L 3 AS 1169/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 As 191/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 1169/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Trotz des erheblichen Anstiegs der Inflation spätestens seit März 2022 liegt eine Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums durch die gesetzliche Höhe des Regelbedarfs (Stufe 1) jedenfalls für Leistungsbezieher, die in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II fallen, in dem den Monat Juli 2022 umfassenden Bewilligungszeitraum nicht vor. Ob bereits eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter besteht, kann dann dahinstehen, da die Schaffung des § 73 SGB II jedenfalls eine hinreichende zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 144) darstellt.

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18.03.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe des Anspruchs des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) für die Zeit vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022.

Der 1968 geborene Kläger bezieht laufend SGB II-Leistungen von dem Beklagten. Auf den Weiterbewilligungsantrag des Klägers vom 14.08.2021 bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 30.08.2021 SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 727,26 € für die Zeit vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022. Die Leistungshöhe setzte sich aus 446,- € Regelbedarf, 10,26 € Mehrbedarf bei dezentraler Warmwassererzeugung und 271,- € Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) zusammen, wobei auf die Grundmiete 120,- € und auf die Heiz- und Nebenkosten 151,- € entfielen.
 
Am 27.09.2021 erhob der Kläger hiergegen Widerspruch und trug vor, u.a. wegen Corona seien die Lebenshaltungskosten – vor allem für Lebensmittel – erheblich gestiegen. Er begehre daher eine Erhöhung des monatlichen Betrages um 200,- €. Das sei angemessen.
 
Mit Änderungsbescheid vom 27.11.2021 erhöhte der Beklagte den Regelbedarf für die Zeit ab 01.01.2022 auf monatlich 449,- €, passte den Mehrbedarf bei dezentraler Warmwassererzeugung auf 10,33 € an und setzte die SGB II-Leistungen für die Zeit vom 01.01.2022 bis zum 30.09.2022 i.H.v. 730,33 € neu fest.
 
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2021 als unbegründet zurück. Für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch in Gestalt eines pandemiebedingten Mehrbedarfs von monatlich 200,- € sei keine Anspruchsgrundlage im materiellen Sozialversicherungsrecht oder in ähnlichen Gesetzen erkennbar. Anhaltspunkte für eine falsche Entscheidung seien weder genannt, noch aus den Unterlagen ersichtlich. Der angefochtene Bescheid entspreche den gesetzlichen Anforderungen. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhielten Arbeitslosengeld II. Die Leistungen umfassten den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung (§ 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB II). Die Höhe des Regelbedarfes zur Sicherung des Lebensunterhaltes ergebe sich aus der Bekanntmachung über die Regelbedarfe des jeweiligen Jahres. Im streitgegenständlichen Zeitraum betrage er monatlich 446,- € für den Kläger (alleinstehende Person; § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Zu berücksichtigen seien ferner gemäß §§ 19, 22 SGB II auch die angemessenen KdU. Bei Leistungsberechtigten werde ein Mehrbedarf anerkannt, soweit Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtungen erzeugt werde (dezentrale Warmwassererzeugung) und deshalb keine Bedarfe für zentral bereitgestelltes Warmwasser nach § 22 SGB II anerkannt würden (§ 21 Abs. 7 SGB II). Es errechne sich somit ein Leistungsanspruch für den Zeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 i.H.v. monatlich 727,26 €. Hilfsweise sei anzumerken, dass dem Kläger mit Bescheid vom 07.05.2021 eine Einmalzahlung der mit der COVID-19-Pandemie im Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen i.H.v. 150,- € für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 bewilligt worden sei. Ein Mehrbedarf gem. § 21 Abs. 6 SGB II scheide aus, da es sich bei dem vom Kläger geltend gemachten Bedarf (Lebensmittel und weitere Artikel des täglichen Lebens) um Bedarfe handle, die vom Regelbedarf umfasst seien.
 
Hiergegen hat der Kläger am 20.01.2022 Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass die „gesetzlichen Anforderungen“, auf die sich der Beklagte berufe, unrealistisch und in der Praxis nicht umsetzbar seien. Es gebe eine wesentliche Verteuerung der einfachsten Lebensmittel und die höchste Inflation seit 30 Jahren. Der Gesetzgeber solle ein Jahr Hauswirtschaft machen, um zu lernen, was ein Haushalt brauche. Er beantrage eine angemessene Erhöhung.

