L 3 AS 2551/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 11 AS 520/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 2551/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zu den Voraussetzungen eines Erlasses von grundsicherungsrechtlichen Erstattungsforderungen

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 16.01.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist der Erlass der gegen die Klägerin gerichteten Forderung in Höhe von 44.764,75 € streitig.

Die 1982 geborene, alleinstehende Klägerin bezieht seit dem 01.01.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Neben dem Leistungsbezug erzielte sie unregelmäßig Einkünfte aus verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen als Pferdepflegerin, die sich auf monatliche Beträge zwischen 98,00 € und 200,00 € beliefen und die vom Beklagten bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigt wurden.

Bei erstmaliger Antragstellung im August 2004 gab die Klägerin im Antragsvordruck unter der Rubrik VII durch Ankreuzen der entsprechenden Felder an, dass sie kein Vermögen besitze, das den Wert von 4.850,00 € übersteige. Auf Anforderung des Beklagten legte die Klägerin im Juli 2005 Kontoauszüge ihres bei der Vbank F geführten Girokontos (Nr. xxxxxx3) mit einem Kontostand in Höhe von 48,28 € am 11.07.2005 vor und gab an, sie habe einen Bausparvertrag mit einem Guthaben in Höhe von 120,00 €. Mit ihren im weiteren Verlauf gestellten Weiterbewilligungsanträgen gab die Klägerin in den stets eigenhändig unterschriebenen Antragsvordrucken jeweils durch Ankreuzen an, in ihren Vermögensverhältnissen hätten sich keine Änderungen ergeben. Der Beklagte bewilligte der Klägerin ab dem 01.01.2005 auf ihre jeweiligen Anträge Leistungen nach dem SGB II, ohne bei der Bedarfsberechnung Vermögen zu berücksichtigen.

Im Mai 2011 wurde dem Beklagten bekannt, dass die Klägerin Versicherungsnehmerin einer Kapitallebensversicherung bei der R Versicherung (Nr.xxxxxxxx-6) war, und er teilte der Klägerin mit Schreiben vom 11.05.2011 mit, wegen des noch nicht geregelten Verwertungsausschlusses würden die Leistungen ab Juni 2011 zunächst zurückgehalten. Im Juni 2011 vereinbarte die Klägerin mit dem Versicherungsunternehmen ein Verwertungsverbot. Der Beklagte hob die Bewilligung von Leistungen mit Bescheid vom 26.07.2011 für die Zeit vom 01.06.2011 bis zum 29.06.2011 auf und bewilligte laufende Leistungen wieder ab 30.06.2011.

Durch Datenabgleiche in den Jahren 2011 und 2012 wurde dem Beklagten bekannt, dass die Klägerin aus weiteren Vermögenswerten Kapitalerträge erzielt hatte. Die anschließende Sachverhaltsprüfung ergab Bankguthaben der Klägerin in Gestalt eines Sparbuches bei der Vbank F (Nr. xxxxxxx6) mit einem Kontostand in Höhe von 5.947,60 € am 06.12.2004 sowie in Höhe von 6.374,18 € am 25.11.2010 und eines Psparbuches (Nr. xxxxxxxxx2) mit einem Kontostand in Höhe von 1.700,00 € am 04.02.2008 sowie in Höhe von 5.772,38 € am 25.07.2011. Im Zeitraum vom 04.07.2011 bis zum 05.11.2012 wurden von dem Sparbuch bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) insgesamt 8.930,00 € in Beträgen zwischen 300,00 € und 2.500,00 € abgehoben und im selben Zeitraum 3.100,00 € eingezahlt. Von dem Psparbuch (Nr. xxxxxx2) wurden 5.000,00 € am 25.10.2011, 500,00 € am 05.12.2012 und 280,00 € am 04.03.2013 abgehoben.

In der zum Weiterbewilligungsantrag vom 31.01.2013 vorgelegten Anlage zur Feststellung der Vermögensverhältnisse gab die Klägerin diese beiden Sparkonten erstmals an. Das Sparbuch bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) wies am 31.12.2012 einen Kontostand in Höhe von 9,36 € aus und das Psparbuch (Nr. xxxxxx2) wies am 05.12.2012 einen Kontostand in Höhe von 284,02 € aus.

Nach am 14.05.2013 erfolgten Anhörungen nahm der Beklagte die für die Zeit seit dem 01.01.2005 ergangenen Bewilligungsbescheide durch Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 12.09.2013 für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 28.02.2013 zurück und forderte von der Klägerin die Rückzahlung der erbrachten Leistungen.

Die Klägerin erhob zunächst am 30.10.2013 jeweils Widerspruch gegen diese Bescheide, räumte in den zur Begründung ihrer Widersprüche übersandten anwaltlichen Schreiben vom 14.03.2014 dann jedoch ein, der den Bewilligungszeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 betreffende Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 12.09.2013 sei rechtmäßig, da Vermögen vorgelegen habe, welches die Hilfebedürftigkeit ausgeschlossen habe. Den gegen den den Bewilligungszeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 betreffenden Rücknahme- und Erstattungsbescheid eingelegten Widerspruch nahm die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 14.03.2014 zurück, da dieser Bescheid „nach Prüfung der Sach- und Rechtslage (…) rechtmäßig“ sei.

Der Beklagte wies die die Bewilligungszeiträume vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 betreffenden Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 16.05.2014 gestützt auf § 40 Abs. 1 SGB II, § 330 Abs. 1, 2, 3 Satz 1 und 4 SGB III, § 335 Abs. 1, 2 und 5 SGB III und § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X als unbegründet zurück. Die Sparbücher seien vorsätzlich verschwiegen worden und die zu Unrecht erbrachten Leistungen nach dem SGB II (32.428,81 €) sowie die zu Unrecht für die Klägerin gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge (12.335,94 €) seien zu erstatten. Es ergebe sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 44.764,75 €.

