L 9 R 528/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 R 2729/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 528/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zur Rücknahme einer rechtswidrigen Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bei einer Syndikusrechtsanwältin nach Aufhebung ihrer Zulassung durch die Rechtsanwaltskammer

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. Oktober 2019 abgeändert und der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2018 aufgehoben, soweit dieser die Befreiung von der Versicherungspflicht in dem Bescheid vom 8. Dezember 2017 für die Zeit vom 9. Februar 2016 bis 27. Januar 2018 zurückgenommen hat.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt 2/3 der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.


Tatbestand

Streitig ist die Rücknahme der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vom 09.02.2016 bis 31.08.2018.

Die Klägerin ist seit dem 23.10.2007 Mitglied bei der Rechtsanwaltskammer S und des Versorgungswerks der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg.

Am 09.02.2016 beantragte sie die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für eine Tätigkeit bei der O GmbH. Das Unternehmen ist im Bereich Datenrettung, Datenlöschung, Datenkonvertierung und Computer-Forensik tätig. Die Klägerin war dort mit Wirkung ab 09.02.2016 als „Rechtsanwalt (Projektanwalt, Document Reviewer)“ zunächst befristet für die Durchführung eines zeitlich begrenzten Projekts eingestellt. Nach dem Arbeitsvertrag vom 08.11.2016 wurde die Klägerin nunmehr unbefristet eingestellt. Das Arbeitsverhältnis endete zum 31.08.2018.

Nach Durchführung des Anhörungsverfahrens nach § 46a Abs. 2 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) ließ die Rechtsanwaltskammer S die Klägerin mit Bescheid vom 10.10.2016 als Syndikusrechtsanwältin zu. Der von der Beklagten eingelegte Widerspruch vom 08.11.2016 hiergegen blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Rechtsanwaltskammer vom 15.02.2017). Die von der Beklagten beim Anwaltsgerichtshof Baden-Württemberg (AGH) hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg (AGH 14/2017 II, Urteil vom 10.11.2017). Die Berufung ließ der AGH nicht zu. In der Rechtsmittelbelehrung des Urteils heißt es insoweit, dass innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils die Zulassung der Berufung beantragt werden könne.

Eine Abschrift über die Verkündung des Urteils am 10.11.2017 unter Wiedergabe des vollständigen Tenors ging bei der Beklagten am 21.11.2017 ein. Das Urteil des AGH wurde der Beklagten am 07.12.2017 zugestellt und ging in der Grundsatzabteilung der Beklagten am 11.12.2017 ein.

Ausweislich der Vermerke der Beklagten in der Akte (Bl. 364 und 366) wandte sich die Klägerin am 27. und 28.11.2017 an die Beklagte und begehrte mit Verweis auf dieses Urteil eine sofortige Entscheidung über den Antrag vom 08.02.2016. In dem Aktenvermerk wurde festgehalten, dass die Klägerin angegeben habe, der AGH habe die Klage abgewiesen, die Beklagte habe keine Möglichkeit, Rechtsmittel hiergegen einzulegen und müsse daher sofort einen Befreiungsbescheid erteilen. Andernfalls werde sie, die Klägerin, Untätigkeitsklage erheben.

Mit Schreiben vom 28.11.2017 teilte die Beklagte der Klägerin in Form einer „Zwischennachricht“ unter Bezugnahme auf das Telefonat mit, dass die Erteilung eines Bescheides über die Befreiung nach Eingang und Auswertung des erwähnten Urteils geprüft werde.

Mit einem an die Klägerin gerichteten Bescheid vom 08.12.2017 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass diese auf deren Antrag für die im Arbeitsvertrag vom 08.02.2016 bezeichnete Tätigkeit bei der  O GmbH, für die eine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin/Syndikusrechtsanwalt nach § 46 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) erteilt wurde, von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit werde. Der Beginn der Befreiung war mit dem 09.02.2016 angegeben worden.

Mit Schreiben vom 18.12.2017 hörte die Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Aufhebung des Bescheides vom 08.12.2017 an. Die Klägerin sei zu Unrecht von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreit worden. Der Bescheid vom 08.12.2017 werde mit Wirkung ab 09.02.2016 nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückgenommen, die Klägerin hätte aufgrund der gegebenen Informationen die Fehlerhaftigkeit des Bescheides gekannt bzw. erkennen müssen. Zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides sei das Urteil noch nicht rechtskräftig gewesen.

Am 22.12.2017 beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des AGH.

