L 11 R 235/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 4123/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 235/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Litt der Versicherte zum Zeitpunkt der Heirat an einer offenkundig lebensbedrohlichen Erkrankung, müssen zur Widerlegung der Vermutung des § 46 Abs. 2a SGB VI besonders gewichtige innere und äußere Umstände vorliegen, die im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung gegen eine Versorgungsehe sprechen. Die wiederholte Äußerung von Heiratsabsichten oder abstrakte Heiratspläne genügen nicht. Vielmehr muss sich die Heirat als konsequente Verwirklichung eines bereits vor Erlangung der Kenntnis von der lebensbedrohlichen Erkrankung bestehenden Entschlusses darstellen (vorliegend verneint).

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19.12.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer großen Witwenrente streitig.

Die 1948 geborene Klägerin ist Witwe des bei der Beklagten rentenversicherten G1 (Versicherter), wobei dieser die allgemeine Wartezeit erfüllt hatte. Der 1959 geborene Versicherte verstarb 2018 in B1 (Bl. 39 der Verwaltungsakten). Die Klägerin und der Versicherte heirateten nach 15 Jahren eheähnlicher Lebensgemeinschaft am 01.03.2018 (Bl. 43 der Verwaltungsakten). Der Klägerin ist derzeit unverheiratet.

Wegen Schmerzen im Unterbauch erfolgten bei dem Versicherten im Juni 2017 eine Coloskopie (Bericht des R1 vom 01.06.2017, Bl. 71 der SG-Akten) sowie im Juli 2017 eine Kernspintomographie des Mittel- und Unterbauchs (Bericht des P1 vom 27.07.2017, Bl. 72 der SG-Akten): diese Untersuchungen ergaben keinen pathologischen Befund, insbesondere fand sich kein Nachweis einer tumorsuspekten Verdickung. Bei fortbestehenden Oberbauchschmerzen ergab eine Gastrokopie vom 13.09.2017 den Befund eines Magenkarzinoms in Form eines großen flachen Ulcus im mittleren Magen (Befundbericht des R1 vom 13.09.2017, Bl. 74 der SG-Akten). Der H1 berichtete im Befundbericht vom 19.09.2017 (Bl. 76 der SG-Akten) über den Nachweis von Anteilen eines mäßig differenzierten Adenokarzinoms. Das initiale Tumorstadium wurde mit cT3 cN + cM0 angegeben (vgl. Bericht vom 05.10.2017, Bl. 82 ff der SG-Akten). Seinerzeit fand sich kein Hinweis auf eine Fernmetastasierung. Von Oktober bis November 2017 erfolgten vier Zyklen einer neoadjuvanten (voroperativen) Chemotherapie (Bericht vom 05.10.2017, Bl. 117 der SG-Akten). Während des stationären Aufenthalts vom 04.01. bis zum 14.01.2018 erfolgten u.a. eine vollständige chirurgische Resektion des Magens mit Ösophagojejunostomie und eine Entfernung der Gallenblase (Bericht vom 14.01.2028, Bl. 123 der SG-Akten). Während des stationären Aufenthalts wurden eine Infiltration der Lymphbahnen mit Krebszellen, Lymphknotenmetastasen in 22 von 30 loco-regionalen Lymphknoten und eine Peritonealkarzinose (Karzinose des Bauchfells) festgesellt. Es trat zudem eine Armvenenthrombose rechts auf. Die Tumorklassifikation änderte sich auf: ypT4a <
Tumor jeder Größe mit direkter Ausdehnung auf die Brustwand oder Haut>, ypN3b (22/30) <Lymphknotenbefall>, L1 <Invasion in Lymphgefäße>, V1 <Invasion in Venen>. Nach Rücksprache mit dem Nationalen Zentrum für Tumorerkrankungen (NCT) wurde empfohlen:
„Bei fehlendem bildmorphologischem und pathologischem Ansprechen auf die neoadjuvante Chemotherapie sowie nachgewiesener Peritonealkarzinose besteht Zurückhaltung gegenüber einer adjuvanten Fortführung des neoadjuvanten Schemas bei schlechter Datenlage zum Nutzen von Chemotherapie bei (klinisch manifestierter) Peritonealkarzinose.“

Anlässlich der ambulanten Vorstellung am 14.02.2018 wurden das Tumorstadium ypT4a ypN3b (22/30) M1 <Fernmetastasen vorhanden> und der Regressions-Grad nach Becker mit III <geringes Ansprechen auf die Chemotherapie> festgehalten, von einer Fortführung der Chemotherapie abgeraten sowie eine bildgebende Verlaufskontrolle in zwei Monaten und eine Ernährungsberatung empfohlen (Bericht vom 14.02.2018, Bl. 93 der SG-Akten). In der Anamnese berichtete der Versicherte, dass er sich nach der Operation gut erholt habe, keine Schmerzen mehr bestünden. Allerdings sei es seit der Entlassung nochmals zu einem Gewichtsverlust von 4 bis 5 kg gekommen. Seit der Operation habe er mehrfach täglich Diarrhoe. In der Verlaufskontrolle am 28.03.2018 zeigte sich ein Progress der Erkrankung. Im CT wurden neu aufgetretene Aszites (Ansammlung von freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle aufgrund einer Störung des Lymphsystems), eine Wandverdickung des Magens sowie größenprogrediente mediastinale Lymphknoten sowie ein Harnstau festgestellt. Bei eindeutigem Progress der Erkrankung wurde die Einleitung einer palliativen Systemtherapie mittels FOLFIRI (
Dreifachkombination Folinsäure <Leucovorin>/5-FU/Irinotecan) empfohlen (Bericht vom 06.04.2018, Bl. 65 der medizinischen Verwaltungsakten). Anamnestisch berichtete der Versicherte über eine Gewichtsabnahme um 2 kg bei Appetitlosigkeit und einem Ekelgefühl vor dem Essen. Am 29.03.2018 erfolgte wegen des Harnstaus beidseits mit gelegentlichen Flankenschmerzen seit Januar 2018 eine ambulante Vorstellung in der Urologischen Universitätsklinik H2 (Bericht vom 29.03.2018, Bl. 97 der SG-Akten).