Im sich anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim (S 17 AS 3141/14) wurden in der nichtöffentlichen Sitzung am 28.07.2015 die Klägerin persönlich angehört und ihre Eltern als Zeugen vernommen. Die Klägerin legte u.a. eine Kopie des am 04.02.2008 von ihr bei der Pbank gestellten Antrages auf Eröffnung eines Pbank-Sparkontos vor. Auf Nachfrage der Richterin am SG erklärte die Klägerin, dieses Papier habe ihre Großmutter ihr vorgelegt und dabei „den oberen Teil des Blattes abgedeckt“. Sie selbst habe unten unterschrieben. Der Klägerin wurde sodann die aktenkundig gewordene Kopie des Sparkontos bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) vorgelegt. Sie erklärte daraufhin, das sei ihr Sparbuch. Sie habe auf diesem Sparbuch Geld, das sie verdient habe, angespart und sich davon z.B. im Jahr 2004 einen Computer gekauft. Sie sei deswegen zusammen mit ihrem Vater zur Vbank gegangen und habe Geld abgehoben. Bei der Antragstellung im Jobcenter habe sie zwar ihr Girokonto und ihren Bausparvertrag angeben, von dem Sparbuch bei der Vbank habe sie aber nichts gesagt. Warum sie das Sparbuch nicht angegeben habe, wisse sie nicht mehr. Der Vater der Klägerin erklärte als Zeuge, bei der Erstantragstellung sei er gemeinsam mit der Klägerin im Jobcenter gewesen. Zu den Abgaben der Weiterbewilligungsanträge im Jobcenter hätten dann entweder er selbst oder seine Ehefrau die Klägerin begleitet. Er meine, dass sie in den Anträgen für die Klägerin das Vbank-Sparbuch angegeben hätten, aber genaue Angaben dazu könne er nicht machen. Er könne auch nicht sagen, ob sie das Sparbuch mal zum Jobcenter mitgenommen hätten. Er könne sich nicht erinnern. Das Pbank-Sparbuch hätte die Klägerin im Jobcenter nicht vorlegen können, denn dieses hätte ihre Großmutter bei sich zu Hause gehabt. Auf Vorhalt des am 09.08.2004 unterschriebenen Antragsformulars gab der Vater der Klägerin an, z.B. die mit schwarzem Stift vorgenommenen Eintragungen auf Blatt 3 des Antrages stammten von seiner Tochter. Das schwarze Kreuz im Feld „nein“ unter der Rubrik VII auf Blatt 5 des Formulars habe er gemacht. Auf Vorhalt, dass diese Angabe angesichts des Kontostandes des Sparbuches im August 2004 nicht zutreffend gewesen sei, erklärte der Vater der Klägerin, „Das kann ich mir auch nicht erklären, dazu kann ich keine Angaben machen“. Die Mutter der Klägerin gab an, sie könne sich nicht erinnern, wann und wo ihre Tochter den ersten Antrag auf Arbeitslosengeld II ausgefüllt habe. Sie selbst sei bei der Abgabe des ersten Antrages nicht dabei gewesen.

Das SG Mannheim wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 26.10.2015 ab. Die den streitigen Zeitraum betreffenden Bewilligungsbescheide seien rechtswidrig gewesen, da die Klägerin wegen des verwertbaren Sparbuches bei der Vbank F ab dem 01.07.2005 und zumindest seit dem 01.10.2011 auch wegen des verwertbaren Psparbuches keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II gehabt habe. Da Hilfebedürftigkeit nicht bestanden habe, seien sämtliche Bewilligungsbescheide für den streitigen Zeitraum rechtswidrig gewesen. Unter Berücksichtigung aller Umstände und auch des subjektiven Einsichtsvermögens der Klägerin habe diese die Sparbücher grob fahrlässig im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X verschwiegen und könne sich daher nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Höhe der Erstattungsforderung entspreche der Höhe der Leistungen, die die Klägerin im streitigen Zeitraum erhalten habe.

Die hiergegen eingelegte Berufung wurde beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen L 7 AS 4966/15 anhängig und wurde mit der Begründung erhoben, dass die Klägerin nicht grob fahrlässig gehandelt habe und die zwingende Rücknahme der Leistungsbewilligung daher rechtswidrig sei. Nachdem das Berufungsverfahren wegen der beim Bundessozialgericht (BSG) im Verfahren B 4 AS 29/17 anhängigen Rechtsfrage, ob es im Fall einer vom Begünstigten zu vertretenden Rücknahme einer Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II wegen verschwiegenen Vermögens auf das Verhältnis zwischen dem zu erstattenden Betrag und dem ursprünglich einzusetzenden Vermögenswert ankomme, geruht hatte, wurde es zunächst unter dem Aktenzeichen L 7 AS 1540/18 fortgeführt.

Die Klägerin bezog im Verlauf weiter Leistungen nach dem SGB II vom Beklagten und erzielte weiterhin Einkünfte aus verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen als Pferdepflegerin, die sich auf Beträge bis zu 200 € monatlich beliefen.

Unter dem 07.11.2018 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten den Erlass der Forderung gemäß § 44 SGB II, woraufhin das Berufungsverfahren L 7 AS 1540/18 vor dem LSG Baden-Württemberg erneut ruhend gestellt wurde.

Im Verwaltungsverfahren erstellte der Beklagte am 05.03.2019 eine Berechnung, und legte hierbei zugrunde, dass die Klägerin im Falle einer bei der erstmaligen Antragstellung korrekten Angabe des vorhandenen Vermögens (am 01.01.2005: 6.348,17 €) im ersten Bewilligungsabschnitt (vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005) keinen Leistungsanspruch gehabt hätte. Hätte sie in der Folge der Leistungsablehnung von ihrem Vermögen so viel verbraucht, wie ihr an SGB II-Leistungen zugestanden hätte (1.328,58 €), wäre ihr Vermögen zu Beginn des nächsten Bewilligungsabschnittes am 01.07.2005 entsprechend niedriger gewesen und hätte sich auf nur noch 4.939,33 € belaufen, wovon nach Abzug des Freibetrages (4.200,00 €) noch 739,33 € zu berücksichtigendes Vermögens verblieben wären. Bei Fortführung dieser theoretischen rückblickenden Anpassung hätte sich über den gesamten Zeitraum ein Leistungsanspruch in Höhe von insgesamt 37.828,08 € ergeben und vom Vermögen wäre ein Betrag von 8.265,25 € zu berücksichtigen gewesen, der der hier streitigen Erstattungsforderung gegenüberstehe.

Mit Bescheid vom 08.07.2019 lehnte der Beklagte den Antrag auf Erlass der Forderung ab. Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 28.01.2020 zurückgewiesen. Im Widerspruchsbescheid führte der Beklagte aus, dass die hier zu treffende Ermessensentscheidung den Begriff der „Unbilligkeit“ umfasse. Dabei seien die persönlichen und wirtschaftlichen Belange des Schuldners gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einziehung der Forderung abzuwägen. Ein Erlass einer Forderung sei der endgültige und unwiderrufliche Verzicht auf eine Forderung. Dies habe als Konsequenz, dass der Begriff der Unbilligkeit einer strengen Prüfung zu unterziehen sei. Als unbillig gelte die Einziehung erst dann, wenn sie dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise zuwiderlaufe. Die Klägerin habe über Jahre hinweg Vermögen verschwiegen. Die Einziehung der Forderung sei für die Klägerin darüber hinaus auch nicht existenzgefährdend. Sie stehe seit Jahren im SGB II-Bezug und es sei nicht absehbar, dass es in nächster Zeit zu einer Integration in den Arbeitsmarkt kommen werde. Das SGB II selbst sehe jedoch eine Begrenzung der Aufrechnungsmöglichkeit von Höhe und Dauer vor, so dass die Existenzsicherungsfunktion der Grundsicherungsleistungen erhalten bliebe. Nicht zu übersehen sei allerdings das Missverhältnis zwischen dem ursprünglich vorhandenen Vermögen und der Erstattungsforderung. Ursächlich für die Höhe der Rückforderung sei allerdings allein der Umstand, dass die Klägerin nicht nur einmal, sondern über Jahre hinweg ihr Vermögen verschwiegen habe. Weiter sei es der Klägerin während des ungerechtfertigten Leistungsbezugs gelungen, Vermögen aufzubauen. Es sei zwar tatsächlich im System des SGB II vorgesehen, dass Rücklagen für bestimmte Bedarfe gebildet werden könnten, es bleibe aber auffällig, dass die Klägerin das Vermögen nach Aufdeckung recht schlagartig reduziert habe. Hiernach würde in der Zusammenschau und unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses ein Einzug der Forderung weder nach der Gesetzeswertung noch in unerträglicher Weise dem Gerechtigkeitsempfinden zuwiderlaufen.