Mit Bescheid vom 24.01.2018 nahm die Beklagte den Bescheid vom 08.12.2017 hinsichtlich der Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) für die Zeit ab 09.02.2016 nach § 45 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurück. Der Befreiungsbescheid sei für diesen Zeitraum rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Befreiung nicht vorlagen. Eine Zulassung liege nicht vor, da Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Anwaltsgerichtshofes vom 10.11.2017 eingelegt worden sei. Die Klägerin habe zwar auf den Bestand des Bescheides vertrauen dürfen. Unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme des Bescheides könne dieses Vertrauen aber nicht als schutzwürdig angesehen werden. Die Rücknahmefrist sei gewahrt. Ermessensgründe, die gegen eine Rücknahme sprechen könnten, seien nicht ersichtlich. Im Rahmen der Anhörung seien keine Gründe vorgetragen worden, die der Rücknahme entgegenstünden.

Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch (30.01.2018) machte die Klägerin geltend, auf den Bescheid vertraut zu haben und die nötigen Schritte für eine zeitnahe Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Rentenversicherungsbeiträge eingeleitet zu haben. Ein im Nachgang eingelegter Antrag auf Zulassung der Berufung ändere nichts an der Wirksamkeit des zuvor erlassenen Befreiungsbescheides.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Eine für die Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI für Syndikusanwälte erforderliche Zulassung als Syndikusanwalt für die zu befreiende Tätigkeit durch die Rechtsanwaltskammer liege nicht vor, weil von der Beklagten gegen die von der Rechtsanwaltskammer erteilte Zulassung als Syndikusanwältin Rechtsmittel eingelegt worden seien. Der Bescheid vom 08.12.2017 sei daher rechtswidrig. Die Rücknahme sei zulässig, weil sich die Klägerin nicht auf Vertrauen berufen könne. Aufgrund ihres Bildungs- und Erfahrungsstandes hätte die Klägerin erkennen müssen, dass das Urteil des AGH nicht bereits mit der Verkündung rechtskräftig geworden sei. Insoweit habe keine bestandskräftige Zulassung als Syndikusrechtsanwältin vorgelegen. Auch im Wege des Ermessens sei die Rücknahme gerechtfertigt (wird ausgeführt).

Hiergegen hat die Klägerin am 28.05.2018 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und geltend gemacht, die Beklagte habe sie wirksam von der Rentenversicherungspflicht befreit. Die Rücknahme sei unzulässig gewesen. Sie selbst sowie ihr Arbeitgeber und die T Krankenkasse hätten im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides Vermögensdispositionen getroffen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Es sei auch nicht überzeugend auf den Bildungs- und Erfahrungsstand abzustellen, weil die Beklagte als sachnähere Behörde sich deren Spezialabteilungen bediene, die sich mit einer Vielzahl derart gelagerter Fälle beschäftige, über weitaus speziellere Kenntnisse verfüge und sich bei der Ausübung hoheitlicher Tätigkeit auf speziell hierfür ausgebildete Mitarbeiter zurückgreife. Der Befreiungsbescheid sei nach interner Prüfung erlassen worden. Die Beklagte habe damit nach außen ihr Einverständnis mit der Entscheidung des AGH kundgetan.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen.

Mit Urteil vom 22.10.2019 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die mit Bescheid vom 08.12.2017 verfügte Befreiung der Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt 14.05.2018 rechtswidrig gewesen sei, weil der Bescheid der Rechtsanwaltskammer vom 10.10.2016 über die Zulassung der Klägerin als Syndikusanwältin nicht bestandskräftig geworden sei. Eine Bestandskraft sei auch nicht mit Verkündung (23.10.2017) oder Zustellung (07.12.2017) des Urteils eingetreten, weil die Beklagte am 22.12.2017 die gemäß § 112e BRAO i.V.m. §§ 124, 124a Abs. 4 VwGO statthafte Zulassung der Berufung beantragt habe. Die Stellung des Antrages hemme die Rechtskraft des Urteils (§ 124a Abs. 4 Satz 6 VwGO). Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Beklagten gegen die Zulassung der Klägerin als Syndikusanwältin ende erst mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts (§ 112c Abs. 3 BRAO), mithin mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes (BGH) über den Antrag auf Zulassung der Berufung. Die Klägerin könne sich gegenüber der Beklagten nicht auf Vertrauen berufen, weil sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Als Volljuristin habe ihr bekannt sein müssen, dass die Bestandskraft eines Verwaltungsakts nicht bereits mit seiner Bekanntgabe und die Rechtskraft eines Urteils nicht schon mit dessen Verkündung oder Zustellung eintrete. Anhaltspunkte für eine pflichtwidrige Ausübung des Ermessens seien nicht ersichtlich. Die Klägerin habe fernmündlich zu Unrecht gegenüber dem Beklagten die Unanfechtbarkeit des Urteils behauptet und damit eine wesentliche Ursache für die Rechtswidrigkeit der am 08.12.2017 erteilten Befreiung gesetzt.

