L 9 AL 106/22 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AL 74/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 106/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 23.05.2022 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Sperrzeitbescheid vom 20.04.2022 wird für die Zeit ab dem 13.04.2022 angeordnet. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vom 13.04.2022 bis zum 23.05.2022 Arbeitslosengeld iHv 53,41 € täglich zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragssteller ½ der Rechtsverfolgungskosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt vom 01.03.2022 bis zum 23.05.2022 die Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 53,41 € im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Er wendet sich gegen die Feststellung einer Sperrzeit für diesen Zeitraum.

Der 1972 geborene Antragsteller ist seit dem 01.04.2000 mit einer Eventagentur selbständig. Nach seinen Angaben musste er diese Tätigkeit aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen im Veranstaltungssektor im März 2020 einstellen. Ab Juli 2020 war er bei der Transporte F GmbH als Berufskraftfahrer beschäftigt. Die Arbeitszeit richtete sich nach den Anforderungen des Unternehmens. Am 31.01.2022 kündigte der Antragsteller das Arbeitsverhältnis zum 28.02.2022.

Am 15.02.2022 meldete sich der Antragsteller zum 01.03.2022 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Er gab an, er müsse sich zeitlich einschränken, weil er zurück in seine Selbständigkeit wolle. Bei einem Vorsprachtermin am 17.02.2022 erläuterte er ergänzend, eine Ausübung der selbständigen Tätigkeit als Nebengewerbe sei nicht möglich, da er die Auskunft erhalten habe, dass Corona-Hilfen nur für hauptberuflich Selbständige ausgezahlt werden. Mit Bescheid vom 06.04.2022 bewilligte die Antragsgegnerin Arbeitslosengeld als Vorschuss ab dem 24.05.2022.

Mit Bescheid vom 20.04.2022 stellte die Antragsgegnerin den Eintritt einer Sperrzeit und das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vom 01.03.2022 bis zum 23.05.2022 fest und minderte die Gesamtanspruchsdauer um 90 Tage. Mit einem weiteren Bescheid vom 20.04.2022 bewilligte die Antragsgegnerin Arbeitslosengeld ab dem 24.05.2022 in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 53,41 €.

Gegen beide Bescheide erhob der Antragsteller Widerspruch. Er habe seine selbständige Tätigkeit coronabedingt einstellen müssen und sei gezwungen gewesen, als Berufskraftfahrer zu arbeiten. Zu keinem Zeitpunkt sei beabsichtigt gewesen, diese Tätigkeit dauerhaft in Vollzeit auszuüben. Er habe immer zurück in seine Selbständigkeit gewollt. Sein Arbeitgeber sei nicht bereit gewesen, die Stundenzahl zu reduzieren. Die selbständige Tätigkeit werde aktuell in einem Umfang von unter 15 Wochenstunden ausgeübt. Die Verlängerung der Einschränkungen im Event-Bereich aufgrund der fortbestehenden Corona-Situation sei erst bei einer Bundespressekonferenz am 16.02.2022 bekannt geworden und für ihn Ende Januar 2022 noch nicht absehbar gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2022 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Der Antragsteller habe seine Arbeitslosigkeit grob fahrlässig herbeigeführt. Konkret nachweisbare Anhaltspunkte dafür, dass er nach Ende des Beschäftigungsverhältnisses nahtlos seine selbständige Tätigkeit hätte wiederaufnehmen können, ohne in die Arbeitslosigkeit zu fallen, habe es nicht gegeben. Ein wichtiger Grund für die Eigenkündigung liege nicht vor. Auch wenn der Antragsteller in seine aufgrund der Pandemie ruhende selbständige Tätigkeit habe zurückkehren wollen, sei es ihm bei Abwägung seiner Belange mit den Interessen der Beitragszahler zumutbar gewesen, das Beschäftigungsverhältnis fortzuführen.

Mit E-Mail vom 02.05.2022 legte der Antragsteller ein Schreiben eines Kunden seiner Firma vom 25.02.2022 vor, in dem dieser die Verschiebung von ursprünglich für März 2022 und April 2022 „in Kooperation“ mit dem Antragsteller geplanter „Projekte aufgrund der aktuell Pandemielage“ auf einen späteren Zeitpunkt mitteilt.