Zur Begründung ihrer hiergegen am 27.02.2020 beim SG Mannheim erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, dass die Einziehung der Rückforderung in Höhe von insgesamt 44.764,75 € in diesem Umfang unbillig sei. Die Einziehung dieses Betrages würde dem Gerechtigkeitsempfinden in eklatantem Maße widersprechen. Der Beklagte gehe zu Unrecht davon aus, dass die Klägerin wissentlich und schuldhaft ihr Vermögen bei der erstmaligen Antragstellung im Jahre 2004/2005 nicht ordnungsgemäß angegeben habe. Insbesondere sei nicht festgestellt, ob die Klägerin es schuldhaft im Sinne des Gesetzes unterlassen habe, verwertbares Vermögen bei erstmaliger Antragstellung anzugeben. Selbst eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 SGB X habe zu keinem Zeitpunkt vorgelegen, so dass der Klägerin Vertrauensschutz zuzugestehen sei. Insoweit sei eine Entscheidung im Berufungsverfahren beim LSG Baden-Württemberg zum Az. L 7 AS 1540/18 noch nicht erfolgt. Sie habe erstmals 2004 persönlich ihren Antrag auf Leistungen nach dem SGB II abgegeben. Dabei sei sie von einer behördlichen Mitarbeiterin unterstützt worden. Diese habe die Formulare damals auch ergänzt, denn sie selbst sei hinsichtlich der Fragen intellektuell völlig überfordert gewesen. Nur die Tatsache, dass sie zum damaligen Zeitpunkt ein zu berücksichtigendes Vermögen in Höhe von 739,33 € gehabt habe und dieses nachgehend auch (mangels Kenntnis) nicht verbraucht habe, habe die Hilfebedürftigkeit fortgesetzt verhindert. Diese Problematik sei auch seitens des Leistungsträgers erkannt worden. Insoweit sei eine Berechnung und theoretisch rückblickend eine Anpassung an die materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen vorgenommen worden. Danach hätte sich bei in jedem Fall korrektem Leistungsbedarf ein Anspruch für die Klägerin von insgesamt 37.828,08 € ergeben. Letztlich wäre vom Vermögen für den gesamten Zeitraum nur ein Betrag von 8.265,25 € zu berücksichtigen gewesen. Nur durch die gebundene Rücknahmenscheidung sei von der Klägerin die Erstattung eines Betrages von „46.093,33 €“ verlangt worden. Wären die vom Gesetzgeber eingeräumten Vermögensfreigrenzen zu berücksichtigen gewesen, wäre lediglich ein Vermögen von 8.275,25 € zu berücksichtigen gewesen. In Folge dessen bestehe also ein augenfälliges Missverhältnis. Nur für den Fall, dass Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht zu berücksichtigen seien, habe der Gesetzgeber geregelt, dass kein Ermessen seitens des Leistungsträgers auszuüben sei. Wie auch der Beklagte zu Recht erkenne, dürfte diese Regelung jedoch in erster Linie den Zweck gehabt haben, der Massenverwaltung im SGB II gerecht zu werden. Deshalb habe auch der Beklagte erkannt, dass im vorliegenden Fall eine Leistungserstattung - zumindest über den Betrag von 8.265,25 € hinaus - in einem deutlichen Missverhältnis zum tatsächlich entstandenen „Schaden“ stehe. Der Beklagte habe infolgedessen einen „Gewinn“ von 37.828,08 € erzielt. Dies widerspreche dem Gerechtigkeitsempfinden in eklatantem Maße und sei deshalb unbillig. Den Beklagten treffe hinsichtlich seiner „Unterstützungshandlungen“ ein gewisses Mitverschulden an der Gesamtsituation. Insgesamt sei festzustellen, dass neben der besonderen Härte für sie als Klägerin in jedem Fall eine sachliche Unbilligkeit festzustellen sei. Aufgrund der durch den Beklagten vorzunehmenden Abwägung mit den öffentlichen und privaten Interessen unter Berücksichtigung der Rücknahmefolgen für den Erstattungspflichtigen und seiner wirtschaftlichen Lage, hätte dem Antrag auf Erlass der Forderung stattgegeben werden müssen. Die Klägerin hat beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.01.2020 zu verurteilen, ihren Antrag auf Erlass der Forderungen in Höhe von 44.764,75 € unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf seine Ausführungen im Widerspruchsverfahren verwiesen.
 
Nach Einholung des Einverständnisses der Beteiligten hat das SG Mannheim die Klage am 16.01.2021 durch Urteil ohne mündliche Verhandlung abgewiesen.

Gegen das am 22.02.2021 zugestellte Urteil des SG Mannheim hat die Klägerin am 10.03.2021 beim LSG Baden-Württemberg die zunächst unter dem Aktenzeichen L 3 AS 917/21 geführte Berufung eingelegt.

Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, entgegen der Auffassung des SG Mannheim sei Unbilligkeit bei Einziehung der Forderung im Fall der Klägerin zu erkennen, da ein grobes Missverhältnis zwischen der Rückforderungssumme und dem verwertbaren Vermögen vorliege. Dieses Missverhältnis sei entstanden, da nach der Rechtsprechung des BSG ein fiktiver Vermögensverbrauch bei Rückforderung von Leistungen außer Betracht bleiben müsse (BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 14 AS 15/17 R). Diese Rechtsauffassung könne durchaus gerechtfertigt sein, könne aber auch, wie im Fall der Klägerin, zu einem erheblichen Missverhältnis zwischen Erstattungssumme und einzusetzendem Vermögen führen. Entgegen der Auffassung des SG Mannheim habe der Gesetzgeber zur Regulierung derartiger Missverhältnisse zwischen der Höhe der Erstattungsforderung und dem einzusetzenden Vermögen und als Ausgleich der durch § 330 SGB III zwingend vorzunehmenden Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen unter Billigkeitsgesichtspunkten mit § 43 Abs. 4 SGB II keine ausreichende gesetzliche Regelung getroffen, da dadurch ein Erlass einer Forderung grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Außerdem wäre die Klägerin im Rahmen ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit lebenslang auf Unterstützungsleistungen angewiesen oder auf ein bis zur Pfändbarkeitsgrenze limitiertes Einkommen. Die Frage, ob die Klägerin wissentlich oder schuldhaft ihr Vermögen bei der erstmaligen Antragstellung verschwiegen habe, sei sehr wohl auch im hiesigen Rechtsstreit beachtlich. Die Klägerin habe bei Antragstellung keine persönliche Kenntnis über ihr Vermögen gehabt und es sei ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie ein die Hilfebedürftigkeit übersteigendes Vermögen haben könnte. Sie sei nicht im Besitz dieses Sparbuches gewesen, sondern dieses sei von den Eltern in einer abgeschlossenen Kassette verwahrt/verschlossen worden. Die Klägerin habe hierauf nicht eigenmächtig Zugriff nehmen können, sondern habe immer erst um Erlaubnis fragen müssen, wenn sie vom Sparbuch etwas Geld habe abheben wollen. Außerdem sei ein Teil des Vermögens von der Klägerin mittels der vom Beklagten gewährten Leistungen angespart worden. Nur durch die gebundene Entscheidung sei von der Klägerin die Erstattung eines Betrages von „46.093,33 €“ verlangt worden. Wären die vom Gesetzgeber eingeräumten Vermögensfreigrenzen zu berücksichtigen gewesen, wäre lediglich ein Vermögen von 8.275,25 € zu berücksichtigen gewesen. In Folge dessen bestehe also ein augenfälliges Missverhältnis. Auch der Beklagte habe erkannt, dass im vorliegenden Fall eine Leistungserstattung - zumindest über den Betrag von 8.265,25 € hinaus - in einem deutlichen Missverhältnis zum tatsächlich entstandenen „Schaden“ stehe. Der Beklagte habe infolge dessen einen „Gewinn“ von 37.828,08 € erzielt. Dies widerspreche dem Gerechtigkeitsempfinden in eklatantem Maße und sei deshalb unbillig. Ferner sei im Rahmen der Billigkeit auch das Mitverschulden des Beklagten während des Antragsverfahrens (im Jahr 2004) zu berücksichtigen. Wären seitens der damaligen Mitarbeiter nicht eigenständig „Kreuzchen“ gesetzt worden, wäre die streitige Situation hinsichtlich eines vorsätzlichen / grob fahrlässigen Verhaltens der Klägerin nicht in diesem Ausmaß entstanden.