Gegen das der Klägerin am 22.01.2020 zugestellte Urteil hat sie am 11.02.2020 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Sie bestreitet die Angaben in den Akten, wonach sie Rechtsrat erteilt und die Beklagte unter Druck gesetzt haben soll. Vielmehr sei ihr mit Schreiben vom 28.11.2017 eine Zwischennachricht der Beklagten zugegangen, wonach unter Bezugnahme auf das Telefonat die Erteilung eines Bescheides über die Befreiung nach Eingang und Auswertung des erwähnten Urteils geprüft werde. Eine Drucksituation, ein falscher Rechtsrat oder unzutreffende Angaben hätten zu keiner Zeit vorgelegen. Sie weist ferner darauf hin, dass sie die Rückzahlung der zu Unrecht abgeführten Beiträge an die Deutsche Rentenversicherung Bund beantragt habe und diese bereits an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Baden-Württemberg erstattet worden seien. Die Beklagte habe diese nicht zurückgefordert. Sie macht geltend, die Rücknahme des Befreiungsbescheides sei formell und materiell rechtswidrig, die Ermessensentscheidung müsse zu ihren Gunsten ausfallen. Die Verbescheidung sei zeitlich nach der Zustellung des Urteils des AGH und deutlich nach ihrem Anruf erfolgt. Mit der Verbescheidung habe die Beklagte zu erkennen gegeben, dass sie die Entscheidung des AGH akzeptiere und habe sich damit aktiv gegen ein Rechtsmittel entschieden. Es sei von einem Anerkenntnis der Beklagten oder einem Rechtsmittelverzicht auszugehen, wonach das Urteil nicht mehr anfechtbar sei. Die Erklärung der Beklagten in der Form des Befreiungsbescheides sei ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, da er auf Basis eines materiell bestandskräftigen Verwaltungsakts (Zulassungsbescheid) ergangen sei. Ein Widerruf sei nicht möglich, da weder eine Bösgläubigkeit gegeben noch das Ermessen rechtmäßig ausgeübt worden sei. Es fehle insbesondere an einer ordnungsgemäßen Anhörung, nachdem die Beklagte weder im weiteren Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit, sowie zur Urteils-, Kritik-, und Einsichtsfähigkeit vorgetragen habe. Der erteilte Befreiungsbescheid habe weder auf ihren Angaben noch auf unrichtigen und unvollständigen Angaben beruht. Der Bescheid sei weit nach ihrem Telefonat und direkt nach Zustellung des Urteils mit Rechtsmittelbelehrung durch das Gericht erfolgt. Sie habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht gekannt und habe diese auch bei Anwendung größter Sorgfalt nicht kennen können. Es liege ihrerseits keine Bösgläubigkeit vor, weshalb die Rücknahme nicht ohne vorherige Güterabwägung erfolgen könne. Darüber hinaus sei ihrem Vertrauen in den Bestand des Befreiungsbescheides Vorrang vor dem Interesse der Beklagten an der Rücknahme einzuräumen. Sie verweist auf Nachteile und Einbußen in der Höhe der später tatsächlich ausbezahlten Rente durch die bereits erfolgte Erstattung der zu Unrecht gezahlten Rentenbeiträge. Die Versichertengemeinschaft würde also höchstens auf hypothetisch mögliche Beitragszahlungen verzichten, falls sich eine Befreiung nachträglich als nicht rechtmäßig herausstellen würde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22. Oktober 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie weist unter dem 03.04.2020 darauf hin, dass der BGH, Senat für Anwaltssachen, aufgrund der mündlichen Verhandlung und durch Urteil vom 09.03.2020 unter Aufhebung des Urteils des AGH Baden-Württemberg vom 10.11.2017 den von der Rechtsanwaltskammer S am 10.10.2016 erteilten Bescheid über die Zulassung der Klägerin als Syndikusanwältin aufgrund ihrer Beschäftigung bei der O GmbH aufgehoben habe. Damit stehe rechtskräftig fest, dass der die Klägerin begünstigende Bescheid vom 08.12.2017 von Anbeginn an rechtswidrig gewesen sei. Die Beklagte habe die Klägerin vor Erlass der Rücknahmeentscheidung ordnungsgemäß angehört, insbesondere darauf hingewiesen, dass die Klägerin die Fehlerhaftigkeit hätte erkennen müssen oder lediglich aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat. Die Zweijahresfrist sei bei einer bereits sechs Wochen nach Erlass des rechtswidrigen Bescheides ergangenen Rücknahmeentscheidungen eingehalten. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des SG sei auch von einer Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin auszugehen. Das Vertrauen habe sich unter Berücksichtigung der bereits am 18.12.2017 erfolgten Anhörung auch nicht derart verfestigen können, dass es höher zu veranschlagen wäre als das öffentliche Interesse an der Rücknahme des mit materiellem Recht nicht vereinbaren Bescheides vom 08.12.2017. Vor dem Hintergrund eines noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens um die Rechtmäßigkeit ihrer Zulassung als Syndikusanwältin habe die Klägerin ohnehin nicht darauf vertrauen dürfen, dass der Bescheid vom 08.12.2017 das letzte Wort der Verwaltung gewesen sei. An der ordnungsgemäßen Ausübung von Ermessen bestehe kein Zweifel. Es liege auch kein Rechtsmittelverzicht oder Anerkenntnis vor. Die Klägerin vermenge das Verfahren nach der BRAO und das Verwaltungsverfahren auf Erteilung eines Befreiungsbescheides nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI. Es sei nicht ersichtlich, dass ein in einem Verwaltungsverfahren rechtswidrig erteilter Verwaltungsakt eine nicht mehr anfechtbare Prozesserklärung wäre.

