L 9 SO 281/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SO 140/18
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 281/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 21/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15.06.2021 geändert.

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 23.09.2015 und der Änderungsbescheide vom 23.06.2016 und 26.09.2016 sowie des Bescheides vom 23.11.2017, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 sowie des Bescheides vom 25.06.2018 verurteilt, von Oktober 2015 bis September 2016 weitere Unterkunftskosten iHv monatlich insgesamt 125,24 € und von Oktober 2017 bis September 2018 weitere Unterkunftskosten iHv monatlich insgesamt 115,24 € zu übernehmen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt nach einem angenommenen Teilanerkenntnis weitere Unterkunftskosten für Oktober 2015 bis September 2016 iHv monatlich 125,24 € und für Oktober 2017 bis September 2018 iHv monatlich 115,24 €.

 

Bei der 1972 geborenen Klägerin besteht eine chronifizierte therapieresistente Zwangsneurose mit depressiven Phasen und Halluzinationen. Sie hat Angst vor Bakterien und Verschmutzung sowie den Zwang, sich ständig waschen zu müssen. Sie hat gemeinsam mit dem Zeugen T eine 1998 geborene Tochter, mit der sie in den hier streitigen Zeiträumen in einer Wohnung lebte. Die Klägerin ist voll erwerbsgemindert und bezieht eine entsprechende Rente, die sich ab dem 01.07.2015 auf 537,81 € belief. Darüber hinaus erhält sie Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2, ein entsprechendes Anerkenntnis hatte die Pflegekasse Anfang 2019 nach einer Beweisaufnahme in einem sozialgerichtlichen Verfahren (Sachverständigengutachten Dr. X) abgegeben und die Leistungen rückwirkend ab Januar 2017 nachgezahlt. Über weiteres Einkommen und anzurechnendes Vermögen verfügt sie nicht. Die Tochter bezog in den streitigen Zeiträumen Grundsicherung nach dem SGB II. Der Zeuge bewohnt eine eigene Wohnung, er ist die Pflegeperson der Klägerin und sucht diese regelmäßig auf.

 

Die Klägerin bewohnte mit ihrer Tochter zunächst eine Wohnung in der Y-Straße 12 in H. Am 29.01.2015 beantragte sie bei der Beklagten die Zustimmung zum Umzug in eine Wohnung in der I-Straße 5 in H. Diese Wohnung hat eine Wohnfläche von 72 qm und kostet im gesamten streitige Zeitraum monatlich 375,24 € zzgl. 120 € Abschlag für die Betriebskosten, insgesamt 495,24 € zuzüglich der Heizkosten. Die bisherige Wohnung sei von Schimmel befallen, dies sei nicht zumutbar, zumal die Tochter Asthmatikerin sei. Die neue Wohnung sei vollständig saniert, dies sei erforderlich, da sie aufgrund ihrer Zwangsstörung nicht in einer Wohnung leben könne, in der sie das Gefühl habe, dass diese von anderen Personen beschmutzt worden sei. Die Klägerin legte auf Anforderung der Beklagten mit Schreiben vom 19.02.2015 Atteste über ihre Zwangserkrankung und das Asthma der Tochter vor. Der Außendienst der Beklagten bestätigte nach einem Hausbesuch am 19.02.2015 den Schimmelbefall der bisherigen Wohnung. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Zustimmung zum Umzug mit Bescheid vom 07.04.2015 ab. Grundsätzlich werde dem Umzug zugestimmt, aber die Wohnung müsse angemessen sein. Die Mietobergrenze liege bei 290 € Kaltmiete zzgl. 80 € Betriebskosten und werde durch die neue Wohnung deutlich überschritten. Die Klägerin mietete die Wohnung zum 01.05.2015 an und teilte der Beklagten am 16.06.2015 ihren Umzug mit. Sie beglich die Unterkunftskosten in den hier streitigen Zeiträumen vollständig mit einem Darlehen des Zeugen, das sie diesem Anfang 2019 aus der Nachzahlung des Pflegegeldes zurückzahlte.

