der vom MDK empfohlenen bzw. angenommenen Gewichtsabnahme von 12 kg nicht das von den plastischen Chirurgen angegebene Resektionsgewicht von 500 g pro Seite erreicht werden würde. Darüber hinaus wäre bei gängigen BMI-Rechnern unter Einbeziehung des Geschlechts und des Alters bei einer Gewichtsabnahme von 9 kg bereits Normalgewicht erreicht. Dies würde – die Richtigkeit der Ausführungen des MDK zum Zusammenhang zwischen Gewichtsabnahme und Brustvolumen (1kg Gewichtsabnahme bedeute 20g Verlust Brustgewicht) unterstellt – bedeuten, dass die Differenz zum angestrebten Resektionsgewicht noch größer wäre.

Des Weiteren ist die Kammer davon überzeugt, dass die ambulanten Möglichkeiten im konkreten Falle der Klägerin hinreichend ausgeschöpft sind. Wie sich der sachverständigen Zeugenaussage von Dr. xx sowie den Therapieberichten der leitenden Ergotherapeutin xx entnehmen lässt, hat die Klägerin bereits Krankengymnastik und insbesondere intensives spezielles Rückenkräftigungstraining in der Dr. xx angegliederten Praxis mit unzureichendem Ergebnis absolviert; ebenso wie eine ambulante Schmerztherapie.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtskraft
Aus
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