Die Klägerin hat hierauf nochmals erwidert (Schriftsatz vom 20.07.2020) und daran festgehalten, dass die Befreiung rechtmäßig sei. Die Bindungswirkung des § 46a Abs. 2 Satz 4 BRAO binde die Deutsche Rentenversicherung Bund bei Vorliegen der bestandskräftigen Entscheidung der Rechtsanwaltskammer dahingehend, dass ein Befreiungsbescheid erteilt werden müsse. Die Bindungswirkung besage jedoch nicht, dass eine Befreiung im sozialrechtlichen Verfahren dann nicht erteilt werden dürfe, wenn keine bestandskräftige Entscheidung der Rechtsanwaltskammer vorliege.

Die Beklagte repliziert, dass durch die Entscheidung des BGH nicht nur geklärt sei, dass die Klägerin bei der O GmbH nicht als Syndikusrechtsanwältin gearbeitet habe, sondern inzident und zwingend geklärt sei, dass die Klägerin in dieser Beschäftigung nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterlag. Ein diese Pflicht verdrängender Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht sei nicht ersichtlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die nach § 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe gemäß § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung hat im tenorierten Umfang Erfolg. Das angefochtene Urteil des SG vom 22.10.2019 und der Bescheid der Beklagten vom 24.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, soweit die Beklagte den Bescheid vom 08.12.2017 (auch) mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen hat.

Streitgegenstand des Verfahrens ist die mit diesem Bescheid verfügte Zurücknahme des Bescheides vom 08.12.2017 über die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI mit Wirkung ab 09.02.2016. Rechtsgrundlage für diese ist § 45 Abs. 1, Abs. 2 bis 4 SGB X. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig (Abs. 2 Satz 2), wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit
1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat,
3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Gemäß § 45 Abs. 3 SGB X kann ein rechtwidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nach Abs. 2 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. § 45 Abs. 4 bestimmt, dass nur in den Fällen des Absatzes 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird.

Der Bescheid über die Befreiung von der Versicherungspflicht für die Zeit der Beschäftigung für die O  GmbH ist aus der hier zugrunde zu legenden Sicht der Klägerin (vgl. BeckOGK/Steinwedel, 01.03.2022, SGB X § 44 Rn. 21) ein begünstigender Verwaltungsakt, dem aufgrund des Bezuges auf den Zeitraum einer Beschäftigung bei einem bestimmten Arbeitgeber Dauerwirkung zukommt. Dieser Bescheid ist rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgenommene Befreiung von der Versicherungspflicht ist § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI: Danach werden von der Versicherungspflicht Beschäftigte für die Beschäftigung befreit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.

Beschäftigte und selbstständig Tätige haben daher Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht nur für die Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit, wegen der sie gleichzeitig kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind und auf Grund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) sind (Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Berchtold, 7. Aufl. 2021, SGB VI § 6 Rn. 8).

Die Erfüllung der Merkmale des § 46 Abs. 2 BRAO führt dabei noch nicht zur Annahme i.S.d. Abs. 1, die betreffende Person übe eine Beschäftigung aus, die eine Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung begründe. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist vielmehr die förmliche Zulassung. Die Zulassung erfolgt nach § 46a BRAO durch die örtliche Rechtsanwaltskammer. Sie gilt nur für das jeweilige Arbeitsverhältnis und erstreckt sich nicht auf andere gleichgeartete Tätigkeiten. Die Zulassungsentscheidung hat rechtsgestaltende Wirkung. Mit ihr stellt die zuständige Rechtsanwaltskammer nach den Regeln des Berufsrechts, auf welche der sozialversicherungsrechtliche Tatbestand des § 6 Bezug nimmt, grundsätzlich das Vorliegen einer Tätigkeit fest, die zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führt (BeckOGK/Gürtner, 1.7.2021, SGB VI § 6 Rn. 7d).