Nach Anhörung der Beteiligten mit Schreiben vom 28.02.2022 hat das SG Stuttgart die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.03.2022 abgewiesen. Zur Begründung hat es auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen und ausgeführt, der Beklagte habe die gesetzlichen Bestimmungen rechtsfehlerfrei angewandt und die zur Auslegung der Vorschriften entwickelten Grundsätze zutreffend dargestellt. Der Kläger mache insbesondere keinen atypischen Bedarf geltend, der nicht schon über den Regelbedarf, sondern bei Vorliegen der Voraussetzungen als Mehrbedarf zu decken wäre. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe den Regelbedarf im SGB II für die ab 01.01.2011 festgesetzten SGB II-Leistungen für verfassungsgemäß erachtet. Die Anpassung der Regelbedarfe an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten sei durch § 20 Abs. 1a SGB II nach den Vorgaben des BVerfG neu geregelt und insbesondere auf die Grundlage eines förmlichen Gesetzes gestellt worden. Dass die Höhe der Regelbedarfe nicht in Gesetzesform geregelt sei, sei unbedenklich und mache die jeweils einschlägige betragsmäßige Festschreibung der Leistungshöhe nicht zu untergesetzlichem Recht. Nur ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger im Mai 2021 für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 zum Ausgleich der mit der Covid-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung i.H.v. 150,- € (vgl. § 70 SGB II) erhalten habe. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 22.03.2022 zugestellt worden.

Hiergegen hat der Kläger am 19.04.2022 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Die angekündigte Begründung ist nicht erfolgt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Stuttgart vom 18.03.2022 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021 zu verurteilen, ihm weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. monatlich 200,- € für den Zeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
 
             die Berufung des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
 
Zur Begründung beruft er sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und die überzeugenden Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.


Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.

1. Gegenstand des Verfahrens sind der Gerichtsbescheid des SG Stuttgart vom 18.03.2022 und der Bescheid des Beklagten vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021, mit dem der Beklagte die Gewährung zusätzlicher SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- € abgelehnt hat. Da der Kläger im Berufungsverfahren keinen konkreten Antrag gestellt hat, ist sein Begehren sachdienlich auszulegen (vgl. § 153 Abs. 1 i.V.m. § 123 SGG). Dem Vortrag im Widerspruchs- und Klageverfahren zufolge begründet der Kläger seinen Anspruch auf höhere Leistungen mit gestiegenen Lebenshaltungskosten – vor allem für Lebensmittel – und der Inflation. Dem Begehren ist daher eine Beschränkung des Streitgegenstands insoweit zu entnehmen, als KdU, die sich beim Kläger gegenüber dem vorangegangenen Bedarfszeitraum nicht erhöht haben, sondern weiterhin insgesamt 271,- € zuzüglich des Mehrbedarfs für Warmwasserversorgung betragen, nicht im Streit stehen, was auch nach der Neufassung des SGB II zum 01.01.2011 möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 12.11.2015 – B 14 AS 34/14 R, juris Rn. 11 m.w.N.). Der Klagezeitraum ist auf den Zeitraum des Bewilligungszeitraumes des angefochtenen Bescheides begrenzt. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG), da das Begehren des Klägers auf die Auszahlung von weiteren Leistungen gerichtet ist.

2. Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Das SG Stuttgart hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 30.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 27.11.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf weitere SGB II-Leistungen i.H.v. monatlich 200,- €.

a. In dem streitigen Bewilligungszeitraum vom 01.10.2021 bis zum 30.09.2022 hat der Kläger die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II erfüllt, da er das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat sowie erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 2 SGB II ist. Er ist auch hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und § 9 Abs. 1 SGB II, da er über kein bedarfsdeckendes Einkommen im Sinne von § 11 SGB II verfügt. Nach § 67 Abs. 1, Abs. 2 SGB II ist für den hier streitigen Bewilligungszeitraum zu vermuten, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist. Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4, Abs. 4a und 5 SGB II greifen nicht zu Ungunsten des Klägers ein.

b. Der Beklagte hat die Höhe der SGB II-Leistungen zutreffend festgesetzt, wobei die KdU hier nicht Streitgegenstand sind.