Bei einer weiteren Verlaufskontrolle am 18.06.2018 wurde eine onkologische Befundverbesserung im Vergleich zur Voruntersuchung im März 2018 festgestellt und eine Fortsetzung der palliativen Therapie mittels FOLFIRI empfohlen (Bericht vom 18.06.2018, Bl. 73 der medizinischen Verwaltungsakten). Die Therapie habe der Versicherte mäßig gut vertragen und einen Gewichtsverlust von ca. 8 kg erlitten. Am 10.07.2018 wurde eine Befundverschlechterung mit zunehmender Peritonealkarzinose festgestellt und eine Umstellung der Chemotherapie eingeleitet (Bericht vom 16.08.2018, Bl. 83 der der medizinischen Verwaltungsakten). Vom 13.09. bis zum 19.09.2018 wurde der Versicherte wegen eines akuten Harnwegsinfekts, einer Anämie und des metastasierten Magenkarzinoms im Krankenhaus H2 behandelt (Bericht vom 19.09.2018, Bl. 93 der medizinischen Verwaltungsakten). In der Zeit vom 15.10.2018 bis zum 30.10.2018 sowie vom 19.11.2018 bis zu seinem Tod (2018) befand sich der Versicherte in palliativmedizinischer Behandlung in der Klinik für M1 (Bericht vom 27.11.2018, Bl. 107 der medizinischen Verwaltungsakten). Der Versicherte verstarb an den Folgen seiner Krebserkrankung.
 
Am 07.12.2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Witwenrente. Sie und der Versicherte hätten schon seit 15 Jahren zusammengelebt. Um Klarheit bei den Vermögensverhältnissen zu schaffen, hätten sie die Heirat angestrebt. Sie - die Klägerin - selbst habe eine eigene Rente und sei finanziell unabhängig. Die Versorgung sei nicht der Grund für die Eheschließung gewesen. Der Versicherte sei plötzlich und unvermutet an Organversagen verstorben. Die tödlichen Folgen einer Krankheit seien bei Eheschließung nach ärztlicher Auffassung nicht zu erwarten gewesen. Die S1, bescheinigte unter dem 03.12.2018, dass zum Zeitpunkt der Hochzeit am 01.03.2018 der Tod des Versicherten nicht absehbar gewesen sei.

Die Beklagte zog Behandlungsunterlagen bei, u.a. den Karteikartenauszug der Hausärzte. Dort wurde unter dem 20.02.2018 u.a. festgehalten: „Derzeit für CT zu schwach, soll im Verlauf nochmal gemacht werden und dann wird weiter entschieden ... Diagnose Palliativbehandlung (ICD10 Z 51.5 + G)“. Die F1 () führte nach Auswertung der medizinischen Unterlagen in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13.02.2019 aus, dass bei dem Versicherten im September 2017 ein Magenkarzinom Stadium T3 festgestellt worden sei. Trotz anschließender Chemotherapie sei es zu einem Fortschreiten des Tumorleidens gekommen, sodass im Januar 2018 ein Befall des Bauchraumes vorgelegen habe. Bei der Eheschließung am 01.03.2018 sei mit dem tödlichen Verlauf der Erkrankung innerhalb eines Jahres zu rechnen gewesen. Aus der Karteikarte des Hausarztes sei zu entnehmen, dass der Versicherte am 20.02.2018 zu schwach gewesen sei, um einen CT-Termin wahrzunehmen, und dass eine palliative Behandlung eingeleitet worden sei. Vor diesem Hintergrund sei das hausärztliche Attest vom 03.12.2018 medizinisch unverständlich.

Mit Bescheid vom 05.03.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Witwenrente ab, weil die Ehe nicht länger als ein Jahr gedauert habe. Bei einer Dauer von weniger als einem Jahr gehe der Gesetzgeber davon aus, dass der überwiegende Zweck der Eheschließung die Versorgung durch die Hinterbliebenenrente gewesen sei. Die Annahme könne widerlegt werden, wenn besondere Umstände gegen die gesetzliche Vermutung sprächen. Dies sei z.B. der Fall, wenn der Tod plötzlich durch ein unvorhersehbares Ereignis wie einen Unfall eingetreten oder zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht absehbar gewesen sei, dass eine vorhandene Krankheit zum Tod führen werde. Nach den vorliegenden Unterlagen sei zum Zeitpunkt der Eheschließung absehbar gewesen, dass eine vorhandene Krankheit innerhalb eines Jahres zum Tod führen werde.

Dagegen legte die Klägerin am 03.04.2019 Widerspruch ein. Grund für die Eheschließung sei einzig und allein die persönliche Zuneigung der Ehegatten zueinander gewesen. Sie und der Versicherte seien im Zeitpunkt der Eheschließung von einer Lebenserwartung des Versicherten von deutlich mehr als einem Jahr ausgegangen. Diese Annahme sei ärztlicherseits bestätigt worden. Allein der Umstand, dass zunächst ein Magenkarzinom aufgetreten sei und der Versicherte in palliative Behandlung aufgenommen worden sei, rechtfertige nicht die Annahme, dass am 01.03.2018 mit einem Ableben des Versicherten binnen eines Jahres zu rechnen gewesen sei.