 

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 23.09.2015 Grundsicherung nach dem SGB XII für Oktober 2015 bis September 2016. Dabei berücksichtigte sie monatlich mit 185 € die Hälfte der nach ihrer Auffassung angemessenen Unterkunftskosten von 370 €. Der Tochter wurden vom Jobcenter ebenfalls 185 € Unterkunftskosten bewilligt. Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 16.10.2015 Widerspruch ein. Die Rente der Klägerin erhöhte sich zum 01.07.2016 auf 559,39 €. Mit Änderungsbescheid vom 23.06.2016 rechnete die Beklagte ab dem 01.07.2016 die Rentenerhöhung auf die Leistungen an. Mit Änderungsbescheid vom 26.09.2016 bewilligte die Beklagte ab dem 01.09.2016 zusätzlich die Hälfte der tatsächlichen Heizkosten. Mit Bescheid vom 23.11.2017 bewilligte die Beklagte Grundsicherung für Oktober 2017 bis September 2018. Dabei berücksichtigte sie mit 190 € die Hälfte der nach ihrer Auffassung angemessenen Unterkunftskosten von 380 € und die Hälfte der Heizkosten iHv 83 €. Der Tochter wurden vom Jobcenter ebenfalls 190 € Unterkunftskosten bewilligt. Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 07.12.2017 Widerspruch ein.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2018, der Klägerin zugestellt am 22.05.2018, wies die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 23.09.2015 und 23.11.2017 zurück. Die Unterkunftskosten der Klägerin seien nicht angemessen, da nach den für die Beklagte geltenden Richtlinien die Mietobergrenze für einen Zweipersonen-Haushalt bis zum 30.06.2017 bei 370 € (Grundmiete 290 € und Betriebskosten 80 €) gelegen habe und ab dem 01.07.2017 bei 380 € (Grundmiete 300 € und Betriebskosten 80 €) liege. Entsprechende Leistungen seien der Klägerin bewilligt worden. Der Umstand, dass die Klägerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes auf eine vollständig renovierte Wohnung angewiesen sei, stelle keinen Grund dar, auf Dauer unangemessene Unterkunftskosten anzuerkennen.

 

Die Klägerin hat am 28.05.2018 Klage erhoben. Ihre Unterkunftskosten seien vollständig zu übernehmen, da sie angemessen seien. Sie sei auf eine renovierte Wohnung angewiesen.

 

Die Rente der Klägerin hat sich am 01.07.2018 auf 587,10 € erhöht. Mit Änderungsbescheid vom 25.06.2018 hat die Beklagte ab dem 01.07.2018 die Rentenerhöhung angerechnet.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 23.09.2015 und 23.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 zu verurteilen, ihr höhere Leistungen nach dem SGB XII in Form der tatsächlichen Unterkunftskosten für den Zeitraum von Oktober 2015 bis September 2016 und für den Zeitraum von Oktober 2017 bis September 2018 zu gewähren.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Ein weitergehender Anspruch auf Unterkunftskosten bestehe nicht, da die angemessenen Kosten auf der Grundlage eines schlüssigen Konzepts ermittelt worden seien (Bezugnahme auf BSG Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R, LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 05.12.2019 – L 7 AS 1764/18). Der Umstand, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen nur eine renovierte Wohnung beziehen könne, führe nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn es stünden ausreichend renovierte Wohnungen zur Verfügung und der Klägerin könne eine Beihilfe für eine Einzugsrenovierung bewilligt werden.