In der im Verfahren L 3 AS 917/21 am 13.09.2021 durchgeführten nichtöffentlichen Sitzung hat die Klägerin mitgeteilt, sie habe ihre letzte Beschäftigung als Stallhelferin verloren, sie beziehe weiterhin Leistungen vom Beklagten, habe ein Bewerbertraining beim Jobcenter absolviert und werde von dem Leiter dieses Trainings bei ihren Bewerbungsbemühungen unterstützt. Die Beteiligten haben auf den Hinweis der Berichterstatterin, das Vorbringen der Klägerin dahingehend, dass an ihrer zureichenden Einsichtsfähigkeit und somit an ihrer groben Fahrlässigkeit Zweifel bestünden, dürfte vorrangig in dem weiterhin anhängigen Verfahren betreffend die auf § 45 SGB X gestützte Rücknahme und Erstattung zu prüfen sein, übereinstimmend das Ruhen des Verfahrens L 3 AS 917/21 beantragt.

Das die Rücknahme- und Erstattungsbescheide des Beklagten vom 12.09.2013 betreffende Berufungsverfahren L 7 AS 1540/18 ist unter dem neuen Aktenzeichen L 7 AS 3021/21 fortgeführt worden. Diese Berufung hat die Klägerin am 29.08.2022 zurückgenommen.

Sodann hat die Klägerin das Berufungsverfahren L 3 AS 917/21 wieder angerufen. Das Verfahren ist unter dem neuen Aktenzeichen L 3 AS 2551/22 fortgeführt worden.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 16.01.2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2020 zu verpflichten, ihren Antrag auf Erlass der Forderung in Höhe von 44.764,75 € unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils.

In der im Verfahren L 3 AS 2551/22 am 28.11.2022 durchgeführten nichtöffentlichen Sitzung hat die Klägerin mitgeteilt, sie arbeite seit Juli 2022 wieder als Pferdepflegerin. Dieses Beschäftigungsverhältnis sei noch bis zum Januar 2023 auf Probe. Sie beziehe aufstockende Leistungen vom Jobcenter.

Die Klägerin hat auch nach Erteilung eines richterlichen Hinweises durch die Berichterstatterin zu den Erfolgsaussichten ihrer Berufung unter erneutem Verweis darauf, dass ihr eine wirtschaftlich selbständige Existenz oberhalb des Pfändungsschutzes dauerhaft verwehrt bleibe, dass sie intellektuell eingeschränkt sei, dass ihr die tatsächliche Vermögenslage nicht bekannt gewesen sei, dass sie bei Antragstellung gutgläubig gewesen sei und dass ein deutliches Missverhältnis zwischen leistungsausschließendem Vermögen und Rückforderung bestehe, an der Berufung festgehalten.

Der Senat hat die bei dem SG Mannheim unter dem Aktenzeichen S 17 AS 3141/14 geführte Akte sowie die Akten L 7 AS L 4966/15, L 7 AS 1540/18 und L 7 AS 3021/21 beigezogen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.
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Entscheidungsgründe

Der Senat ist aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten befugt, durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 124 Abs. 2 SGG zu entscheiden.

Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der Aufhebung des Urteils des SG Mannheim vom 16.01.2021 die Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2020 sowie die Verpflichtung des Beklagten, den Antrag der Klägerin auf Erlass der Forderungen in Höhe von 44.764,75 € unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Das SG Mannheim hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2020 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Aufhebung dieses Bescheides und die Verpflichtung des Beklagten zur neuen Bescheidung des Erlassantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Nach § 44 SGB II dürfen die Träger von Leistungen nach dem SGB II Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.

1. Der vom Beklagten gegen die Klägerin erhobene Erstattungsanspruch besteht.

Der Erlass setzt einen bestehenden Anspruch voraus, da nur Ansprüche erlassen werden können (BSG, Urteil vom 09.02.1995 – 7 RAr 78/93, juris Rn. 54; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 44, Rn. 25).

Vorliegend besteht der vom Beklagten geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der im Zeitraum vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 an die Klägerin erbrachten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 44.764,75 €. Denn der Beklagte hatte die für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 ergangenen Bescheide über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit den Bescheiden vom 12.09.2013 vollständig zurückgenommen und die Erstattung der in diesem Zeitraum erbrachten Leistungen verlangt, weil die Klägerin bei Antragstellung Vermögen verschwiegen habe. Die gegen die Bescheide vom 12.09.2013 erhobenen Widersprüche der Klägerin hatte der Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 16.05.2014 zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Klage hatte das SG Mannheim mit Gerichtsbescheid vom 26.10.2015 (Az.: S 17 AS 3141/14) abgewiesen. Die hiergegen beim LSG Baden-Württemberg erhobene und zuletzt unter dem Aktenzeichen L 7 AS 3021/21 geführte Berufung hat die Klägerin am 29.08.2022 zurückgenommen. Infolge dieser Rücknahme steht der Erstattungsanspruch des Beklagten, der sich für den Zeitraum vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 auf insgesamt 44.764,75 € beläuft, bestandskräftig fest.

Dieser Erstattungsanspruch ist auch nicht verjährt. Denn die Bescheide vom 12.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2014 sind durch die Berufungsrücknahme vom 29.08.2022 unanfechtbar geworden. Die somit gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1SGB X geltende Verjährungsfrist von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, ist nicht abgelaufen.