Nach § 46a Abs. 2 Satz 4 ist der Träger der Rentenversicherung bei seiner Befreiungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 SGB VI an die (formell und materiell) bestandskräftige Entscheidung der Rechtsanwaltskammer gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 gebunden. Verbindliche Wirkung hat auch eine gerichtliche Entscheidung die im Rechtsbehelfsverfahren nach § 112a BRAO ergeht (Weyland/Träger, 10. Aufl. 2020, BRAO § 46a Rn. 30). Mit dem rechtskräftigen Urteil des BGH, Senat für Anwaltssachen, vom 09.03.2020 (Az: AnwZ [Brfg] 1/18) ist der Zulassungsbescheid der Rechtsanwaltskammer Stuttgart vom 10.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.02.2017 aufgehoben. Der BGH verneinte die Zulassungsvoraussetzungen insbesondere mit Blick auf § 46 Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 BRAO, wonach es sich um bei der von der Klägerin ausgeübten Tätigkeit nicht um eine anwaltliche Tätigkeit in Rechtsangelegenheiten des Arbeitgebers handelte. Mit der Aufhebung der Zulassungsentscheidung fehlt es damit an der nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erforderlichen Mitgliedschaft. Die Klägerin ist dadurch nicht wegen der Beschäftigung bei der O GmbH Mitglied der berufsständischen Kammer, der Rechtsanwaltskammer geworden.

Der Bescheid vom 08.12.2017 war auch bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig. Die Zulassungsentscheidung der Rechtsanwaltskammer S war während des Laufs der Rechtsmittelfrist gegen die Entscheidung des AGH (gerichtet auf die Zulassung der Berufung gemäß § 112e BRAO) noch nicht bestandskräftig. Eine die Beklagte bindende Zulassung lag während des Laufs der Rechtsmittelfrist nicht vor. Dem Rechtsbehelf kam zudem nach § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung zu (Weyland/Träger, 10. Aufl. 2020, BRAO § 46a Rn. 29). Es liegt daher auch keine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 48 SGB X durch die Entscheidung des BGH vor. So liegt auch dann ein Fall des § 45 SGB X vor, wenn die Verwaltung einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts erlässt und sich erst später herausstellt, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war (vgl. BSG, Urteil vom 21.06.2011 - B 4 AS 21/10 R -, BSGE 108, 258). Die Rechtswidrigkeit beurteilt sich aus heutiger Sicht (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45 Rn. 24).

Die Beklagte hat die Klägerin vor der Zurücknahme des Bescheides vom 08.12.2017 auch ordnungsgemäß angehört. Gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ist dem Beteiligten, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in dessen Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Entscheidungserheblich sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, also die Tatsachen, auf die sich die Verwaltung im maßgeblichen Fall tatsächlich stützen will. Es kommt auf die Rechtsansicht der Behörde an, was sie als entscheidungserheblich ansieht, auch wenn sie ggf. materiell-rechtlich unzutreffend ist (zuletzt BSG, Urteil vom 10. 08. 2010 - B 13 R 140/10 B -, BeckRS 2010, 72578 m.w.N.). Ein Verfahrens- bzw. Anhörungsfehler liegt also immer erst dann vor, wenn der Verwaltungsträger auf der Grundlage der eigenen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung das Verfahrensrecht nicht folgerichtig angewendet hat, also trotz selbst als entscheidungserheblich interpretierter Tatsachen eine Anhörung unterlassen hat (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.10.2020 - L 3 KA 25/20 -, Rn. 28, juris, Schütze/Siefert, 9. Aufl. 2020, SGB X § 24, BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2021, SGB X § 42 Rn. 16). Ausgehend von ihrer Rechtsauffassung hat die Beklagte die Klägerin ordnungsgemäß angehört. Die Klägerin hatte insoweit Gelegenheit, sowohl zu dem Umstand, ihr sei bekannt gewesen, dass das Urteil des AGH noch nicht rechtskräftig gewesen sei und dass sie die Fehlerhaftigkeit des Bescheides hätte erkennen müssen, vor Erlass des Bescheides Stellung nehmen können. Hiervon hat sie indes keinen Gebrauch gemacht, sondern hat erst im Widerspruchsverfahren hierzu vorgetragen.

Die Rücknahme des Bescheides vom 08.12.2017 mit Bescheid vom 24.01.2018 wahrt die einzuhaltenden Fristen nach § 45 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2 SGB X.