 

Das Sozialgericht hat Herrn T als Zeugen vernommen. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

 

Mit Urteil vom 15.06.2021, der Klägerin zugestellt am 30.06.2021, hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 23.09.2015 und 23.11.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 verurteilt, der Klägerin von Oktober 2015 bis September 2016 und von Oktober 2017 bis September 2018 weitere Leistungen für die Unterkunft iHv weiteren 22,50 € zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei nur im Hinblick auf die Nebenkosten begründet. Die Klägerin habe nur einen Anspruch auf Übernahme der angemessenen Unterkunftskosten, da die Beklagte dem Umzug nicht zugestimmt habe. Die monatlichen Unterkunftskosten der Klägerin iHv 495,24 Euro (375,24 € Grundmiete sowie 120 € Betriebskosten) seien nicht angemessen. Die Kaltmiete sei von der Beklagten zutreffend iHv 290 € bzw. ab dem 01.07.2017 iHv 300 € bewilligt worden, denn insoweit beruhe die Angemessenheitsgrenze der Beklagten auf einem schlüssigen Konzept. Demgegenüber sei bei den Betriebskosten der Landesbetriebskostenspiegel Nordrhein-Westfalen zugrunde zu legen. Dieser enthalte einen angemessenen Wert von 1,92 € pro Quadratmeter, sodass für einen Zwei-Personen-Haushalt mit einer angemessenen Wohnfläche von 65 m² ein Wert von 125 € anzuerkennen sei. Dieser Betrag liege 45 € über der Angemessenheitsgrenze der Beklagten, wovon die Klägerin die Hälfte als zusätzliche Leistungen beanspruchen könne. Die Unterkunftskosten der Klägerin seien auch konkret unangemessen. Die Beklagte habe nachgewiesen, dass angemessene Wohnungen in ausreichender Anzahl verfügbar seien, darunter auch renovierte Wohnungen. Darüber hinaus sei nach Absprache mit der Beklagten eine Unterstützung für eine weitere ggf notwendige Einzugsrenovierung mit zB einer gesamten Desinfektion der Wohnung durchaus möglich gewesen. Die Klägerin habe diese Absprache jedoch nicht gesucht. Sie habe auch nicht nachgewiesen, dass die weiteren verfügbaren Wohnungen ihren Anforderungen nicht genügten und die von ihr angemietete Wohnung als einzige dem tatsächlich erforderlichen Standard der Sanierung entsprach und dieser Standard in den anderen kostengünstigeren Wohnungen auch durch weitere Renovierungsmaßnahmen nicht erreichbar gewesen wäre. Darüber hinaus habe sie durch ihren Umzug gezeigt, dass ihr grundsätzlich ein Umzug in eine andere Wohnung zumutbar gewesen sei. Die Zahlungen des Zeugen in Höhe von monatlich 100 € führten nicht zu einer Bedarfsdeckung, da es sich lediglich um ein Darlehen gehandelt habe, das die Klägerin zwischenzeitlich zurückgezahlt habe.

 

Die Klägerin hat am 12.07.2021 Berufung eingelegt. Die Unterkunftskosten seien vollständig zu übernehmen. Die Klägerin habe alles Mögliche getan, um eine kostengünstige und ihrem Krankheitsbild entsprechende Wohnung zu finden. Dies werde bestätigt durch die Aussage des Zeugen.

 

Die Beklagte hat den geltend gemachten Anspruch in der mündlichen Verhandlung am 08.09.2022 insoweit anerkannt, als sie die die Hälfte der tatsächlichen Heizkosten bereits ab dem 01.10.2015 übernimmt. Die Klägerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15.06.2021 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23.09.2015 und der Änderungsbescheide vom 23.06.2016 und 26.09.2016 sowie des Bescheides vom 23.11.2017, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018 sowie des Bescheides vom 25.06.2018 zu verurteilen, von Oktober 2015 bis September 2016 weitere Unterkunftskosten iHv monatlich insgesamt 125,24 € und von Oktober 2017 bis September 2018 weitere Unterkunftskosten iHv monatlich insgesamt 115,24 € zu übernehmen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Beklagte hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Ein Anspruch auf weitergehende Unterkunftskosten bestehe nicht.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen T. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die Berufung ist gemäß §§ 143, 144 SGG statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden (§§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 2 SGG). Die Berufungssumme des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG iHv 750 € wird erreicht und die Berufung betrifft laufende Leistungen für mehr als ein Jahr.