In ihrer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 09.09.2019 führte F1 aus, dass bei dem Versicherten im September 2017 ein Magenkarzinom auf dieses Organ begrenzt festgestellt worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei der baldige Tod des Versicherten nicht abzusehen gewesen. Bei Ansprechen der Behandlung sei eine längere Überlebenszeit möglich. Nach erfolgter Chemotherapie sei der Versicherte im Januar 2018 operiert worden. Dabei habe sich herausgestellt, dass der Tumor die Organgrenzen überschritten gehabt habe (T4). Zusätzlich habe eine Ausbreitung in den Bauchraum und entlang der Lymph- und Blutgefäße vorgelegen. In diesem Stadium sei von einer Palliativsituation auszugehen. Zeitnah zur Eheschließung am 01.03.2018 seien bei dem Versicherten am 28.03.2018 eine Größenzunahme der Lymphknotenmetastasen und ein Tumorprogress festgestellt worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.11.2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin habe den vollen Beweis für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes des § 46 Abs. 2a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht erbracht. Nach der sozialmedizinischen Feststellung sei ab Januar 2018 definitiv mit einem tödlichen Verlauf der Erkrankung zu rechnen gewesen. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Klägerin und dem Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung am 01.03.2018 der lebensbedrohliche Charakter der Tumorerkrankung sowie die Wahrscheinlichkeit einer deutlich verkürzten Lebenserwartung bewusst gewesen sei. Es sei selbst medizinischen Laien bekannt, dass bei einem metastasierenden Krebsleiden mit nur noch palliativer Behandlung mit einer deutlich verkürzten Lebenserwartung zu rechnen sei. Vor dem Hintergrund der Kenntnis der lebensbedrohlichen Erkrankung könne die Vermutung einer Versorgungsehe nur dann widerlegt werden, wenn sich die Heirat als konsequente Verwirklichung eines bereits vor Erlangung dieser Kenntnis bestehenden Heiratsentschlusses darstellen würde. Hierfür gebe es keine Anhaltspunkte.

Dagegen hat die Klägerin am 12.12.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Sie hat ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und nun ergänzend vorgetragen, dass ihr erste Zweifel an der Aussicht auf Heilung erstmals im September 2018 gekommen seien. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Gesundheitszustand des Versicherten deutlich verschlechtert. Zuvor seien sie und die behandelnden Ärzte des Versicherten von der Heilbarkeit der Erkrankung ausgegangen. Eine palliative Behandlung sei erst vom 15.10. bis 30.10.2018 in der E1 erfolgt. Sie - die Klägerin - und der Versicherte hätten bereits vor dessen Erkrankung und vor der Eheschließung beschlossen, die Ehe zu schließen, um ihre gegenseitige Zuneigung auch nach außen zu dokumentieren. An diesem Entschluss habe auch die Erkrankung des Versicherten nichts geändert. Die Eheschließung nach der Erkrankung stelle lediglich den Vollzug eines bereits vor Erkrankung des Versicherten bestehenden Wunsches dar, die Ehe zu schließen. Den Entschluss zur Eheschließung hätten sie und der Versicherte bereits im Sommer 2017 getroffen. Sie hätten ihre nahen Angehörigen, den Stiefsohn der Klägerin (G2), Schwägerin und Schwager (H3 und H4), ihre Tochter (C1), anlässlich ihrer Geburtstagsfeier 2017, die im Gasthaus in B1 gefeiert worden sei, darüber informiert. Anwesend seien auch Bekannte (M2, H5, M3) gewesen. Im Herbst 2017 sei eine Besprechung für die Feierlichkeiten zur Eheschließung im Gasthaus S2, der von ihrer Tochter und dessen Lebensgefährten betrieben werde, abgehalten worden. Geplant sei die Feierlichkeit ursprünglich für den Abend des 31.10.2017. Die für den 31.10.2017 vorgesehene Hochzeitsfeier sei aufgrund der Erkrankung des Versicherten nach hinten verschoben worden. Die Klägerin hat Kopien aus dem Reservierungsbuch des Gasthauses S2 (Bl. 46/48 der SG-Akten) vorgelegt.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Auf Anfrage hat die Stadt G3 mit Schreiben vom 20.05.2020 (Bl. 63 der SG-Akten) mitgeteilt, dass die Eheschließung am 15.02.2018 im Standesamt angemeldet worden sei und am 01.03.2018 stattgefunden habe. Es habe sich dabei nicht um eine Nottrauung gehandelt. Ursprünglich sei der Termin für den 23.02.2018 eingetragen und dann auf den 01.03.2018 verschoben worden.

Die S1 hat mit Schreiben vom 26.05.2020 (Bl. 65 ff. der SG-Akten) mitgeteilt, dass mit einem tödlichen Verlauf der Erkrankung des Versicherten ab November 2018 zu rechnen gewesen sei. Ab September 2018 sei von einer Palliativsituation auszugehen. Befundbesprechungen gegenüber dem Versicherten und der Klägerin mit Angaben zu Heilungschancen seien erfolgt. Genauere Angaben könnten dazu nicht mehr gemacht werden. Im November 2018 sei dem Versicherten und der Klägerin mitgeteilt worden, dass die Erkrankung des Versicherten einen tödlichen Verlauf nehme. Eine zeitliche Prognose sei hierbei nicht mitgeteilt worden.

