L 11 AS 78/23 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 AS 40/23 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 78/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Bei unrichtiger Sachbehandlung durch das Sozialgericht dürfen die Kosten eines Beschwerdeverfahrens nach einem aus kostenrechtlichen Regelungen abzuleitenden allgemeinen Rechtsgrundsatz nicht den Beteiligten zur Last fallen und können daher der Staatskasse auferlegt werden.

 

I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 26.01.2023 aufgehoben.

II. Die Staatskasse trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beteiligten im Beschwerdeverfahren.


G r ü n d e :

I.

Streitig sind im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes die (Wieder-) Einweisung des Antragstellers in sein bis zum 09.01.2023 bewohntes Zimmer in der Obdachlosenpension "B" (B) in der J Straße in A durch die für Obdachlosenfürsorge zuständige Behörde sowie gegebenenfalls die Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 01.11.2022 bis 31.12.2022 durch den Antragsgegner.

Der 1958 geborene Antragsteller bezieht - mit einer Unterbrechung vom 01.11.2022 bis 31.12.2022 - laufend Leistungen beim Antragsgegner. Zuletzt wurde ihm mit Bescheid vom 18.01.2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 10.02.2023 Bürgergeld für den Zeitraum vom 01.01.2023 bis 31.12.2023 bewilligt.

Nach Räumung seiner vormaligen Wohnung am N in A am 22.04.2022 sprach der Antragsteller beim Sozialamt der Stadt A - Wohnungs- und Obdachlosenhilfe - vor. Eine vorgeschlagene Einweisung in eine Notunterkunft in der B Straße lehnte er ab und teilte am 29.04.2022 mit, er habe sich selbst das Zimmer in der B gesucht; die Kosten hierfür trug der Antragsgegner im Zeitraum vom 22.04.2022 bis 31.10.2022 durch Direktzahlung an die B. Nachdem der Antragsteller bereits seit Jahren der Auffassung ist, dass ihm wegen einer von ihm für rechtswidrig gehaltenen Auslieferung durch die Portugiesische Republik an die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2012 besondere Leistungen zustünden, und er immer wieder das Begehren geäußert hat, den hierfür zuständigen Träger benannt zu bekommen, stellte er auf das ihm am 05.09.2022 vom Antragsgegner übersandte Beendigungsschreiben betreffend Alg II zum 31.10.2022 keinen Formblattantrag zur Weiterbewilligung mehr, woraufhin ihm Leistungen - auch für Unterkunft und Heizung - ab 01.11.2022 nicht bewilligt wurden. Die erneute Bewilligung ab 01.01.2023 erfolgte aufgrund Antrages vom 10.01.2023. Bereits am Vortag, dem 09.01.2023, war die Räumung des Zimmers des Antragstellers bei der B erfolgt. Mit Einweisungsverfügung des Sozialamts der Stadt A vom 20.01.2023 wurde der Antragsteller ab 23.01.2023 in die Pension Z in der A Straße in A eingewiesen.

Mit seinem am 20.01.2023 bei Sozialgericht Nürnberg (SG) eingegangenen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat der Antragsteller insbesondere die Verpflichtung des "Sozialamts A" beantragt, Frau F anzuweisen, ihn unverzüglich wieder in den Besitz seines Zimmers in der B zu setzen. Auch hat er geltend gemacht, das "Sozialamt" sei verpflichtet, die ausstehende Miete an Frau F zu entrichten, um ihn vor Obdachlosigkeit zu bewahren.

Das SG hat mit Beschluss vom 26.01.2023 den als Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gegen den Antragsgegner - das Jobcenter der Stadt A - zur Wiedereinweisung in das Zimmer bei der B ausgelegten Antrag abgelehnt. Der Verlust einer Unterkunft könne grundsätzlich einen wesentlichen Nachteil im Sinne eines Anordnungsgrundes darstellen; jedoch sei der Antragsteller zwischenzeitlich in eine neue Unterkunft eingewiesen worden und habe der Antragsgegner diesbezüglich eine Kostenübernahmeerklärung abgegeben, so dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mehr erforderlich sei. Die Frage, ob "der Antragsgegner" den Antragsteller unverzüglich wieder in den Besitz seiner alten Unterkunft einzuweisen gehabt hätte, sei in der Hauptsache im Wege einer Fortsetzungsfeststellungsklage zu klären.