 

II. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Unrecht nur teilweise stattgegeben. Die Klägerin hat Anspruch auf weitere Unterkunftskosten für Oktober 2015 bis September 2016 iHv monatlich insgesamt 125,24 € und für Oktober 2017 bis September 2018 iHv monatlich insgesamt 115,24 €.

 

1. Streitgegenstand des Verfahrens sind die Bescheide vom 23.09.2015 und vom 23.11.2017 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2018, mit denen die Beklagte Leistungen für Oktober 2015 bis September 2016 und Oktober 2017 bis September 2018 bewilligt hat. Es sind nur die Leistungen für Unterkunft und Heizung streitig. Bei diesen handelt es sich um abtrennbare selbstständige Ansprüche (BSG Urteil vom 14.04.2011 – B 8 SO 18/09 R) und die Klägerin hat ihr Begehren im erstinstanzlichen Verfahren entsprechend beschränkt. Dementsprechend werden die Änderungsbescheide, die die Unterkunfts- und Heizkosten ändern, gem. § 86 SGG bzw. § 96 SGG, Gegenstand des Verfahrens. Dies ist bei den Bescheiden vom 23.06.2016 und 25.06.2018, mit denen jeweils die Rentenerhöhungen angerechnet worden sind, und dem Bescheid vom 26.09.2016, geändert durch das Teilanerkenntnis vom 08.09.2022, mit dem die Heizkosten ab Oktober 2015 anerkannt worden sind, der Fall. Die Klägerin macht ihren Anspruch zutreffend mit der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) geltend.

2. Die Klägerin erfüllte in den streitigen Zeiträumen die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 und 3 SGB XII. Sie hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, konnte ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 SGB XII bestreiten und war voll erwerbsgemindert. Die Beklagte ist sachlich und örtlich zuständig (§ 46b Abs. 1 SGB XII iVm § 1 Abs. 3 AG-SGB XII NRW). Die Klägerin hatte ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Diese ist der örtliche Träger der Sozialhilfe (§§ 3 Abs. 2, 97 Abs. 1 SGB XII). Abweichende landesrechtliche Regelungen bestehen nicht.

 

3. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 35 SGB XII). Zur Berechnung dieser Bedarfe sind die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, deren Angemessenheit und ihre Verteilung auf die in der Wohnung lebenden Personen zu ermitteln sowie ggfs. weitere mögliche Einwände zu prüfen (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R). Die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft belaufen sich von Oktober 2015 bis September 2016 und von Oktober 2017 bis September 2018 durchgehend auf 495,24 € (Kaltmiete 375,24 € zzgl. 120 € Nebenkosten). Eine Zusicherung zur Übernahme dieser Kosten hat die Beklagte nicht erteilt, so dass diese nicht allein deshalb zu übernehmen sind (§ 35 Abs. 2 Satz 4 SGB XII).

 

Die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung hat nach ständiger Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R mwN) in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Nettokaltmiete und kalten Betriebskosten (Bruttokaltmiete), zu ermitteln. Sodann ist die konkrete Angemessenheit dieser Aufwendungen– insbesondere auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit der notwendigen Einsparungen einschließlich eines Umzugs – zu prüfen. Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der sog. Produkttheorie (Wohnungsgröße in Quadratmeter multipliziert mit dem Quadratmeterpreis) in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen. Zunächst ist die (abstrakt) angemessene Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en) zu bestimmen, sodann der angemessene Wohnungsstandard. Anschließend ist die aufzuwendende Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept unter Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten zu ermitteln (BSG Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R mwN).