2. Die Voraussetzungen für einen Erlass dieser Forderung des Beklagten liegen nicht vor.

Die Vorschrift des § 44 SGB II dient der Einzelfallgerechtigkeit, indem sie die Leistungsträger ermächtigt, die Behandlung einer Forderung an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen und namentlich eine eigentlich mit den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit (vgl. § 34 Abs. 2 BHO) nicht zu vereinbarende Entscheidung zu treffen, nämlich auf eine fällige Forderung zu verzichten. Nach den Gesetzesmaterialien soll die Vorschrift insoweit einen Gleichklang mit dem bei Versicherungsleistungen anwendbaren § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV herstellen, der seinerseits der Gleichbehandlung mit dem Erlass im Rahmen des Steuerrechts (vgl. § 227 AO) dient (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, Stand 21.12.2021, § 44, Rn. 9, 10).

Wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift („dürfen…. erlassen werden“) ergibt, ist der Leistungsträger bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 44 SGB II nicht zum Erlass, sondern lediglich zu einer Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen verpflichtet (BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 14 AS 15/17 R, juris Rn. 32). Hierfür gelten die allgemeinen Grundsätze des § 39 Abs. 1 SGB I und des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i. V m. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X. Danach hat der Leistungsträger auch im Rahmen des § 44 SGB II das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Entscheidung muss erkennen lassen, dass der Träger seinen Ermessensspielraum erkannt und genutzt hat (anderenfalls: Ermessensnichtgebrauch), dass sämtliche, aber auch ausschließlich die nach dem Zweck des § 44 SGB II relevanten Gesichtspunkte ermittelt und berücksichtigt wurden (anderenfalls: Ermessensunter- oder -überschreitung) und welche Abwägung zwischen den kollidierenden Interessen des Trägers an der Beseitigung unrechtmäßiger Vermögensverschiebungen und des Schuldners an einem Forderungserlass stattgefunden hat (anderenfalls: Ermessensfehlgebrauch). Fehlt es an einem der genannten Kriterien, so ist die Ermessensentscheidung rechtswidrig. Eingeschränkt hierauf unterliegt auch sie gem. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG der gerichtlichen Überprüfung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage, § 54, Rn. 26ff.).

§ 44 SGB II koppelt die Ermächtigung zur Ermessensentscheidung außerdem mit dem unbestimmten Rechtsbegriff „unbillig“. Dieser ragt in den Ermessensbereich hinein und bestimmt zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung, so dass sie sich hieran zu orientieren hat. Diese Regelung ist § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV nachgebildet (vgl. BT-Drucks 15/1516 S. 63), der der Gleichbehandlung mit dem Erlass im Rahmen des Steuerrechts (§ 227 AO) dient, und eröffnet somit einerseits die Möglichkeit, bei den Rücknahmefolgen besonderen persönlichen Umständen Rechnung zu tragen, wenn sonst eine existenzgefährdende oder vergleichbare und nicht nur kurzfristige Notlage zu befürchten wäre (Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit). Darüber hinaus kann eine Billigkeitsmaßnahme auch angezeigt sein, wenn der Sachverhalt zwar den Tatbestand der Anspruchsnorm erfüllt, die Forderungseinziehung gleichwohl den Wertungen des Gesetzes zuwiderliefe, solange nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen wird (Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit) (vgl. zum Ganzen auch Kemper in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 44, Rn. 10 und 12; BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 14 AS 15/17 R, juris Rn. 28).

a) Die Bescheidung des Erlassantrages der Kläger mit dem angefochtenen Bescheid durch den Beklagten ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung des Beklagten zur neuen Bescheidung des Erlassantrages unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Nach den o.g. Grundsätzen beschränkt sich die gerichtliche Überprüfung auf die Frage, ob der Leistungsträger überhaupt von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht hat (dazu aa), ob er sämtliche relevanten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt hat (dazu bb) und ob die von ihm erkennbar zugrunde gelegten Erwägungen zur Frage der Unbilligkeit seine Entscheidung tragen (dazu cc) (vgl. zum Ganzen: Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, § 44, Rn. 19). Zugrunde zu legen sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, da die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung nur von Tatsachen und Umständen abhängen kann, die im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung vorgelegen haben (BSG, Urteil vom 09.02.1995 – 7 Rar 78/93, juris Rn. 63; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 07.02.2018 – L 1 KR 910/16, juris Rn. 69; Kemper in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 44, Rn. 21; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, § 44, Rn. 20).

Diesem Anspruch der Klägerin auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ihren Erlassantrag hat der Beklagte vorliegend mit dem Bescheid vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2020 entsprochen. Er hat das ihm nach § 44 SGB II eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt und insbesondere von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und sämtliche relevanten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt.

aa) Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht.

Denn er hat im Widerspruchsbescheid vom 28.01.2020 seine getroffene Entscheidung nicht nur ausdrücklich als Ermessensentscheidung bezeichnet, sondern das ihm gesetzlich eingeräumte Ermessen auch ausgeübt, indem er die persönlichen und wirtschaftlichen Belange der Klägerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Einziehung der Forderung abgewogen hat. In diese Abwägung hat der Beklagte eingestellt, dass wegen des mit einem Erlass verbundenen endgültigen und unwiderruflichen Verzichts auf eine Forderung eine Forderungseinziehung nur dann als unbillig gelten kann, wenn sie dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise zuwiderläuft.

bb) Der Beklagte hat auch sämtliche relevanten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt.

Dem Beklagten sind die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin, die bei ihm seit dem 01.01.2005 im Leistungsbezug nach dem SGB II steht, seit vielen Jahren bekannt. Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind vom Beklagten zuletzt auch im zeitlichen Zusammenhang mit dem streitigen Erlassantrag, nämlich im Rahmen der Bearbeitung des Weiterbewilligungsantrages der Klägerin vom 08.02.2019 geprüft worden. Hierbei sind neben den eigenen Angaben der Klägerin im Formantrag und in den beigefügten Anlagen zur Feststellung ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse eine aktuelle Verdienstbescheinigung, Kontoauszüge und ein Versicherungsschein einer privaten Rentenversicherung aktenkundig geworden. Der Beklagte hat die hier streitige Entscheidung somit aufgrund einer umfassenden Beurteilungsgrundlage getroffen, im Bescheid vom 08.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2021 die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin in der gebotenen Weise berücksichtigt und hierbei insbesondere auch das Vorbringen der anwaltlich vertretenen Klägerin gewürdigt.

cc) Die vom Beklagten erkennbar zugrunde gelegten Erwägungen zur Frage der Unbilligkeit tragen die Entscheidung auch.

(1) Eine persönliche Unbilligkeit liegt nicht vor.