Ein Anerkenntnis oder einen Rechtsmittelverzicht hat die Beklagte im Verfahren vor dem BGH nicht erklärt, ein solches ist offensichtlich auch gegenüber dem BGH nicht geltend gemacht worden. Dass sich die Beklagte aus Sicht der Klägerin widersprüchlich verhält, ist keine Frage der Rechtmäßigkeit des Befreiungstatbestandes, sondern allenfalls im Rahmen der Rücknahmevoraussetzungen zu prüfen.

Die mit den angefochtenen Bescheiden verfügte Rücknahme der rechtswidrigen Befreiung von der Versicherungspflicht hält aber aus Gründen des Vertrauensschutzes einer gerichtlichen Überprüfung bezogen auf eine Zurücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht stand. Der Klägerin können die einen Vertrauensschutz ausschließenden Regelungen des § 45 Abs. 2 Satz 4 SGB X nicht entgegengehalten werden können.

Die Klägerin hat den Verwaltungsakt nicht durch eine arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt (Abs. 2 Satz 3 Nr. 1). Die Ankündigung, von einer Untätigkeitsklage Gebrauch zu machen, kann als rechtlich normierte Gestaltungsmöglichkeit nicht hierunter subsumiert werden. Den Akten lässt sich auch nicht entnehmen, dass sich die Beklagte im Zusammenhang mit den Einlassungen der Klägerin in den Telefonaten vom 27. und 28.11.2017, die im Rahmen des Aktenvermerks im Übrigen von dieser bestritten werden, genötigt gesehen hätte, den Bescheid in dieser Form zu erlassen. Dies gilt umso mehr, als sich die Beklagte selbst in der an die Klägerin gerichteten Zwischennachricht eine Prüfung der Entscheidungsgründe des AGH vorbehalten hatte. Aus diesem Grund kommt auch die Variante in Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 nicht zum Tragen. Der Verwaltungsakt beruht nicht auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben der Klägerin. Soweit die Klägerin geäußert haben soll, gegen die Entscheidung des AGH sei kein Rechtsmittel zulässig, handelt es sich um keine Angaben im Zusammenhang mit dem geltend gemachten materiellen Anspruch. Ausweislich der vorliegenden Akte ist der Beklagten zudem am 21.11.2017 die Abschrift über die Öffentliche Sitzung des AGH Baden-Württemberg vom 10.11.2017 zugegangen, die den vollständigen Urteilstenor enthält. Ferner dürfte kaum anzunehmen sein, dass der Beklagten die Rechtsmittelmöglichkeiten gegen eine erstinstanzliche Entscheidung nach den §§ 112 ff. BRAO nicht geläufig waren und sind. Schließlich vermag sich der Senat auch nicht davon zu überzeugen, dass der Klägerin der Vorwurf gemacht werden kann, die Rechtswidrigkeit der Entscheidung gekannt zu haben oder zumindest hätte erkennen können. Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 stellt allein auf die Rechtswidrigkeit der Entscheidung, also der Rechtswidrigkeit der Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht ab. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides konnte sich die Klägerin bezogen auf die Rechtswidrigkeit auf eine erstinstanzliche Entscheidung des AGH stützen, der die Rechtsauffassung teilte, die Klägerin sei für die am 09.02.2016 aufgenommene Tätigkeit für die O GmbH als Syndikusrechtsanwältin zuzulassen, womit das für eine Ablehnung der Befreiung herangezogene Argument der Beklagten, die Zulassung sei zu Unrecht erfolgt, erst einmal kein Gehör gefunden hat. Die Klägerin konnte sich daher zum Zeitpunkt des Erlasses auf die Rechtsmeinung eines erstinstanzlichen Gerichtes stützen, das ihre Rechtsauffassung bestätigte. Mit dem Bescheid vom 08.12.2017 wurde ihr zudem mitgeteilt, dass sie über die erforderliche Zulassung verfüge („…für die eine Zulassung als Syndikusrechtsanwältin/Syndikusrechtsanwalt nach § 46 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) erteilt wurde…“). Zu diesem Zeitpunkt war die Zulassung der Berufung noch nicht beantragt, es war noch nicht einmal entschieden worden, dass ein solcher gestellt werden soll. Ausweislich Blatt 388 der Akten wurde eine solche Entscheidung frühestens am 14.12.2017 getroffen. Damit war die Entscheidung des AGH zwar noch nicht bindend geworden. Dies ist aber für den vorliegenden Sachverhalt nicht relevant. Für die Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts i.S.d. Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45 Rn. 41) maßgeblich. Unerheblich ist insbesondere, ob die Behörde den Begünstigten durch einen späteren Hinweis – z.B. im Rahmen des Anhörungsverfahrens vor Erlass des Bescheids nach § 45 – von der Rechtswidrigkeit in Kenntnis gesetzt hat. Denn dann könnte die Verwaltung stets den Vertrauensschutz (nach Abs. 2 Satz 1 und 2) ausschalten (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45, m.w.N.). Zum Zeitpunkt seiner Bekanntgabe am 11.12.2017 (bei Aufgabe zur Post am 08.12.2017, vgl. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X) bestand keine Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und der Klägerin kann auch nicht vorgeworfen werden, sie hätte die Rechtswidrigkeit erkennen müssen. Auszugehen ist insoweit vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat. Der Empfänger kann sich nicht darauf berufen, er habe die Erklärung in einem bestimmten Sinne verstanden, wenn sie objektiv – unter Berücksichtigung aller Umstände – nicht so verstanden werden konnte (vgl. BSG, Urteil vom 06.04.2011 - B 4 AS 119/10 R -, Rn. 18 m.w.N.). Insoweit ist aus Sicht der Klägerin unter Berücksichtigung der objektiven Umstände, wie sie sich nach Aktenlage darstellen, zu berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Befreiungsentscheidung die Beklagte die Zulassung der Berufung noch nicht beantragt hatte, denn diese erfolgte erst mit Schreiben vom 22.12.2017 (Bl. 389 der Akten). Ferner erhielt die Klägerin auf die telefonischen Anfragen am 27. und 28.11.2017 eine Zwischennachricht der Beklagten, die ausdrücklich eine Verbescheidung nach Prüfung des Urteils ankündigte, weshalb die Klägerin den Bescheid als Ergebnis der darin angekündigten Überprüfung des Urteils des AGH vor Bescheiderlass verstehen durfte. Da die Klägerin die – spätere – Einlegung des statthaften Rechtsmittels ebenso wenig vorhersehen konnte wie die Entscheidung des BGH in der Sache, ist auch der Vorwurf abwegig, die Klägerin habe erkennen müssen oder aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, dass die Entscheidung über die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht rechtswidrig gewesen ist. Auf den Umstand, dass die Klägerin „unter Berücksichtigung ihres Bildungs- und Erfahrungsstandes“ hätte erkennen müssen, dass das Urteil des AGH nicht bereits mit seiner Verkündung rechtskräftig geworden sei und deswegen bislang keine bestandskräftige Zulassung als Syndikusrechtsanwältin vorgelegen habe, kommt es mit Blick auf die Rechtswidrigkeit der Befreiung nicht an.