aa) Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf die Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens (§ 20 Abs. 1 Satz1 SGB II). Die Höhe des dem Kläger zustehenden Regelbedarfs richtet sich nach § 20 Abs. 1a Satz 1 SGB II. Danach wird der Regelbedarf in Höhe der jeweiligen Regelbedarfsstufe (§ 20 Abs. 2 bis 4 SGB II) entsprechend § 28 SGB XII in Verbindung mit dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) und den §§ 28a und 40 SGB XII in Verbindung mit der für das jeweilige Jahr geltenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung anerkannt. Der Kläger lebt alleine und der Beklagte hat entsprechend der Regelbedarfsstufe 1 Leistungen für Oktober bis Dezember 2021 i.H.v. 446,- € und ab Januar 2022 i.H.v. 449,- € bewilligt. Dass der Beklagte ihm mit den angefochtenen Bescheiden weniger als die gesetzlich vorgesehenen Leistungen gewährt hätte, behauptet der Kläger auch nicht.

bb) Die Höhe des Regelbedarfs genügt im streitigen Zeitraum nach Überzeugung des Senats auch weiterhin den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

(1) Der Staat hat im Rahmen seines Auftrags zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins erfüllt werden, wenn einem Menschen die hierfür erforderlichen notwendigen materiellen Mittel weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus seinem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber steht hinsichtlich der Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 133, 134; Urteil vom 5.11.2019 – 1 BvL 7/16, juris Rn. 118, 119). Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 81).

Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des BVerfG (vgl. u.a., Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, juris; Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris) ist der Senat überzeugt, dass die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des SGB II grundsätzlich den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe genügt. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt. Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, Rn. 89; Beschluss vom 27.07.2016 – 1 BvR 371/11, Rn. 52).

Ein Begehren höherer Leistungen „ins Blaue“ hinein, ohne Angabe greifbarer Umstände, wäre vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG rechtsmissbräuchlich und vom Gericht nicht im Wege der Amtsermittlung weiterzuverfolgen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.06.2017 – L 18 AS 392/17, juris Rn. 16).

(2) Vorliegend macht der Kläger geltend, dass die „gesetzlichen Anforderungen“ unrealistisch seien, da es eine wesentliche Verteuerung der Lebensmittel und die höchste Inflation seit 30 Jahren gebe. Zutreffend ist, dass die Erhöhung der Regelbedarfsstufen hinter der aktuellen Inflation zurückgeblieben ist. So sind die Regelbedarfsstufen nach § 8 des RBEG zum 01.01.2022 nur um 0,76 % erhöht und die Ergebnisse nach § 28 Abs. 5 SGB XII auf volle Euro gerundet worden (vgl. § 1 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2022 vom 13.10.2021), während laut dem statistischen Bundesamt der Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahresmonat wie folgt gestiegen ist: Oktober 2021 +4,5 %, November 2021 +5,2 %, Dezember 2021 +5,3 %, Januar 2022 +4,9 %, Februar 2022 +5,1 %, März 2022 +7,3 %, April 2022 +7,4 %, Mai 2022 +7,9 % und Juni 2022 +7,6% (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). Die durchschnittliche Preissteigerung hat damit von Oktober 2021 bis Dezember 2021 5 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 6,7 % betragen. In Bezug auf die Regelsatzhöhe haben sich die Kosten damit durchschnittlich um 22,30 €/Monat für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 und um 26,88 €/Monat (446 x 0,067 = 29,88 € abzgl. Regelsatzerhöhung von 3,- €) für den Zeitraum von Januar bis Juni 2022 erhöht.

Soweit der Kläger auf die Nahrungsmittelpreise abgestellt hat, hat im Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember 2021 eine durchschnittliche Preissteigerung um 4,97 % und von Januar 2022 bis Juni 2022 eine Steigerung um durchschnittlich 8,15 % stattgefunden (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Basisdaten/vpi041j.html). In Bezug auf die vom Kläger angeführte Verteuerung der Lebensmittelpreise berechnet sich im Hinblick auf die Abteilung 1 und 2 (Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren) des § 5 Abs. 1 RBEG damit eine Erhöhung der Ausgaben für den Zeitraum von Oktober 2021 bis Dezember i.H.v. durchschnittlich 7,50 € pro Monat (4,97 % von 151,- €) und für den Zeitraum von Januar 2022 bis Juni 2022 i.H.v. 11,16 € pro Monat (8,15 % - 0,76 % = 6,48 % von 151,- €).