Von einer Unbilligkeit aus persönlichen Gründen ist auszugehen, wenn sich der Schuldner in einer Notlage befindet und zu befürchten steht, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs existenzgefährdend wirken würde (Kemper in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 44, Rn. 10). Dies kann beispielsweise angenommen werden, wenn der Schuldner ohne den Erlass seinen notwendigen Lebensunterhalt (Ernährung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, Ausbildung, sonstige erforderliche Gegenstände des täglichen Lebens) vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestreiten könnte. Indes kann auch ohne Existenzgefährdung eine unbillige Härte gegeben sein, wenn sich der Schuldner in einer nicht nur kurzfristigen Notlage befindet (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.05.2014 – L 3 AS 2383/13, juris Rn. 23). Persönliche Unbilligkeit setzt voraus, dass im Einzelfall Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit vorliegen (Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 44, Rn. 48ff.).

(1.1) Erlassbedürftigkeit liegt nicht vor, denn es ist nicht zu befürchten, dass der Forderungseinzug die wirtschaftliche oder persönliche Existenz der Klägerin vernichten oder ernsthaft gefährden würde.

Eine Aufrechnung gegen Ansprüche der Klägerin auf Leistungen nach dem SGB II würde nicht zu einer existenziellen Gefährdung führen. Nach § 43 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2 und Satz 3 SGB II können die Jobcenter gegen Ansprüche von leistungsberechtigten Personen auf Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Erstattungsansprüchen nach § 50 SGB X aufrechnen, wobei die Höhe der Aufrechnung 30 % beträgt und die Aufrechnung spätestens drei Jahre nach dem Monat endet, der auf die Bestandskraft der Entscheidungen folgt, und wobei Zeiten, in denen die Aufrechnung nicht vollziehbar ist, den Aufrechnungszeitraum entsprechend verlängern. Diese Unterdeckung um maximal 30 % für die Dauer von maximal 3 Jahren ist gesetzgeberisch gewollt und d
ie Aufrechnung mit Erstattungsansprüchen gegen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 30 % des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar (BSG, Urteil vom 09.03.2016 – B 14 AS 20/15 R, juris Leitsatz; vgl. auch Kemper in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 43, Rn. 25). Sollte also vorliegend der Beklagte wegen seiner auf den bestandskräftigen Bescheiden vom 12.09.2013 beruhenden Erstattungsforderung gegen bestehende Ansprüche der Klägerin auf Geldleistungen nach dem SGB II aufrechnen und hierbei den ihm nach § 43 SGB II eingeräumten Rahmen einhalten, würde allein hierdurch die wirtschaftliche oder persönliche Existenz der Klägerin noch nicht vernichtet oder ernsthaft gefährdet, so dass persönliche Unbilligkeit nicht vorliegt.

Der Annahme von Erlassbedürftigkeit steht zudem entgegen, dass ein Billigkeitserlass nur dann in Betracht kommen soll, wenn er sich auf die wirtschaftliche Situation des Schuldners konkret positiv auswirken kann. Lebt ein Schuldner dagegen in wirtschaftlichen Verhältnissen, die eine Durchsetzung des Anspruchs (insbesondere wegen Vollstreckungsschutzes) ausschließen, so könnte ein Erlass hieran nichts ändern und wäre aus diesem Grunde nicht mit einem wirtschaftlichen Vorteil verbunden (Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 44 SGB II, Rn. 51) Letzteres ist aktuell bei der Klägerin der Fall. Über Vermögenswerte, hinsichtlich derer Vollstreckungsmaßnahmen zulässigerweise unternommen werden könnten, verfügt die Klägerin nach Aktenlage nicht. Überdies übt die Klägerin seit vielen Jahren und auch aktuell (so ihre Angabe in der nichtöffentlichen Sitzung am 28.11.2022) neben dem Bezug von Grundsicherungsleistungen regelmäßig Nebentätigkeiten aus. Die Einkünfte hieraus verbleiben ihr jedenfalls in Höhe der jeweils geltenden Freibeträge, so dass auch insofern eine Existenzgefährdung zu keinem Zeitpunkt zu befürchten stand und auch zukünftig nicht zu erwarten steht (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.05.2014 – L 3 AS 2383/13, juris Rn. 23).

Soweit die Klägerin wiederholt vorgebracht hat, der Forderungserlass sei geboten, da sie anderenfalls lebenslang auf Unterstützungsleistungen angewiesen bliebe, ist dem entgegenzuhalten, dass es ihr während des seit Anfang 2005 bis heute andauernden Bezuges von Leistungen nach dem SGB II zu keinem Zeitpunkt aus eigener Kraft gelungen ist, eine wirtschaftlich selbständige Existenz oberhalb des Pfändungsschutzes zu erreichen. Dafür, dass ihr letzteres infolge des Erlasses der Forderung ermöglicht werden würde, sind für den Senat keine Anhaltspunkte ersichtlich. Abgesehen von der in § 43 SGB II vorgesehenen Aufrechnung dürften sonstigen Vollstreckungsmaßnahmen derzeit bereits die zu berücksichtigenden Pfändungsschutzregelungen (§§ 850 ff. ZPO) entgegenstehen. Sollte der Klägerin künftig Vermögen zuwachsen und sie dann möglicherweise Vollstreckungsmaßnahmen ausgesetzt sein, wäre dies – bei Beachtung der Pfändungsfreigrenzen – hinzunehmen.

(1.2) Auch Erlasswürdigkeit liegt nicht vor.

Erlasswürdigkeit setzt voraus, dass der Schuldner weder in eindeutiger Weise gegen die Interessen der – den Erlass finanzierenden – Allgemeinheit verstoßen, noch die mangelnde Leistungsfähigkeit durch vorwerfbares eigenes Verhalten herbeigeführt hat. Gegen die Interessen der Allgemeinheit verstößt insbesondere, wer für einen längeren Zeitraum und in erheblichem Umfang schuldhaft falsche Angaben macht oder seine Mitwirkungspflichten verletzt (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand 11/2022, § 227, Rn. 103; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 43, Rn. 53/54; vgl. auch
Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 17.07.2019 – III R 64/18, juris Rn. 17; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, Stand: 21.12.2022, § 44, Rn. 21).

Ein solches der Erlasswürdigkeit entgegenstehendes Verhalten der Klägerin ist hier festzustellen, denn sie hat bezogen auf den streitigen Rückforderungszeitraum vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 bei Beantragung der Grundsicherungsleistungen über Jahre hinweg zumindest grob fahrlässig falsche Angaben gemacht, weshalb der Beklagte die rechtswidrig erfolgte Leistungsbewilligung für die Bewilligungszeiträume vom 01.07.2005 bis zum 28.02.2013 rückwirkend gemäß
§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III i.V.m. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X korrigieren musste. Hiernach ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen des § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Begünstigte nicht auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Auf Vertrauensschutz kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Grobe Fahrlässigkeit liegt gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dabei ist ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen und es genügt, wenn einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden. Dies ist der Fall, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste. Dabei ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und das Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 08.02.2001 – B 11 AL 21/00 R, juris Rn. 23).