Hiergegen hat der Antragsteller unter Erweiterung seiner erstinstanzlichen Anträge Beschwerde beim Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Er sei nicht G A, geboren am 12.05.1958, sondern G1 A, geboren am 28.05.1958. Die Räumung des Zimmers bei der B sei rechtswidrig gewesen. Es sei dafür Sorge zu tragen, dass er in Begleitung eines Staatsanwalts bei der B sein Eigentum abholen könne; das Zimmer stelle einen Tatort dar. Er begehre die ihm für seine spezifische Situation zustehenden Leistungen, hilfsweise Leistungen des Antragsgegners, eine Unterkunft seiner Wahl, die Nachzahlung von Leistungen für November und Dezember 2022 und ein mündliches Gerichtsverfahren.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Akte des Antragsgegners und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und im Sinne der isolierten Aufhebung des Beschlusses des SG begründet.

Der Senat konnte über die Beschwerde entscheiden, ohne zuvor weitergehende Ermittlungen zur Identität des Antragstellers anzustellen. Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG muss die Klage den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen; dies gilt entsprechend auch im Antragsverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 90 Rn. 3). Zur einwandfreien Identifizierung ist die Offenlegung der Wohn- oder Aufenthaltsanschrift des Rechtssuchenden erforderlich (vgl. BSG, Beschluss vom 18.11.2003 - B 1 KR 1/02 S - juris; B. Schmidt a.a.O., § 92 Rn. 4). Vorliegend ist die vom Antragsteller angegebene Aufenthaltsadresse die Pension Z in der A Straße in A, auch wenn er dort nicht seinen "amtlich gemeldeten Wohnsitz" haben mag. Nachdem er sich selbst zunächst in der Vergangenheit teilweise als G A bezeichnet hat (z.B. im Weiterbewilligungsantrag vom 14.11.2018 und im Schreiben an den Antragsgegner vom 02.05.2019), wäre es an ihm, durch geeignete Beweismittel nachzuweisen, dass er einen anderen Namen führt, wobei auch darauf hinzuweisen ist, dass "G1" lediglich die Kurzform von "G" darstellt. Soweit eine Identität des Antragstellers nicht feststellbar wäre, würde dies zur Unzulässigkeit des Antrages sowie des Rechtsmittels führen. Soweit der Antragsteller mittlerweile auch über keine Aufenthaltsanschrift mehr verfügen würde, müsste er dies dem Gericht mitteilen; dies ist aber nicht erfolgt, sondern er hat lediglich darauf hingewiesen, dass der Adressangabe die Bezeichnung "c/o Z" hinzuzufügen ist.

Das SG hat mit seinem Beschluss vom 26.01.2023 allein über einen vom Antragsteller nicht erhobenen Anspruch (§ 123 SGG) entschieden, nämlich über einen Anspruch gegen den Antragsgegner, das Jobcenter der Stadt A, auf seine (Wieder-) Einweisung in die vormalige Obdachlosenunterkunft. Zutreffend ist das SG zwar davon ausgegangen, dass es dem Antragsteller mit seinem Antrag auf Seite 1 des Schriftsatzes vom 18.01.2023 um die tatsächliche Einweisung in das zuvor bewohnte Pensionszimmer geht und nicht etwa um die Kostentragung für dieses. Jedoch hat der Antragsteller im genannten Antrag explizit die (Wieder-) Einweisung durch das Sozialamt der Stadt A begehrt. Eine Auslegung des Antrages dahingehend, dass er sich diesbezüglich gegen den Antragsgegner wenden will, kommt nicht in Betracht. Zwar entscheidet das Gericht nach § 123 SGG über die vom Kläger (bzw. Antragsteller) erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Erforderlichenfalls muss ein Antrag ausgelegt werden (§ 123 SGG, § 133 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-). Dabei geht das Gericht von dem aus, was der Kläger mit der Klage erreichen möchte; im Zweifel wird dieser den Antrag stellen wollen, der ihm am besten zum Ziel verhilft (Meistbegünstigungsgrundsatz, vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 123 Rn. 3). Unter Anwendung dieser Grundsätze steht der vom SG gefundenen Auslegung, die im Beschluss vom 26.01.2023 nicht näher begründet wurde, bereits der insoweit eindeutige Wortlaut der Antragstellung entgegen, dass der Antragsteller die Wiedereinweisung durch das Sozialamt begehrt. Auch wenn er im Weiteren abwechselnd die Begriffe "Jobcenter" und "Sozialamt" ggf. nicht in konsistenter Weise - vermutlich zur Bekräftigung seines Begehrens, seiner Situation angepasste, spezifische Leistungen zu erhalten - verwendet, kann die Auslegung unter Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes nur ergeben, dass der Antragsteller im Hinblick auf die (Wieder-) Einweisung ein Verfahren gegen das Sozialamt und nicht gegen den Antragsgegner betreiben wollte, denn nur gegen dieses kann ein solcher Anspruch denkbar bestehen. Zuständig für die Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft sind nach Art. 6 und 7 Abs. 2 Nr. 3 des Gesetzes über das Landesstrafrecht und das Verordnungsrecht auf dem Gebiet der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (LStVG) die Sicherheitsbehörden, hier die zuständige Gemeinde, die Stadt A.