Das SG hat mit den Beteiligten am 02.08.2021 einen Erörterungstermin durchgeführt und die Klägerin persönlich angehört sowie H6 (Schwester des Versicherten), M2, H5, M3, G2 (Sohn des Versicherten), C1 (Tochter der Klägerin, tätig im Gasthaus S2) sowie S3 (Lebensgefährte der Tochter der Klägerin, Betreiber des Gasthauses S2) als Zeugen vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Niederschrift des SG vom 02.08.2021 (Bl. 258 ff.  der SG-Akten) Bezug genommen.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 19.12.2021 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 05.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2019 verurteilt, der Klägerin eine große Witwenrente beginnend ab dem 20.11.2018 zu gewähren. Wenngleich die Ehe weniger als ein Jahr gedauert habe, sei nach den besonderen Umständen des Einzelfalls nicht die Annahme gerechtfertigt, dass der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat gewesen sei, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Die geschlossene Ehe stelle sich als Verwirklichung eines jedenfalls seit 2017 bereits konkret gefassten Heiratswunsches dar, dessen Realisierung aufgrund der Krankheit des Versicherten zwischenzeitlich aufgeschoben worden sei. 2017 sei der Klägerin und dem Versicherten das Vorliegeneiner lebensbedrohlichen Erkrankung nicht bekannt gewesen. Die Klägerin und der Versicherte hätten jedenfalls seit 2017 den konkreten Willen gehabt, am 31.10.2017 zu heiraten. Dies ergebe sich aus den Angaben der einvernommenen Zeugen. Die Kundgabe des Hochzeitswunsches auf der Hochzeitsfeier (gemeint Geburtstagsfeier) genüge für dessen erforderliche Dokumentation nach außen. Einer verbindlichen Einladung habe es für eine Dokumentation durch äußere Umstände nicht zwingend bedurft. Dass die Klägerin und der Versicherte im August 2017 noch keinen Standesamtstermin gebucht hätten, spreche ebenfalls nicht gegen die Konkretheit des Heiratswunsches. Ebenfalls sei eine Verlautbarung des 31.10.2017 als Heiratstermin bei der Geburtstagsfeier der Klägerin im August 2017 erfolgt. Eine verbindliche Restaurantbuchung vor Bekanntwerden der Erkrankung sei für hinreichend konkrete Heiratspläne zugleich nicht zwingend erforderlich gewesen. 2017 sei der Klägerin und dem Versicherten die Magenkrebserkrankung nicht bekannt gewesen. Diese hätten auch keinen Verdacht gehabt, dass eine solche Erkrankung bestehen könne.

Gegen den ihr am 27.12.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 26.01.2022 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Aufgrund der aktenkundigen medizinischen Unterlagen müsse davon ausgegangen werden, dass der Gesundheits- bzw.  Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung am 01.03.2018 so schlecht gewesen sei, dass es für die Eheschließenden habe erkennbar sein müssen, dass der Versicherte an einer lebensbedrohlichen Erkrankung gelitten habe. Das Magenkarzinom sei im September 2017 festgestellt worden. Bei der Operation im Januar 2018 habe sich herausgestellt, dass der Tumor die Organgrenzen überschritten und zusätzlich eine Ausbreitung im Bauchraum und entlang der Lymph- und Blutgefäße vorgelegen habe. Aus den Aufzeichnungen des behandelnden Arztes des Versicherten gehe hervor, dass bereits im Februar 2018 eine Palliativbehandlung durchgeführt worden sei. Dass bereits für den 31.10.2017 eine Trauung geplant gewesen sein solle, reiche zur Widerlegung der Versorgungsehe nicht aus, da aufgrund der schwammigen, teilweise sich widersprechenden Angaben der Zeugen und auch der Klägerin nicht davon ausgegangen werden könne, dass es sich um konkrete Hochzeitspläne gehandelt habe, insbesondere, da seinerzeit beim Standesamt kein konkreter Heiratstermin vereinbart worden sei. Ein erstmaliger amtlicher Termin für eine Heirat sei erst durch die Anmeldung der Eheschließung beim Standesamt am 15.02.2018 amtlich dokumentiert. Es sei nicht glaubhaft, dass bei der Geburtstagsfeier der Klägerin 2017 ein Hochzeitsdatum 31.10.2017 bindend ins Auge gefasst worden sei. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Reformationstag am 31.10.2017 anlässlich des 500. Jubiläums der Reformation bundesweiter Feiertag und an diesem Tag das Standesamt geschlossen gewesen sei. Auch habe das SG nicht hinreichend die Erklärung der Klägerin in ihrem Witwenrentenantrag vom 07.12.2018 sowie die Chronologie des Verfahrens sowie das erstmalige Vorbringen eines zuvor geplanten Hochzeitstermins im Februar 2020 berücksichtigt.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19.12.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid. Die Kundgabe des Hochzeitswunsches auf ihrer Geburtstagsfeier 2017 reiche jedenfalls dafür, hinreichend konkrete Heiratsabsichten nach außen zu dokumentieren. Das SG habe sich zu Recht auf die glaubwürdigen Aussagen der Zeugen G4, H7 und M4 gestützt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.


Entscheidungsgründe


Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.

1. Die nach §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgericht (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und statthaft.