Dass die Klägerin bei den den streitigen Bewilligungszeiträumen vorangegangenen Leistungsanträgen jedenfalls ihr Sparbuch bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) verschwieg und damit zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige Angaben machte, entnimmt der Senat bereits dem eigenen Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren. Denn mit anwaltlichem Schriftsatz an den Beklagten vom 14.03.2014 räumte sie ein, bezüglich des Bewilligungszeitraums vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 sei der Bescheid vom 12.09.2013 „nach Prüfung der Sach- und Rechtslage (…) rechtmäßig“. Diese von der anwaltlich vertretenen Klägerin selbst zugestandene Rechtmäßigkeit des Rücknahme- und Erstattungsbescheides setzt aber neben der Existenz eines den Freibetrag überschreitenden Vermögens gemäß § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X auch voraus, dass die Klägerin zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtige Angaben gemacht hatte. Dass letzteres der Fall war, steht für den Senat auch aufgrund der Angaben fest, die die Klägerin und ihre Eltern am 28.07.2015 in der nichtöffentlichen Sitzung des SG Mannheim im Verfahren S 17 AS 3141/14 machten. Denn ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 28.07.2015 erklärte die Klägerin jedenfalls auf Vorlage der aktenkundig gewordenen Kopie des Sparkontos bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6), das sei ihr Sparbuch, sie habe auf diesem Sparbuch Geld angespart, sich davon im Jahr 2004 einen Computer gekauft und sie sei deswegen zusammen mit ihrem Vater zur Vbank gegangen, um Geld abzuheben. Damit steht für den Senat fest, dass die Klägerin bei erstmaliger Antragstellung ausweislich des aktenkundigen Kontoauszuges im Dezember 2004 zumindest über verwertbares Vermögen in Form des Guthabens auf dem Sparkonto bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) mit einem Kontostand in Höhe von 5.947,60 € am 06.12.2004 und ab dem 04.02.2008 über weiteres Vermögen in Form des Guthabens auf dem Psparbuch (Nr. xxxxxx2) in Höhe von 1.700,00 € am 04.02.2008 und in Höhe von 5.772,38 € am 25.07.2011 verfügte. Diese Beträge überstiegen den nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 SGB II in der vom 01.01.2005 bis zum 31.07.2005 geltenden Fassung vom 19.11.2004 für die bei erstmaliger Antragstellung 24 Jahre alt gewesene Klägerin maßgeblichen Vermögensfreibetrag von 4.350,00 € (24 x 150,00 € + 750,00 €). Aufgrund der in der Sitzungsniederschrift des SG Mannheim vom 28.07.2015 dokumentierten Angaben der Klägerin steht für den Senat auch fest, dass sie dieses Guthaben tatsächlich für Anschaffungen (z.B. Kauf eines Computers) verwendete und somit Zugriff auf das Guthaben hatte. Dass das Sparguthaben auf die im Antragsvordruck gestellte Frage „Verfügen Sie (…) über Konten bzw. Geldanlagen?“ hätte angegeben werden müssen, musste der Klägerin ohne weiteres einleuchten. So gab sie in der nichtöffentlichen Sitzung vor dem SG Mannheim am 28.07.2015 ausweislich der Sitzungsniederschrift auch selbst an, sie habe zwar den Bausparvertrag mitgeteilt, von dem Sparbuch bei der Vbank habe sie aber nichts gesagt. Warum sie das Sparbuch nicht angegeben habe, wisse sie nicht mehr. Der Senat ist nach alledem davon überzeugt, dass die Klägerin in erheblichem Umfang schuldhaft falsche Angaben machte. Soweit die Klägerin im Laufe der Verwaltungs- und Gerichtsverfahren seit Jahren und bis zuletzt im vorliegenden Verfahren wiederholt pauschal vortragen ließ, sie habe keinen eigenmächtigen Zugang zu dem Sparbuch gehabt, sie sei intellektuell „völlig überfordert“ gewesen und den Mitarbeitern des Beklagten sei ein Mitverschulden anzulasten, wertet der Senat dies angesichts des gesamten Akteninhalts als reine Schutzbehauptungen.

Der Erlasswürdigkeit steht zudem entgegen, dass die Klägerin – worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat – nach Bekanntwerden der Sparguthaben (im Juli 2011) die Kontostände innerhalb kurzer Zeit reduzierte. So wies das Sparbuch bei der Vbank F (Nr. xxxxxx6) nach einem Kontostand von 6.374,18 € im November 2010 im Dezember 2012 nur noch einen Kontostand in Höhe von 9,36 € aus und wies das Psparbuch (Nr. xxxxxx2) nach zuvor 5.772,38 € im Juli 2011 dann im Dezember 2012 nur noch einen Kontostand in Höhe von 284,02 € aus. Dies legt nahe, dass das Vermögen dem Zugriff des Beklagten im Vorfeld der zu erwartenden Rücknahme- und Erstattungsbescheide entzogen werden sollte.

Nach alledem ist die Klägerin nach den o.g. Grundsätzen weder erlassbedürftig noch erlasswürdig und liegt persönliche Unbilligkeit nicht vor.

(2) Auch sachliche Unbilligkeit liegt nicht vor.

Eine sachliche Unbilligkeit ist dann gegeben, wenn der Sachverhalt zwar den Tatbestand der Anspruchsnorm erfüllt, die Forderungseinziehung aber gleichwohl nicht gerechtfertigt ist, weil sie den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderliefe (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. etwa BFH, Urteil vom 08.03.2001 – V R 61/97, juris Rn. 15 m.w.N; außerdem BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 4 AS 29/17 R, juris Rn. 28; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 44, Rn. 45; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, Stand: 21.12.2022, § 44, Rn.22). Dies ist der Fall, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er den im Billigkeitswege zu entscheidenden Konflikt – hätte er ihn geregelt – im Sinne der Billigkeitsmaßnahme gelöst hätte. Dagegen rechtfertigen Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen bzw. als typisch akzeptiert hat, keinen Erlass aus Billigkeitsgründen (vgl. BSG, Urteil vom 04.03.1999 – B 11/10 AL 5/98 R, juris Rn. 19; Kemper in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 44, Rn. 12) Dies gilt auch bei gebundenen Rücknahme- und Erstattungsentscheidungen (
BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 14 AS 15/17 R, juris Rn. 28ff.; BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 4 AS 29/17 R, juris Rn. 27 ff.) Daher ist zunächst zu klären, welchen Regelungszweck die jeweils anzuwendende Vorschrift bei typisierender Betrachtung hat, und alsdann zu ermitteln, ob im zu entscheidenden Fall eine Situation vorliegt, die zu einer vom Gesetzgeber nicht vorausgesehenen und mithin nicht in Kauf genommenen Härte führt. Die Anwendung des Gesetzes selbst begründet an sich grundsätzlich keine Unbilligkeit, weil sie jedermann in entsprechender Situation gleichermaßen trifft.