Gegen den Bescheid vom 20.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2022 hat der Antragsteller am 10.05.2022 bei dem Sozialgericht Aachen Klage erhoben (S 10 AL 76/22). Gleichzeit hat er beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 01.03.2022 bis zum 23.05.2022 Arbeitslosengeld in Höhe eines täglichen Leistungssatzes von 53,41 € zu zahlen. Er hat eine eidesstattliche Versicherung vom 06.05.2022 vorgelegt, in der er erklärt, er sei durch die Corona-Pandemie gezwungen gewesen, seine selbständige Tätigkeit ruhen zu lassen. Die Beschäftigung bei der Fa. F GmbH sei ursprünglich als geringfügige Beschäftigung geplant gewesen, sei dann aber aufgrund des hohen Bedarfs an Fahrern in eine Vollzeittätigkeit umgewandelt worden. Im Dezember 2021 habe es so ausgesehen, dass die Pandemie Ende Februar 2022 beendet sein würde, so dass er seine Eventagentur ab 01.03.2002 habe „wieder hochfahren“ wollen. Die geplanten Events seien dann jedoch von den Auftraggebern abgesagt bzw. verschoben worden, so dass er gezwungen gewesen sei, sich arbeitslos zu melden. Aufgrund der Sperrzeit und einer Nichtauszahlung von Corona-Hilfen sei er nunmehr mittellos.

Mit Beschluss vom 23.05.2022 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es fehle an einem Anordnungsanspruch, weil der Antragsteller „in keinster Weise Gründe dargelegt“ habe, aus denen sich eine Rechtswidrigkeit der Sperrzeit ergebe. Darüber hinaus fehle es an einem Anordnungsgrund, weil Leistungen nach dem SGB II nicht beantragt worden seien.

Gegen den am 24.05.2022 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 14.06.2022 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung verweist er auf seine eidesstattliche Versicherung vom 06.05.2022.

 

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die beantragte einstweilige Anordnung abgelehnt.

Das gegen den Sperrzeit- und Bewilligungsbescheid gerichtete Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ist als Kombination eines Antrags gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Sperrzeitbescheid vom 20.04.2022 und eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auszulegen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist erforderlich, weil die Klage gegen den Sperrzeitbescheid, der das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld feststellt, gem. § 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG, § 336a Satz 2 SGB III keine aufschiebende Wirkung hat (Bayerisches LSG Beschluss vom 20.11.2013 – L 10 AL 334/13 B ER ; Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86a Rn 14). Daneben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes erforderlich, wenn die begehrte Leistung - wie hier - von der Verwaltung nicht oder nicht im beantragten Umfang bewilligt worden ist (Sächsisches LSG Beschluss vom 17.02.2021 – L 3 AL 5/21 B ER; Bayerisches LSG Beschluss vom 20.11.2013 – L 10 AL 334/13 B). Denn mit einer Entscheidung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG wird lediglich der Sperrzeitbescheid außer Vollzug gesetzt, während der Antragsteller die begehrte Zahlung von Arbeitslosengeld für die Dauer der Sperrzeit wegen der fehlenden behördlichen Bewilligung über eine Entscheidung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG erlangt. Für den statthaften einstweiligen Rechtsschutz ist hierbei unbeachtlich, ob die Sperrzeitfeststellung – wie hier - den Beginn des Leistungszeitraums betrifft, oder ob die laufende Leistung bereits vor Beginn der Sperrzeit gezahlt worden ist.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Antrag ist nach summarischer Prüfung begründet, wenn das private Interesse des Anfechtenden, den Vollzug des angefochtenen Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen (privates Aussetzungsinteresse), gegenüber dem öffentlichen Interesse an dessen Sofortvollzug (öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt. Die danach nötige Interessenabwägung zwischen dem privaten Aussetzungsinteresse und dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat sich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, weil am Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides in der Regel kein öffentliches Interesse besteht, während bei einem rechtmäßigen Bescheid das öffentliche Interesse angesichts der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit in der Regel vorrangig ist. Neben der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens sind alle sonstigen Umstände des Einzelfalles, wie etwa die wirtschaftlichen Verhältnisse, Grundrechte und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den Abwägungsprozess einzubeziehen. Bei offenen Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens müssen unter Berücksichtigung der Vorgaben des Gesetzgebers zu dem Regel-Ausnahmeverhältnis die sonstigen, gegen den Sofortvollzug sprechenden Umstände in jedem Fall höher zu bewerten sein, als die für ihn sprechenden, sonstigen Umstände, da es andernfalls bei der bereits gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit bleibt (Sächsisches LSG Beschluss vom 17.02.2021 – L 3 AL 5/21 B ER; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12e ff).