Die von der Beklagten zugrunde gelegten Angemessenheitswerte für die Kaltmiete beruhen nach der Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 05.12.2019 – L 7 AS 1764/18) und des BSG (Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R) auf einem schlüssigen Konzept. Zwar hat das BSG das Verfahren hinsichtlich der kalten Betriebskosten an das LSG zurückverwiesen, die weiteren Ermittlungen haben jedoch nicht zu einem weitergehenden Anspruch geführt, so dass die Klage in dem Verfahren L 7 AS 145/21 ZVW zurückgenommen wurde.

Im Rahmen der abstrakten Angemessenheit folgt ein Anspruch auf höhere Unterkunftskosten nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung auf eine vollständig sanierte Wohnung angewiesen ist. Bei der Bestimmung der für die abstrakte Angemessenheit maßgeblichen Faktoren (abstrakt angemessener Wohnfläche, maßgeblicher Vergleichsraum und abstrakt angemessener, im Quadratmeterpreis ausgedrückter Wohnungsstandard) sind persönliche Lebensumstände des Hilfebedürftigen, auch wenn sie für bestimmte Personengruppen typisch sein mögen, nicht einzubeziehen (BSG Urteile vom 02.09.2021 – B 8 SO 13/19 R und vom 22.08.2012 – B 14 AS 13/12 R).

Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 SGB XII sind die Aufwendungen für die Unterkunft, die den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf anzuerkennen. solange es der betroffenen Person nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Die Vorschrift begründet eine Obliegenheit zur Kostensenkung (BSG Urteil vom 27.02.2008 - B 14/7b AS 70/06 R; BSG Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 30/08 R jeweils zur Parallelvorschrift im SGB II). Es ist in diesem Rahmen zu überprüfen, ob Kostensenkungsmaßnahmen sowohl subjektiv zumutbar als auch objektiv möglich sind (BSG Urteil vom 15.06.2016 – B 4 AS 36/15 R). Dabei können die persönlichen Lebensumstände des Leistungsberechtigten zu erheblich eingeschränkten Obliegenheiten zur Kostensenkung führen (BSG Urteil vom 02.09.2021 – B 8 SO 13/19 R).

Die Klägerin trifft keine Obliegenheit zur Kostensenkung. Sie kann keine andere Wohnung anmieten, da sie dazu aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage ist. Dabei kann offen bleiben, ob es bereits an der Fähigkeit fehlt, ein geordnetes Gespräch zu führen, wie es der Sachverständige Dr. X in seinem Gutachten vom 24.10.2018 beschreibt. Danach sei die Klägerin nicht in der Lage gewesen, ihren Tagesablauf zu schildern, sondern sei immer wieder auf die Themen Verschmutzung und Bakterien zurückgekommen. Dem steht allerdings entgegen, dass die Klägerin nach der Aussage des Zeugen durchaus Telefongespräche mit potentiellen Vermietern führen könnte und auch in der Lage sei, sich schriftlich zu äußern. Letztlich kommt es darauf jedoch nicht an, denn die Klägerin ist jedenfalls ohne Hilfe nicht in der Lage, die notwendigen Wohnungsbesichtigungen durchzuführen. Das folgt sowohl aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. X vom 24.10.2018, der der Klägerin jegliche soziale Kompetenzen abspricht, als auch aus der Aussage des Zeugen. Dieser hat bekundet, dass die Klägerin aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage sei, sich allein eine potentielle neue Wohnung anzusehen. Der Senat hält diese Aussage für glaubhaft, denn der Zeuge hat die bestehende Krankheit der Klägerin bei seiner Vernehmung nicht dramatisiert, sondern ihre Kompetenzen im Hinblick auf Telefongespräche und schriftliche Mitteilungen eingeräumt. Vor diesem Hintergrund gibt es keinen Grund, seiner Aussage im Hinblick auf die Wohnungsbesichtigungen nicht zu glauben.