2. Den Gegenstand des Rechtsstreits bildet der Bescheid vom 05.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2019 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte den Antrag der Klägerin auf große Witwenrente aus der Versicherung des am 20.11.2018 verstorbenen Versicherten abgelehnt hat. Auf die dagegen von der Klägerin statthaft erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) hat das SG die Beklagte
mit Gerichtsbescheid vom 19.12.2021 unter Aufhebung des Bescheids vom 05.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2019 verurteilt, der Klägerin eine große Witwenrente ab dem 20.11.2018 zu gewähren. Dagegen wendet sich allein die Beklagte mit ihrer Berufung.

3. Die Berufung ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Bescheid der Beklagten vom 05.03.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.11.2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine große Witwenrente, weil der Anspruch nach § 47 Abs. 2a SGB VI ausgeschlossen ist.


a. Nach § 46 Abs. 2a SGB VI haben Witwen oder Witwer keinen Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen (zur Verfassungsmäßigkeit Bundessozialgericht <BSG> 05.05.2009, B 13 R 53/08 R, BSGE 103, 91). Wenn die Ehezeit vom Tag der standesamtlichen Trauung (01.03.2018) bis zum Tod des Ehegatten (20.11.2018) nicht mindestens ein Jahr gedauert hat, gilt die gesetzliche Vermutung, dass es alleiniger oder überwiegender Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen, es sich mithin um eine sog. Versorgungsehe gehandelt hat. Die entsprechende Rechtsfolge des Ausschlusses des Anspruchs auf Witwenrente tritt jedoch dann nicht ein, wenn „besondere Umstände“ vorliegen, aufgrund derer trotz der kurzen Ehedauer die Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Unter dem unbestimmten Rechtsbegriff der „besonderen Umstände“ werden alle äußeren und inneren Umstände des Einzelfalls angesehen, die auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99 m.w.N.; ferner BSG 06.05.2010, B 13 R 134/08 R, SGb 2010, 412; BSG 01.08.2019, B 13 R 283/18 B, FamRZ 2020, 62). Dabei kommt es auf die (ggf. auch voneinander abweichenden) Beweggründe (Motive, Zielvorstellungen) beider Ehegatten an, es sei denn, dass der hinterbliebene Ehegatte den Versicherten bspw. durch Ausnutzung einer Notlage oder Willensschwäche zur Eheschließung veranlasst hat (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Die Annahme des anspruchsausschließenden Vorliegens einer Versorgungsehe ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die Gesamtbetrachtung und Abwägung der Beweggründe beider Ehegatten für die Heirat ergibt, dass die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe insgesamt gesehen den Versorgungszweck überwiegen oder zumindest gleichwertig sind (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Es ist daher auch nicht zwingend, dass bei beiden Ehegatten andere Beweggründe als Versorgungsgesichtspunkte für die Eheschließung ausschlaggebend waren. Vielmehr sind die von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggründe in ihrer Gesamtbetrachtung auch dann noch als zumindest gleichwertig anzusehen, wenn nachweislich für einen der Ehegatten der Versorgungsgedanke bei der Eheschließung keine Rolle gespielt hat (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Die Vorschrift des § 46 Abs. 2a SGB VI zwingt den Hinterbliebenen aber nicht, seine inneren Gründe für die Eheschließung oder die des verstorbenen Ehegatten zu offenbaren. Der hinterbliebene Ehegatte kann sich auch auf die Darlegung von äußeren (objektiv nach außen tretenden) Umständen beschränken, die seiner Ansicht nach auf einen von der Versorgungsabsicht verschiedenen Beweggrund für die Heirat schließen lassen (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Ebenso bleibt es ihm unbenommen, keinerlei Auskünfte über den „Zweck der Heirat“ zu geben. Es soll nicht gegen seinen Willen zu einem Eingriff in seine Intimsphäre kommen, indem der Hinterbliebene genötigt wird, auch seine allerpersönlichsten, innersten Gedanken und Motive für die Eheschließung mit dem verstorbenen Versicherten mitzuteilen (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Denn die gesetzestechnische Ausgestaltung des § 46 Abs. 2a SGB VI als Regel-/Ausnahmetatbestand verfolgt gerade den Zweck, die Träger der Rentenversicherung und die Sozialgerichte von der Ausforschung im Bereich der privaten Lebensführung zu entbinden (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Maßgeblich sind jeweils die Umstände des konkreten Einzelfalls. Die vom hinterbliebenen Ehegatten behaupteten inneren Umstände für die Heirat sind zudem nicht nur für sich - isoliert - zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der jeweiligen Eheschließung bestehenden äußeren Umstände in die Gesamtwürdigung, ob die Ehe mit dem Ziel der Erlangung einer Hinterbliebenenversorgung geschlossen worden ist, mit einzubeziehen (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Eine gewichtige Bedeutung kommt hierbei stets dem Gesundheits- bzw. Krankheitszustand des Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung zu. Ein gegen die gesetzliche Annahme einer Versorgungsehe sprechender besonderer (äußerer) Umstand i.S.d. § 46 Abs.  2a Halbsatz 2 SGB VI ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Tod des Versicherten, hinsichtlich dessen bisher kein gesundheitliches Risiko eines bevorstehenden Ablebens bekannt war, unvermittelt („plötzlich“ und „unerwartet“) eingetreten ist (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Hingegen ist bei Heirat eines zum Zeitpunkt der Eheschließung offenkundig bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidenden Versicherten in der Regel der Ausnahmetatbestand des § 46 Abs. 2a Halbsatz 2 SGB VI nicht erfüllt (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Jedoch ist auch bei einer nach objektiven Maßstäben schweren Erkrankung mit einer ungünstigen Verlaufsprognose und entsprechender Kenntnis der Ehegatten der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass dessen ungeachtet (überwiegend oder zumindest gleichwertig) aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde. Allerdings müssen dann bei der abschließenden Gesamtbewertung diejenigen besonderen (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung gewesen war (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Dementsprechend steigt mit dem Grad der Lebensbedrohlichkeit einer Krankheit und dem Grad der Offenkundigkeit zugleich der Grad des Zweifels an dem Vorliegen solcher vom hinterbliebenen Ehegatten zu beweisenden besonderen Umstände, die von diesem für die Widerlegung der gesetzlichen Annahme („Vermutung“) einer Versorgungsehe bei einem Versterben des versicherten Ehegatten innerhalb eines Jahres nach Eheschließung angeführt werden (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99). Die Widerlegung der Rechtsvermutung erfordert nach § 202 SGG i.V.m. § 292 Zivilprozessordnung (ZPO) den vollen Beweis des Gegenteils, wobei die objektive Beweislast der Rentenanspruchsteller trägt (BSG 05.05.2009, B 13 R 55/08 R, BSGE 103, 99; Bohlken in jurisPK-SGB VI, 3. Aufl. 2021, § 46 Rn. 112).