Nach summarischer Prüfung bestehen so große Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sperrzeitbescheides jedenfalls für die Zeit ab dem 13.04.2022, dass dessen Vollzug insoweit auszusetzen ist. Rechtsgrundlage für die von der Beklagten verfügte Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe ist § 159 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 SGB III. Nach § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB III ruht der Anspruch für die Dauer einer Sperrzeit, wenn der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III ua vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst oder durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe). Die Sperrzeit beginnt mit dem Tag nach dem Ereignis, das die Sperrzeit begründet, § 159 Abs. 2 Satz 1 SGB III, also im Fall des § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III mit dem ersten Tag der Beschäftigungslosigkeit. Die Dauer der Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe beträgt zwölf Wochen, § 159 Abs. 3 Satz 1 SGB III.

Zwar hat der Antragsteller das Beschäftigungsverhältnis mit der Transporte F GmbH durch seine Kündigung selbst gelöst und dadurch seine Arbeitslosigkeit selbst herbeigeführt. Ohne die Kündigung hätte das Beschäftigungsverhältnis über den 28.02.2022 hinaus fortbestanden.

Fraglich ist aber bereits, ob der Antragsteller die Arbeitslosigkeit grob fahrlässig herbeigeführt hat. Aus der von ihm mit der E-Mail vom 02.05.2022 übersandten Mitteilung seines Kunden „N-GmbH“ ergibt sich (mindestens im Sinne der Glaubhaftmachung), dass ursprünglich in Kooperation mit ihm im März 2022 und Juni 2022 Veranstaltungsprojekte geplant waren. Der Antragsteller durfte daher im Januar 2022 noch davon ausgehen, dass er ab März 2022 wieder mit der Eventagentur tätig werden kann. Erst mit Erhalt des Schreibens der Fa. N vom 25.02.2022 hatte er nach Aktenlage sichere Kenntnis davon, dass die Projekte verschoben werden müssen.

Aber auch wenn angesichts der unsicheren Pandemielage Anfang des Jahres 2022 von einer grob fahrlässigen Herbeiführung der Arbeitslosigkeit ausgegangen werden sollte, ist die Annahme einer besonderen Härte iSd § 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 b) SGB III mit der Folge einer Verkürzung der Sperrzeit auf sechs Wochen geboten. Eine besondere Härte liegt vor, wenn nach den Umständen des Einzelfalles die Regeldauer der Sperrzeit im Hinblick auf die für den Eintritt der Sperrzeit maßgebenden Tatsachen objektiv als unverhältnismäßig anzusehen ist (Karmanski in Brand, SGB III, 9. Aufl., § 159 Rn. 159 mwN). Der Senat hält es für mindestens unverhältnismäßig hart, den Versuch eines vor der coronabedingten Schließung seines Geschäfts erfolgreich selbständig Tätigen, diese Tätigkeit wieder aufzunehmen, mit der Regelsperrzeit von zwölf Wochen zu sanktionieren, wenn – wie hier – ein berechtigter Grund zu der Annahme vorlag, dass die selbständige Tätigkeit wieder aufgenommen werden kann. Eine Reduzierung der Sperrzeit auf sechs Wochen führt zu einem Anspruch auf Arbeitslosengeld ab dem 13.04.2022. Insoweit ist die Beschwerde erfolgreich.

Abschließend ist im Hauptsacheverfahren schließlich zu prüfen, ob der Antragsteller sich auf einen wichtigen Grund berufen kann. Über das Vorliegen eines wichtigen Grundes ist unter Berücksichtigung des Ziels der Sperrzeitregelung zu entscheiden. Diese dient dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor Risikofällen, deren Eintritt der Versicherte selbst zu vertreten hat; eine Sperrzeit soll nur eintreten, wenn dem Versicherten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden kann (vgl. BSG Urteil vom 21.07.2009 – B 7 AL 6/08 R mwN). Das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des Sperrzeitrechts beurteilt sich dabei nicht nach den subjektiven Vorstellungen des Versicherten; vielmehr muss dieser objektiv gegeben sein (BSG Urteil vom 17.10.2007 – B 11a AL 51/06 R). Dabei muss der wichtige Grund nicht nur die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses, sondern gerade auch den konkreten Zeitpunkt der Lösung decken (BSG Urteil vom 21.10.2003 - B 7 AL 92/02 R). Bei der Beurteilung des wichtigen Grundes ist zu berücksichtigen, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG (Eigentumsgarantie) unterfällt (BVerfG Beschlüsse vom 10.02.1987 – 1 BvL 15/83 und vom 12.02.1986 – 1 BvL 39/83). Folge davon ist, dass die Sperrzeitfeststellung die Wertentscheidungen des Grundgesetzes, den Gleichheitssatz, die Freiheitsgrundrechte und die Prinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit beachten muss. Jede Sperrzeitfeststellung muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, die erzielte Belastung muss in einem angemessenen Verhältnis zu den mit ihr verfolgten Interessen der Versichertengemeinschaft stehen. Bei der Interessenabwägung darf ein wichtiger Grund daher nur verneint werden, wenn dies erforderlich ist, um die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung zu erhalten (in diesem BVerfG Urteil vom 28.02.1980 – 1 BvL 17/77 zum Versorgungsausgleich in der gesetzlichen Rentenversicherung).