Über einen Anspruch gegen das Sozialamt der Stadt A als zuständige Behörde der Obdachlosenfürsorge hat das SG (noch) nicht entschieden. Dieser Antrag im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ist damit noch offen und vom SG ist darüber zu entscheiden.

Auch über einen ggf. zusätzlich erhobenen Anspruch gegen den das Sozialamt der Stadt A oder den Antragsgegner auf vorläufige Zahlung von Leistungen für Unterkunft und Heizung im Zeitraum vom 01.11.2022 bis 31.12.2022 (vgl. Seite 8 des Schriftsatzes vom 18.01.2023) hat das SG nicht entschieden.

Damit sind das bzw. die vom Antragsteller erhobenen Begehren mangels erstinstanzlicher Entscheidung hierüber noch in der Vorinstanz rechtshängig (vgl. hierzu Giesbert in: jurisPK-SGG, Stand: 15.06.2022, § 123 Rn. 35). Nachdem das SG nicht, auch nicht teilweise, über einen vom Antragsteller erhobenen Anspruch entschieden hat, kommt eine Mitbehandlung der versehentlich übergangenen Ansprüche durch die Rechtsmittelinstanz im Wege des "Heraufholens von Prozessresten" (vgl. hierzu Keller a.a.O., § 140 Rn. 2a) nicht in Betracht.

Der Beschluss war, weil mit ihm allein über einen nicht erhobenen Anspruch entschieden worden ist, aufzuheben. Eine Zurückverweisung entsprechend § 159 SGG hatte nicht zu erfolgen, denn das - vollständig nicht entschiedene - Verfahren des Eilrechtsschutzes ist weiterhin erstinstanzlich anhängig und durch das SG noch zu entscheiden, wobei zu berücksichtigen sein wird, dass für die Frage der (Wieder-) Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft nicht der Sozialrechtsweg, sondern der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (§ 40 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-).

Sollte das SG zu dem Ergebnis kommen, dass der Antragsteller mit seinem Antrag vom 20.01.2023 auch die - vorläufige - Erbringung von Leistungen nach dem SGB II durch den Antragsgegner für die in der Vergangenheit liegenden Monate November und Dezember 2022 geltend machen wollte, wird es auch hierüber in der Sache zu entscheiden haben.

Die Kosten sind vorliegend nicht dem Antragsgegner aufzuerlegen, sondern von der Staatskasse zu tragen. Dies ergibt sich wegen der unrichtigen Sachbehandlung durch das SG in entsprechender Anwendung der kostenrechtlichen Regelungen des § 190 SGG, § 21 Abs. 1 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG), § 155 Abs. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 135 Abs. 4 Finanzgerichtsordnung (FGO); diesen Vorschriften ist nach Auffassung des Senats ein allgemeiner Rechtsgedanke zu entnehmen, dass Kosten, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung eines Gerichts verursacht werden, den Beteiligten nicht zur Last fallen dürfen und daher der Staatskasse auferlegt werden können (vgl. in diesem Sinne Sächs. LSG, Urteil vom 15.01.2015 - L 3 AS 861/14 -; Thüringer LSG, Beschluss vom 19.09.2016 - L 6 KR 896/16 B ER -, beide zitiert nach juris; Hug in: Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl., § 155 Rn. 24 f.; a.A. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26.04.2022 - L 4 AS 653/21 PKH -; Urteil vom 23.06.2022 - L 4 AS 586/21 -, beide zitiert nach juris).

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

 

Rechtskraft
Aus
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