Soweit die Klägerin im Verfahren wiederholt vorgebracht hat, vorliegend wäre – ausgehend von der vom Beklagten vorgenommenen Berechnung – bei Berücksichtigung der eingeräumten Vermögensfreigrenzen über den streitigen Zeitraum lediglich ein Vermögen von 8.275,25 € zu berücksichtigen gewesen und insoweit bestehe ein augenfälliges Missverhältnis zur Erstattungsforderung, was dem Gerechtigkeitsempfinden in eklatantem Maße widerspreche, begründet dies nach den o.g. Grundsätzen nicht die Annahme von sachlicher Unbilligkeit. Denn der Gesetzgeber hat das Zusammenspiel zwischen § 45 SGB X und § 44 SGB II bewusst so geregelt, dass eine Begrenzung der Höhe der Rückforderung gerade nicht vorgenommen worden ist. Hierzu hat das BSG in seinen Urteilen vom 25.04.2018 (B 14 AS 15/17 R und B 4 AS 29/17 R) entschieden, dass vorhandenes, zu verwertendes und verwertbares Vermögen im Existenzsicherungssystem des SGB II so lange zu berücksichtigen ist, wie es tatsächlich vorhanden ist. In dem Urteil im Verfahren B 14 AS 15/17 R hat das BSG als Begründung hierzu ausgeführt: „Das belegt insbesondere die historische Entwicklung im bis zur Einführung des SGB II geltenden Recht der Arbeitslosenhilfe, an die die vermögensbezogenen Regelungen des § 12 SGB II im Wesentlichen anknüpfen (vgl BT-Drucks 15/1516 S 53). Für sie galt nach § 9 Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV) vom 7.8.1974 (BGBl I 1929), dass Bedürftigkeit nicht für die Zeit voller Wochen bestand, die sich aus der Teilung des zu berücksichtigenden Vermögens durch das Arbeitsentgelt ergab, nach dem sich die Arbeitslosenhilfe richtete. Diese Regelung war mit Wirkung zum 1.1.2002 ersatzlos gestrichen (vgl AlhiV 2002 vom 13.12.2001, BGBl I 3734) und damit der Rechtsprechung des BSG (vom 9.8.2001 - B 11 AL 11/01 R - BSGE 88, 252 = SozR 3-4300 § 193 Nr 2) die Grundlage entzogen worden, dass der Arbeitslose im Rahmen der Arbeitslosenhilfe nur einmal auf das gleiche Vermögen verwiesen werden könne (vgl näher Spellbrink in Spellbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 13 RdNr 189 ff). Dass die frühere Regelung des § 9 AlhiV bei Einführung des SGB II nicht wieder aufgegriffen worden ist, belegt deutlich, dass tatsächlich vorhandenes und zu berücksichtigendes Vermögen einem Anspruch auf existenzsichernde Leistungen ggf auch mehrfach entgegenzuhalten ist, von einem fiktiven Vermögensverbrauch also nicht ausgegangen werden kann
.“ (juris Rn. 21). Das BSG hat im Urteil im Verfahren B 14 AS 15/17 R außerdem entschieden, dass es auf das Verhältnis zwischen dem zu erstattenden Betrag und dem ursprünglich einzusetzenden Vermögenswert nicht ankommt, und hat zur Begründung hierzu ausgeführt: „Soweit nach dem allgemeinen Verfahrensrecht des SGB X im Rahmen der Ermessensausübung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X auch bei fehlendem Vertrauensschutz besonderen Härten Rechnung zu tragen sein kann (vgl etwa BSG vom 31.10.1991 - 7 RAr 60/89 - SozR 3-1300 § 45 Nr 10 S 29, 34; zur Rechtsprechungsentwicklung vgl nur Steinwedel in Kasseler Komm, § 45 SGB X RdNr 61, Stand März 2018), ist dies für das Verfahrensrecht des SGB II durch den Verweis auf § 330 Abs 2 SGB III ausgeschlossen. Liegen die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts vor, so "ist" dieser danach auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Abweichend vom allgemeinen Verfahrensrecht ergeht die Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten bei Bösgläubigkeit des Begünstigten im Anwendungsbereich des § 330 Abs 2 SGB III mithin nicht als Ermessensentscheidung, sondern als gebundene Entscheidung (stRspr; vgl zu § 330 SGB III nur BSG vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 10 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 28; zum SGB II vgl nur BSG vom 22.8.2012 - B 14 AS 165/11 R - SozR 4-1300 § 50 Nr 3 RdNr 29 ff). Raum für eine Abwägung der berührten öffentlichen und privaten Interessen unter Berücksichtigung der Rücknahmefolgen für den Erstattungspflichtigen und seiner wirtschaftlichen Lage bei rechtmäßigem Verhalten im Ermessenswege bietet daher in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X erst das Erlassverfahren nach § 44 SGB II (dazu 9.) und nicht schon das Rücknahmeverfahren nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II, § 45 SGB X.“ (juris, Rn. 24)

Nach den Grundsätzen dieser Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt und die er seiner Entscheidung zugrunde legt, liegt im Fall der Klägerin sachliche Unbilligkeit somit nicht vor.
Denn dass der Beklagte in Anwendung der geltenden gesetzlichen Regelung dem Anspruch der Klägerin auf existenzsichernde Leistungen ihr seit Juli 2005 vorhandenes und verwertbares Vermögen über sämtliche Bewilligungsabschnitte bis einschließlich Februar 2013 mehrfach entgegenhielt, entspricht dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, denn dieser hat bei Einführung des SGB II weder die frühere Regelung des § 9 AlhiV wieder aufgegriffen, noch für Leistungen nach dem SGB II die Beschränkung einer Rückforderung der Höhe nach eingeführt.

b) Die Rechtmäßigkeit der mit den Bescheiden vom 12.09.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.05.2014 vom Beklagten getroffenen Grundentscheidung über die Erstattungsforderung ist im Rahmen der Erlassentscheidung nicht zu prüfen. Etwas anderes kann nur ausnahmsweise dann gelten, wenn die Grundentscheidung offensichtlich und eindeutig falsch ist und es dem Betroffenen nicht möglich oder nicht zumutbar war, diese rechtzeitig anzufechten (LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.12.2017 – L 9 AL 7/16, juris Rn. 46; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 23.08.1990 – 8 C 42/88, juris Rn. 28; BSG, Urteil vom 09.02.1995 – 7 RAr 78/93, juris Rn. 54; Burkiczak in in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, § 44, Rn. 17; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2022, § 44, Rn. 32). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier ersichtlich nicht vor, da die seit Oktober 2013 anwaltlich vertretene Klägerin gegen die Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 12.09.2013 zwar Widersprüche erhob, Klage erhob und Berufung einlegte, letztlich aber – aus welchen Gründen auch immer – die Berufung im Verfahren L 7 AS 3021/21 zurückgenommen hat. Die von der Klägerin im gesamten Verfahren seit Einlegung der Widersprüche gegen die Rechtmäßigkeit der Bescheide vom 12.09.2013 mehrfach wiederholten Argumente, sie habe bei Antragstellung nicht schuldhaft gehandelt, sie sei intellektuell überfordert gewesen und die Mitarbeiter des Beklagten treffe ein Mitverschulden, hätten zwar im Rahmen des zuletzt unter dem Aktenzeichen L 7 AS 3021/21 anhängig gewesenen Berufungsverfahrens in Bezug auf die Überprüfung der Rücknahme- und Erstattungsbescheide relevant sein können. Infolge der Rücknahme der Berufung im Verfahren L 7 AS 3021/21 ist es in jenem Verfahren aber nicht zu einer solchen Überprüfung gekommen.

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

4. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG gegeben ist.

 

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