b. 
Der Senat stellt nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung fest (§ 128 Abs. 1 SGG), dass von der Versorgungsabsicht verschiedene Beweggründe für die Eheschließung am 01.03.2018 nicht nachgewiesen sind.

Vorliegend litt der Versicherte zum Zeitpunkt der Heirat am 01.03.2018 an einer offenkundig lebensbedrohlichen Erkrankung. Bereits Anfang Januar 2018 anlässlich der chirurgischen Therapie des im September 2017 festgestellten Magenkarzinoms wurden eine Infiltration der Lymphbahnen mit Krebszellen, Lymphknotenmetastasen in 22 von 30 loco-regionalen Lymphknoten und eine Karzinose des Bauchfells festgesellt; deren operative Entfernung erfolgte nicht und war auch nicht möglich. Die Tumorklassifikation änderte sich auf ypT4a (Tumor jeder Größe mit direkter Ausdehnung auf die Brustwand oder Haut), ypN3b (22/30) (Lymphknotenbefall), L1 (Invasion in Lymphgefäße), V1 (Invasion in Venen). Der Tumor hatte die Organgrenze überschritten. Unter diesen Umständen wurde die neoadjuvante Chemotherapie nach der Operation nicht fortgeführt. Eine kurative Behandlung des metastasierten Magenkarzinoms erfolgte nicht mehr. Auch anlässlich der ambulanten Vorstellung am 14.02.2018 wurde bei dem Tumorstadium ypT4a ypN3b (22/30) M1 (Fernmetastasen vorhanden) und dem Regressions-Grad nach Becker III (geringes Ansprechen auf die Chemotherapie) von einer Fortführung der Chemotherapie abgeraten. Dabei ist das mediane Überleben von Patienten mit einem metastasierten Magenkarzinom ohne Therapie kurz und die Progression geht regelmäßig mit einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes einher, was der Senat der S3-Leitninie Magenkarzinom (Langversion 2.0, August 2019, S. 117 ff.) entnimmt. Es lag mithin ab der Feststellung der Karzinose des Bauchfells, des Lymphknotenbefalls sowie der Invasion der Krebszellen in Lymphgefäße und Venen eine palliative Situation sowie eine offenkundig lebensbedrohliche Erkrankung vor, was der Senat den Stellungnahmen der F1 vom 13.02.2019 und 09.09.2019 entnimmt. Diese hat nach Auswertung der Behandlungsunterlagen über den Versicherten nachvollziehbar und für den Senat überzeugend dargelegt, dass bei der Eheschließung am 01.03.2018 mit dem tödlichen Verlauf der Erkrankung innerhalb eines Jahres zu rechnen war. Dies wird letztlich auch durch den Eintrag der Hausärzte in die Patientenkartei des Versicherten unter dem 20.02.2018 bestätigt, in dem u.a. die bisherige Differentialdiagnose (15.01.2018) in die gesicherte Diagnose „Palliativbehandlung“ geändert wurde. Dazu im Widerspruch hat die Hausärztin S1 im Mai 2020 behauptet, eine Palliativsituation habe erst seit September 2019 vorgelegen. Diese Behauptung steht auch in einem eklatanten Widerspruch zu den referierten Befunden und dem Behandlungsverlauf. Ihre Behauptung kann daher nicht ansatzweise überzeugen.