Ist die Klägerin zur selbstständigen Durchführung von Wohnungsbesichtigungen nicht in der Lage, kann sie auch keine Wohnung anmieten. Die Besichtigungen dienen nicht nur dazu, dass der Mietinteressent die Wohnung in Augenschein nehmen kann, sondern auch dazu, dass sich der potentielle Vermieter ein Bild von dem Interessenten machen kann. Vor diesem Hintergrund ist ein persönliches Erscheinen zwingend erforderlich, um eine Wohnung anmieten zu können.

In einer solchen Konstellation, in der die Klägerin selbst keine andere Wohnung anmieten kann, sind die Unterkunftskosten zu übernehmen, bis der Betroffene entsprechende Unterstützung bei der Wohnungssuche tatsächlich erhält (Krauß in: Hauck/Noftz SGB II, § 22, Rn. 176). Die Beklagte hätte der Klägerin daher eine Unterstützung bei der Wohnungssuche anbieten müssen. Sie wusste spätestens aufgrund des ärztlichen Attestes vom 11.02.2015, dass bei der Klägerin eine Zwangsstörung besteht und sie daher auf eine voll renovierte Wohnung angewiesen ist. Es war für die Beklagte auch zu erkennen, dass die Klägerin Hilfe bei der Wohnungssuche benötigt, jedenfalls hätte das ärztliche Attest sie zu entsprechenden Nachfragen veranlassen müssen. Das ist jedoch nicht erfolgt, stattdessen wurde der Antrag auf Zustimmung zum Umzug (erst) mit Bescheid vom 07.04.2015 abgelehnt. Die Unterstützung durch die Beklagte hätte zB so aussehen können, dass sie ihr selbst eine Wohnung vermittelt, die den Anforderungen der Klägerin entspricht. Oder sie hätte ihr Sozialleistungen bewilligen können, mit denen sie entsprechende Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Die Übernahme von Wohnungsbeschaffungskosten, zB für einen Makler, ist in § 35 Abs. 2 Satz 5 SGB XII ausdrücklich vorgesehen. Darüber hinaus kommen zB unterstützende Maßnahmen durch den Sozialhilfeträger auf Grundlage von §§ 67, 68 SGB XII (Krauß in: Hauck/Noftz SGB II, § 22, Rn. 176) und Hilfen bei der Beschaffung, dem Umbau, der Ausstattung und der Erhaltung einer Wohnung, die den besonderen Bedürfnissen der behinderten Menschen entspricht, nach 55 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX aF (jetzt § 113 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX iVm § 77 Abs. 1 SGB IX) in Betracht. Ohne dass dies im vorliegenden Verfahren zu entscheiden wäre, hatte die Klägerin Anspruch auf solche Leistungen, denn bei ihrer Zwangsstörung handelt es sich um eine wesentliche Behinderung iSv § 53 Abs. 1 SGB XII aF (jetzt § 99 Abs. 1 SGB IX) iVm mit § 3 Eingliederungshilfe-Verordnung. Erst wenn ihr Leistungen bewilligt werden, mit denen sie eine andere bedarfsgerechte Wohnung finden kann, kommt der Verweis auf eine abstrakt angemessene Wohnung in Betracht.

 

Das Ergebnis würde sich nicht ändern, wenn die Klägerin keine angemessene Wohnung finden konnte, weil der Zeuge T ihr bei der Wohnungssuche nicht in ausreichendem Maße geholfen hat. Offen bleiben kann, ob ein etwaiges Verschulden innerhalb von Einstandsgemeinschaften nach § 27 Abs. 2 SGB XII zugerechnet werden muss, denn eine solche lag nicht vor. Die Obliegenheit zur Kostensenkung trifft gem. § 35 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII nur Personen, deren Einkommen und Vermögen nach § 27 Absatz 2 zu berücksichtigen sind. Nach § 27 Abs. 2 SGB XII sind bei nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern das Einkommen und Vermögen beider Ehegatten oder Lebenspartner gemeinsam zu berücksichtigen. Gleiches gilt für Personen, die in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft leben, denn diese dürfen gem. § 20 SGB XII hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfangs der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden als Ehegatten. Zwischen der Klägerin und dem Zeugen besteht jedoch weder eine Ehe, noch eine eheähnliche Gemeinschaft. Letzteres scheitert schon daran, dass die beiden nicht in einem Haushalt zusammenleben (vgl. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II). Ein etwaiges Verschulden des Zeugen T bei der Wohnungssuche könnte der Klägerin daher nur zugerechnet werden, wenn sie ihn zur Erfüllung ihrer Obliegenheiten gegenüber der Beklagten eingeschaltet hätte. Dafür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte, sondern der Zeuge ist tätig geworden, um der Klägerin und der gemeinsamen Tochter zu helfen. Es handelt sich um eine reine Gefälligkeit, die nicht zur Grundlage einer Verschuldenszurechnung gemacht werden kann.