Zwar ist der Wunsch allein, eine selbständige Tätigkeit zu beginnen, kein iSd § 159 SGB III ausreichender wichtiger Grund für die Aufgabe einer Beschäftigung. Das allgemeine Interesse sich beruflich weiterzuentwickeln, neu zu orientieren und gegebenenfalls eine selbständige Tätigkeit aufzunehmen, wiegt nicht höher als das Interesse der Solidargemeinschaft, zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit dem Arbeitnehmer abzuverlangen, ein zumutbares Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen. So besteht nach § 2 Abs. 5 Nr. 1 SGB III die Verpflichtung der Arbeitnehmer, zur Vermeidung oder zur Beendigung von Arbeitslosigkeit ein zumutbares Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen. Grundsätzlich ist es einem Arbeitnehmer damit zuzumuten, seine berufliche Neuorientierung während seiner Freizeit oder im Urlaub zu forcieren oder die selbständige Tätigkeit zunächst als Nebentätigkeit auszuüben. Auch der Wechsel in ein zeitlich weniger beanspruchendes Arbeitsverhältnis oder eine Rücksprache beim Arbeitgeber zur beabsichtigten weiteren beruflichen Entwicklung kann der Arbeitsaufgabe gegenüber vorrangig sein (Sächsisches LSG Urteil vom 08.02.2018 –  L 3 AL 204/16).

Fraglich ist jedoch, ob diese allgemeinen Grundsätze, die der Senat teilt, auch gelten, wenn eine erfolgreiche und bedarfsdeckende Selbständigkeit wegen der Corona-Pandemie und den mit dieser zusammenhängenden Kontaktbeschränkungen vorübergehend aufgegeben werden musste, der Betroffene eine Zwischenbeschäftigung gesucht hat, und nunmehr – nach weitgehendem Wegfall der Beschränkungen – die zuvor ausgeübte selbständige Tätigkeit wieder aufnehmen will. Der Gesetzgeber hat in vielfacher Hinsicht Maßnahmen ergriffen, um die sozialen Härten, die gerade für Selbständige mit Ausbruch der Corona-Pandemie einhergegangen sind, abzumildern. Beispielsweise ist auf die durch das Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) eingefügte Regelung des § 67 SGB II zu verweisen, der weitgehende Erleichterungen beim Bezug von Grundsicherung nach dem SGB II eingeführt hat und dessen wesentlich Bestimmungen nach wie vor Gültigkeit haben. Der Gesetzgeber hat diese erheblichen Erleichterungen u.a. damit begründet, dass für einzelne Branchen die Maßnahmen zur Vermeidung von COVID-19 in Teilen zum erheblichen bis vollständigen Ausfall des Geschäftsbetriebs inklusive kurzfristigen Wegfalls sämtlicher bestehender Aufträge geführt haben. Als Gründe werden zB die Absage von Messen und Veranstaltungen angeführt (BT-Drs. 19/18107 S. 1). Ein erkennbares Ziel der sozialpolitischen Maßnahmen des Gesetzgebers und der Bundesregierung war, vor Ausbruch der Corona-Pandemie erfolgreiche Geschäftsbetriebe zu erhalten. Diese  gesetzgeberische Wertung darf bei der Abwägung zum wichtigen Grund iSd Sperrzeitrechts nicht außer Acht gelassen werden.

Da hiernach der Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld jedenfalls nicht für die gesamte Dauer der festgestellten Sperrzeit ruht, hat der Antragsteller insoweit auch einen Anordnungsanspruch in Bezug auf eine einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von Arbeitslosengeld für diese Dauer glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Dieser folgt aus der besonderen prozessualen Situation, wonach sich der primäre einstweilige Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG richtet. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Sperrzeitbescheid wäre ohne eine Auszahlungspflicht sinnlos und hat deshalb zur Folge, dass dem Antragsteller die rechtswidrig vorenthaltenen Leistungen nachgezahlt werden müssen. Angesichts der Kombination des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 1 SGG und § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist der Grundsatz, das Leistungen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erst ab Antragseingang bei Gericht, hier also ab dem 10.05.2022, zugesprochen werden (hierzu zB LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 04.10.2018 – L 2 AS 14444/18 B ER), vorliegend nicht einschlägig.

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.

 

 

Rechtskraft
Aus
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