Ist damit ein Vertrauensschutz nicht aus den Gründen von Abs. 2 Satz 3 entfallen und liegt damit eine Schutzwürdigkeit des Vertrauens in subjektiver Hinsicht vor, kommt eine Aufhebung der Befreiungsentscheidung überhaupt nur dann in Betracht, wenn das Vertrauen des Begünstigten in objektiver Hinsicht i.S.v. Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 nicht schutzwürdig ist. Insoweit hat regelmäßig eine Abwägung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme zu erfolgen (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45 Rn. 46; BeckOK SozR/Heße, 66. Ed. 01.09.2022, SGB X § 45 Rn. 25; Schütze/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X § 45 Rn. 46). § 45 Abs. 2 Satz 2 nennt Tatbestände, bei deren Vorliegen das Vertrauen des Begünstigten „in der Regel“ schutzwürdig ist, so die Betätigung oder Realisierung des Vertrauens durch Verbrauch erbrachter Leistungen oder Eingehen nur unter Schwierigkeiten rückgängig zu machenden Vermögensdispositionen. Ist keiner der Regeltatbestände nach Satz 2 erfüllt, ist nach Satz 1 die Schutzwürdigkeit des Vertrauens durch seine Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme des Verwaltungsakts festzustellen. Diese Abwägung ist – im Gegensatz zur Ermessensausübung – gerichtlich voll überprüfbar. Allgemeine Billigkeitserwägungen sind bei der Ausübung des Ermessens nach Abs. 1 zu berücksichtigen. Denn der Verantwortungsbereich, in den ein Fehler fällt, oder die wirtschaftlichen Verhältnisse des Begünstigten können im Rahmen der Abwägung nach Abs. 2 Satz 1 nur dann eine Rolle spielen, wenn sie das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des Verwaltungsakts oder dessen Schutzwürdigkeit bzw. das öffentliche Interesse an seiner Rücknahme beeinflusst haben bzw. beeinflussen (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45 Rn. 46).