 

Der Anwendung der Schutzvorschrift des § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII steht nicht entgegen, dass diese Bestimmung grundsätzlich voraussetzt, dass der Leistungsberechtigte die unangemessen teure Wohnung bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit bereits bewohnt (dazu Wrackmeyer-Schoene in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, § 35 Rn. 49). Der Wortlaut der Vorschrift lässt auch eine weitere Auslegung zu. Entscheidend für die Anwendung der Schutzvorschrift ist allein, dass es der betroffenen Person – wie hier – nicht möglich ist (ohne Hilfe) die unangemessenen Unterkunftskosten zu senken.

 

4. Der Anspruch der Klägerin beinhaltet die vollständige Übernahme der Kosten, soweit diese nicht bereits durch die Beklagte und für die Tochter durch das Jobcenter getragen worden sind. Daraus ergibt sich im Zeitraum Oktober 2015 bis September 2016 ein Anspruch iHv monatlich 125,24 € und für Oktober 2017 bis September 2018 iHv monatlich 115,24 €. Zwar sind die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach gefestigter Rechtsprechung des BSG im Regelfall unabhängig von Alter und Nutzungsintensität anteilig pro Kopf aufzuteilen, wenn Hilfebedürftige eine Unterkunft gemeinsam mit anderen Personen nutzen (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R). Hintergrund für dieses auf das BVerwG (Urteil vom 21.01.1988 – 5 C 68/85) zurückgehende "Kopfteilprinzip" sind Gründe der Verwaltungsvereinfachung sowie die Überlegung, dass die gemeinsame Nutzung einer Wohnung durch mehrere Personen deren Unterkunftsbedarf dem Grunde nach abdeckt und in aller Regel eine an der unterschiedlichen Intensität der Nutzung ausgerichtete Aufteilung der Aufwendungen für die Erfüllung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht zulässt.

 

Eine Ausnahme vom Kopfteilprinzip ist indes anerkannt bei einem über das normale Maß hinausgehenden Bedarf einer der in der Wohnung lebenden Person wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R). Dies setzt voraus, dass nach den Umständen des Einzelfalls tatsächliche Aufwendungen eindeutig dem zB wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit spezifischen Unterkunftsbedarf eines bestimmten Bewohners zugeordnet werden können (Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 403/20; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23. Mai 2018 – L 13 AS 59/16). So liegt der Fall hier, denn die weitergehenden Kosten, die lediglich aufgrund der fehlenden Fähigkeit der Klägerin, eine andere Wohnung anzumieten zu übernehmen sind, können ausschließlich ihr als behinderungsbedingtem Mehrbedarf zugeordnet werden.

5. Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die Unterkunftskosten im streitigen Zeitraum aufgrund der Zuwendung eines Darlehens durch den Zeugen bereits vollständig beglichen sind. Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen bei einer rechtswidrigen Ablehnung eine zwischenzeitliche Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter nicht entgegen (BSG Urteil vom 26.10.2017 – B 8 SO 11/16 R mwN; für Eingliederungshilfeleistungen BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R).

 

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

III. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

 

 

 

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Aus
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