Der weitere Verlauf bestätigt das Vorliegen einer offenkundig lebensbedrohlichen Erkrankung zum Zeitpunkt der Heirat am 01.03.2018. Zeitnah zur Heirat wurde in der Verlaufskontrolle am 28.03.2018 ein Progress der Erkrankung (neu aufgetretene Aszites, eine Wandverdickung des Magens sowie größenprogrediente mediastinale Lymphknoten sowie ein Harnstau) festgestellt und eine palliative Chemotherapie eingeleitet, durch die die Überlebenszeit von Patienten mit Magenkarzinom im Vergleich zu einer ausschließlich supportiv orientierten Therapie um durchschnittlich ca. 7 bis 8 Monate verlängert werden kann (vgl. S3-Leitninie Magenkarzinom, Langversion 2.0, August 2019, S. 117 ff.). Nachdem die Hausärztin gegenüber dem SG mit Schreiben vom 26.05.2020 bestätigt hat, dass gegenüber dem Versicherten und/oder der Klägerin Befundbesprechungen erfolgt sind, und die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben hat, dass sie den Versicherten zu den Arztbesuchen begleitet hat, geht der Senat davon aus, dass auch die im Rahmen der stationären Behandlung im Januar 2018 festgestellten Befunde, insbesondere die Infiltration der Lymphbahnen mit Krebszellen, Lymphknotenmetastasen in 22 von 30 loco-regionalen Lymphknoten und die Karzinose des Bauchfells, dem Versicherten und der Klägerin mitgeteilt wurden und diese spätestens nach der ambulanten (onkologischen) Vorstellung am 14.02.2018 um die schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung des Versicherten wussten. Unter diesen Umständen ist es für den Senat nicht glaubhaft, dass die Klägerin vor der Hochzeit nichts von der Lebensbedrohlichkeit gewusst haben will. Auf die subjektive Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der tatsächlichen Lebenserwartung kommt es ohnehin nicht an (LSG Baden-Württemberg 05.12.2017, L 11 R 402/17, Rn. 32, juris; LSG Baden-Württemberg 19.04.2016, L 11 R 2064/15, Rn. 24).

Nach den oben dargestellten Grundsätzen müssen daher besonders gewichtige innere und äußere Umstände vorliegen, die im Rahmen der Gesamtabwägung gegen eine Versorgungsehe sprechen. Derartige, hinreichend gewichtige gegen eine Versorgungsehe sprechende Umstände sind zur Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen. Das Bestehen einer langjährigen Partnerschaft stellt gerade keinen solchen Umstand dar (LSG Baden-Württemberg 05.12.2017, L 11 R 402/17, Rn. 33, juris m.w.N.). Gerade die Tatsache, dass die Klägerin und der Versicherte bereits seit 15 Jahren ein Paar waren und bislang keine Heirat erfolgte, spricht dafür, dass eine Partnerschaft ohne Trauschein von der Klägerin und dem Versicherten zunächst für ausreichend und zufriedenstellend angesehen wurde. Einem langjährigen Zusammenleben ohne Trauschein liegt die Grundentscheidung zugrunde, eben nicht zu heiraten und damit nicht den vielfältigen gesetzlichen Regelungen, die für Eheleute gelten, zu unterliegen. Auch der Wunsch, der beiderseitigen Liebesbeziehung nach langjährigem eheähnlichen Zusammenleben mit dem Versicherten den „offiziellen Segen“ zu geben und sie damit auch formal und rechtlich zu manifestieren, ist zwar nicht von vornherein - losgelöst von den Umständen des konkreten Einzelfalls - ungeeignet, einen besonderen Umstand anzunehmen (BSG 06.05.2010, B 13 R 134/08 R, SGb 2010, 412). Allein das Bestehen einer innigen Liebesbeziehung und die wiederholten Äußerungen von Heiratsabsichten reichen für die Widerlegung der gesetzlichen Vermutung nicht aus (LSG Baden-Württemberg 05.12.2017, L 11 R 402/17, Rn. 33, juris m.w.N). Die Heirat muss sich als konsequente Verwirklichung eines bereits vor Erlangung der Kenntnis von der lebensbedrohlichen Krankheit bestehenden Entschlusses darstellen (LSG Baden-Württemberg 05.12.2017, L 11 R 402/17, Rn. 33, juris; LSG Baden-Württemberg 19.04.2016, L 11 R 2064/15, Rn. 26, juris; LSG Baden-Württemberg 16.10.2012, L 11 R 4929/11, Rn. 31, juris, m.w.N.). Im Übrigen genügen lediglich abstrakte Pläne zur Heirat, noch ohne entsprechende Vorbereitungen und ohne definitiv ins Auge gefassten Termin, sowie Äußerungen der Ehepartner gegenüber der Familie über eine geplante Hochzeit nicht (LSG Baden-Württemberg 05.12.2017, L 11 R 402/17, Rn. 33, juris).