Die Regeltatbestände sind hier nicht erfüllt. Es handelt sich nicht um die Rückgängigmachung von bereits von der Beklagten erbrachten Leistungen. Die Abführung von Rentenversicherungsbeiträgen ist Folge der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. §§ 168, 173, 174 SGB VI) und vom Arbeitgeber vorzunehmen. Eine nur unter Schwierigkeiten rückgängig zu machende Vermögensdisposition der Klägerin liegt zudem nicht vor. Sie kann insbesondere nicht darin gesehen werden, dass nach ihren Angaben die gezahlten Rentenversicherungsbeiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte bereits erstattet wurden und dies von der Beklagten bislang nicht beanstandet wurde. Insoweit dürfte es sich um eine unzutreffende Beitragserstattung handeln, weil nach dem oben zur Rechtswidrigkeit der Befreiung ausgeführten feststeht, dass die Klägerin während der Tätigkeit bei der O GmbH der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterlegen war. Dass eine Rückübertragung nicht mehr möglich sein könnte, obwohl erst mit der Rechtskraft einer Entscheidung feststeht, dass die Klägerin nicht von der Versicherungspflicht zu befreien war, ist weder vorgetragen noch für den Senat ersichtlich.
Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass eine Verfestigung der Rechtsposition der Klägerin im Vertrauen auf die Befreiung nicht ersichtlich ist. Die Klägerin erleidet keine weiteren Nachteile allein dadurch, dass die rechtswidrige Entscheidung zurückgenommen wurde. Es ist keine Handlung in dem kurzen Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides vom 08.12.2017 und Einlegen der Nichtzulassungsbeschwerde oder der Zulassung der Berufung durch den BGH ersichtlich, die über die Erstattung der Beiträge hinaus eine Vertrauensbetätigung belegen könnte, die vergleichbar wäre etwa mit einer einschneidenden und dauernden Änderung der Lebensführung im Vertrauen auf eine erhaltene Vergünstigung. Vielmehr ist der Status unabhängig davon durch die Aufhebung der Zulassungsentscheidung geklärt worden. Der Senat vermag im Hinblick darauf zwar ein Verschulden der Beklagten erkennen, nicht aber dergestalt, dass hierdurch das öffentliche Interesse an der Rücknahme und ein insoweit bestehender Anspruch auf die bereits für den streitigen Zeitraum abgeführten Beiträge zurückstehen muss. Soweit die Klägerin auf eine Doppelversorgung verweist, ist zu konstatieren, dass die Klägerin nicht wegen der hier streitigen Beschäftigung bei der O GmbH Mitglied der berufsständischen Kammer und damit der berufsständischen Versorgungseinrichtung ist. Anders als bei der gesetzlich begründeten Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung beruht diese Belastung auf einer freien Entscheidung des Versicherten. Auch die grundsätzlich mögliche „Doppelversorgung“ begründet damit kein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X.

Eine unter Berücksichtigung von Abs. 2 Satz 1 und 2 mögliche Aufhebung kommt indes nur für die Zukunft in Betracht (vgl. § 45 Abs. 1 SGB X). Denn § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X bestimmt, dass der Verwaltungsakt nur in den Fällen des Abs. 2 Satz 3 und Absatz 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Auch Wiederaufnahmegründe in entsprechender Anwendung des § 580 Zivilprozessordnung sind hier nicht ersichtlich (ein Fall des Abs. 2 Satz 3 liegt – wie oben dargelegt –   nicht vor). Scheitert damit eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit, so ist jedoch stets zu prüfen, ob der insoweit fehlerhafte Rücknahmebescheid nicht jedenfalls die Voraussetzungen für eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft (BeckOGK/Steinwedel, 01.09.2020, SGB X § 45 Rn. 17) rechtfertigt. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 SGB X sind hier – wie dargelegt – erfüllt. Die Rücknahme der erteilten Befreiung war ausgehend vom Erlass des Bescheides vom 24.01.2018 und unter Zugrundelegung einer Bekanntgabe dieses Bescheides gemäß § 37 Abs. 2 SGB X am 27.01.2018 für die Zeit vor der Bekanntgabe aufzuheben.

Schließlich hat die Beklagte das ihr durch § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X eingeräumte Ermessen in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Die Beklagte hat zunächst im vorliegenden Fall Ermessen betätigt. Dies folgt aus den Begründungen des Bescheides vom 24.01.2018 und Widerspruchsbescheids vom 14.05.2018, den sich entnehmen lässt, dass die Beklagte sich des ihr zustehenden Ermessensspielraums bewusst war, also nicht von einer Rücknahmepflicht ausgegangen ist (vgl. zur Ermessensausübung durch die Widerspruchsbehörde BSG 11.02.2015 - B 13 R 15/13 R -, UV-Recht Aktuell 2015, 725). Der Senat hält die insoweit gemachten Ausführungen noch für hinreichend ausreichend, da Billigkeitsgesichtspunkte, die über die Abwägung von Individualinteresse und öffentlichem Interesse hinausgehen, hier nicht zum Tragen kommen und solche Umstände auch im Widerspruch der Klägerin, die insoweit auf den bestehenden Vertrauensschutz abgestellt hat, nicht vorgetragen wurden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.




 

Rechtskraft
Aus
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