Diese durchschnittliche Preissteigerung führt nach Überzeugung des Senats in dem hier streitigen Zeitraum für den Kläger noch nicht zu einer Unterschreitung des menschwürdigen Existenzminimums.

Es kann vorliegend dahinstehen, ob der erhebliche Anstieg der Inflation spätestens seit März 2022 bedingt durch die kumulierten Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und des Ukraine-Krieges inzwischen zu einer offensichtlichen und erheblichen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für regelbedarfsrelevante Güter geführt hat, da eine vom BVerfG geforderte zeitnahe Reaktion des Gesetzgebers (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144) erfolgt ist, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung in Höhe von 200,- € gewährt wird. Der Kläger fällt in den Anwendungsbereich des § 73 SGB II, da er im Juli 2022 leistungsberechtigt nach dem SGB II ist und sein Bedarf sich nach der Regelbedarfsstufe 1 richtet. Die Einmalzahlung erfolgt zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen (Wortlaut der Norm), die beispielsweise für den Kauf spezieller Hygieneprodukte und Gesundheitsartikel (insbesondere FFP2-Masken), aber auch in Folge der pandemiebedingten Inflation entstanden sind (BR-Drucksache 125/22, S. 14). Die ursprünglich i.H.v. 100,- € vorgesehene Leistung ist vor dem Hintergrund des Beschlusses in der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 07.04.2022 über die Einbeziehung der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in den Anwendungsbereich des SGB II auf 200,- € verdoppelt worden und soll dem unmittelbaren pauschalen Ausgleich für etwaige aktuell bestehende finanzielle Mehrbelastungen in Anbetracht aktueller Preissteigerungen dienen (BT-Drucksache 20/1768, S. 27).

Mit der Einmalzahlung i.H.v. 200,- € hat der Gesetzgeber nicht die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen abgewartet (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, juris Rn. 144), sondern die durch die Pandemie und die Inflation entstandenen zusätzlichen Kosten bei den SGB II-Leistungen berücksichtigt. Ein Anspruch des Klägers auf weitere Leistungen besteht nicht.

cc) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II.

Ähnlich wie bei der Regelung des § 70 SGB II (Einmalzahlung i.H.v. 150,- € für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021) stellt sich auch bei dem neu geschaffenen § 73 SGB II die Frage, ob dieser als spezielle Regelung die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II – zumindest für den Monat Juli 2022 – verdrängt (so zu § 70 SGB II: SG Karlsruhe, Beschluss vom 24.03.2021 - S 12 AS 711/21 ER, juris Rn. 30; Blüggel in jurisPR-SozR 6/2021 Anm. 1) oder ob § 21 Abs. 6 SGB II subsidiär neben § 73 SGB II zur Anwendung kommen kann (so zu § 70 SGB II: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 70, 1. Überarbeitung, Stand: 30.05.2022, Rn. 16; Voelzke in: Hauck/Noftz SGB II, Stand: Oktober 2021, § 70, Rn. 17; Eicher/Luik/Harich/Blüggel, 5. Aufl. 2021, SGB II § 70 Rn. 3, 6). Da die Voraussetzungen für die Gewährung eines Mehrbedarfs i.S.v. § 21 Abs. 6 SGB II vorliegend im gesamten streitigen Zeitraum nicht vorliegen, kommt es hier darauf jedoch nicht an.

Nach § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II in der hier anwendbaren Fassung des RBEG vom 09.12.2020 (BGBl. I S. 2855) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).

Es handelt sich bei § 21 Abs. 6 SGB II um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, deren Tatbestandsvoraussetzungen nach dem Willen des Gesetzgebers eng und strikt sind (BT-Drucksache 17/1465, S. 8). Auch das BVerfG ging in seinem Urteil vom 09.02.2010 von „engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen“ aus (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09, juris Rn. 208). Diese Maßgabe ist bei der Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II zu beachten. Die Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 204 ff.; BT-Drucks 17/1465, S. 8). Sie hat nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs auszugleichen (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.02.2022 – L 19 AS 1236/21, juris Rn. 44; Knickrehm in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 21 Rn. 64 ff.). Hinzu kommt, dass es sich bei steigenden Lebensmittelpreisen oder anderen zusätzlichen Kosten aufgrund einer weltweiten Pandemie nicht um einen Bedarf „im Einzelfall“ i.S.d. § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 SGB II handelt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

4. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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