Solche hinreichend konkreten Heiratspläne lagen vor Erlangung der Kenntnis von der lebensbedrohlichen Krankheit im Januar/Februar 2018 nicht vor. Die Klägerin macht insofern geltend, dass sie im Rahmen ihrer Geburtstagsfeier 2017 ihren Heiratsentschluss sowie den Heiratstermin (31.10.2017) im engsten Familien- und Freundeskreis mitgeteilt habe. Die vom SG vernommen Zeugen H7, M4, M5, G4 und C2 haben im Kern übereinstimmend bekundet, dass die Klägerin 2017 eine Heirat für den 31.10.2017 angekündigt haben. Die Zeugen G4 und C2 haben zudem bekundet, dass er durch seinen Vater (den Versicherten) und sie durch ihre Mutter kurz zuvor eingeweiht worden seien. Die Zeugin H8, die bei der Geburtstagsfeier der Klägerin 2017 nicht anwesend war, hat bekundet, dass die Klägerin sie Anfang September 2017 über ihre Heiratspläne informiert habe. Daraus entnimmt der Senat, dass die Klägerin und der Versicherte im August 2017, mithin zu einem Zeitpunkt, als die Krebserkrankung des Versicherten noch nicht festgestellt worden war, sich gegenüber dem engsten Familien- und Freundeskreis über einen Hochzeitsplan für den 31.10.2017 geäußert haben. Dieser Hochzeitplan war aber nicht hinreichend konkret und abschließend. Eine Anmeldung der beabsichtigten Eheschließung beim Standesamt erfolgte erst am 15.02.2018. Wenn eine ernsthafte und nachdrückliche Hochzeitabsicht im August und September 2017 bestanden hätte, wäre zu erwarten gewesen, dass die Klägerin und der Versicherte die beabsichtigte Eheschließung beim Standesamt zeitnah nach 2017 anmelden und ihren gewünschten Heiratstermin am 31.10.2017 sichern. Dies wäre gerade auch deshalb zu erwarten gewesen, weil der 31.10.2017 im Hinblick auf das 500. Jubiläum des Reformationstages bundesweiter Feiertag und damit eine standesamtliche Trauung nicht gewährleistet war. So sind standesamtliche Trauungen durch das Standesamt G3 nur werktäglich und samstags möglich, nicht jedoch an Sonn- und Feiertagen. Das Argument der Klägerin, die im Februar 2018 kurzfristig angemeldete Eheschließung zum 01.03.2018 belege, dass eine kurzfristige Buchung möglich sei, überzeugt nicht. Denn der Ablauf im Februar/März 2018 gibt keine Auskunft über die Verhältnisse im Herbst 2017, zumal neben dem Feiertag 31.10.2017 in Baden-Württemberg auch der 01.11.2017 Feiertag war (Allerheiligen). Somit war nicht gesichert, dass eine Hochzeit, wie von der Klägerin und dem Versicherten ins Auge gefasst, am 31.10.2017 tatsächlich stattfinden konnte. Weiterhin ist zu beachten, dass eine Hochzeitsfeier am 31.10.2017 im Gasthof „S2“ geplant war. Dieser wird von der Tochter der Klägerin und deren Lebensgefährten betrieben, sodass eine „Stornierung“ der Reservierung des Gasthofs für den 31.10.2017 für die Klägerin ohne negative (finanzielle) Folgen möglich war. Für unverbindliche Heiratspläne spricht weiter, dass keine schriftlichen Einladungen an die Gäste versandt wurden. Die Einlassung der Klägerin, die Einladung sei bereits im Rahmen ihrer Geburtstagsfeier 2017 erfolgt, überzeugt nicht. Insbesondere vermag sie nicht zu erklären, wie eine konkrete mündliche Einladung erfolgen soll, wenn Ort und Uhrzeit der standesamtlichen Hochzeit sowie der Ablauf einer anschließenden Feier aufgrund der rudimentären Planung noch gar nicht feststehen. Schließlich hat die Klägerin auch keine sonstigen Aktivitäten zur Vorbereitung einer Hochzeitsfeier am 31.10.2017 dargelegt. Zuletzt hat sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 25.04.2023 klargestellt, dass eine Menübesprechung für die Hochzeitsfeier zwischen den Eheleuten und der Tochter der Klägerin sowie deren Lebensgefährten im Gasthof S2 am 30.09.2017 nicht mehr stattgefunden hat. 

Weiterhin fällt auf, dass die standesamtliche Anmeldung der Eheschließung am 15.02.2018 erfolgte, nachdem im Januar 2018 eine Infiltration der Lymphbahnen mit Krebszellen, Lymphknotenmetastasen in 22 von 30 loco-regionalen Lymphknoten und eine Karzinose des Bauchfells festgestellt sowie anlässlich der ambulanten Vorstellung am 14.02.2018 von einer Fortführung der Chemotherapie abgeraten sowie eine palliative Situation angenommen worden war. Dies spricht dafür, dass die fortschreitende Krebserkrankung Auslöser war, nunmehr die Hochzeitspläne konkret zu planen und in die Tat umzusetzen.

Schließlich sind die Angaben der Klägerin in ihrem von ihr eigenhändig unterschriebenen Antrag auf Witwenrente vom 07.12.2018 zu berücksichtigen. In dem Textfeld, das von dem Versichertenberater der Beklagten Faller ausgefüllt worden ist und das die Klägerin mit ihrer Unterschrift bestätigt hat, ist u.a. vermerkt, dass sie die Heirat nach 15 Jahren Zusammenleben angestrebt habe, um „Klarheit bei den Vermögensverhältnissen zu schaffen“. Zwar wird darauf hingewiesen, dass die Klägerin eine eigene Rente habe und finanziell unabhängig sei sowie die Versorgung nicht der Grund für die Eheschließung gewesen sei. Jedoch deutet die Angabe, dass Zweck der Eheschließung die Schaffung klarer Vermögensverhältnisse gewesen sei, darauf hin, dass die wirtschaftliche Absicherung der Klägerin ein zentrales Motiv für die Eheschließung war. Die Einlassung der Klägerin, der Versichertenberater Faller habe diese Bemerkung „wohl eigenmächtig in den Antrag geschrieben“ und sie habe sich das Antragsformular vor ihrer Unterschrift „wohl nicht mehr abschließend“ durchgelesen, wertet der Senat als reine Schutzbehauptung. Entsprechendes hat die bereits seit dem Widerspruchsverfahren rechtskundig vertretene Klägerin erstmals im Dezember 2020 vorgetragen, obwohl die Beklagte schon im Widerspruchsbescheid vom 08.11.2019 auf diesen Umstand hingewiesen hatte und Anlass zu weiterem Vortrag bestanden hätte, wenn die im Antragsformular durch ihre Unterschrift bestätigten Angaben aus Sicht der Klägerin korrekturbedürftig gewesen sein sollten.  

In der Gesamtschau der zu beurteilenden objektiven und subjektiven Umstände des Falles gelangt der Senat daher zu der Einschätzung, dass die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe nicht widerlegt ist.


4. Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.

5. Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.


 

Rechtskraft
Aus
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